Warum Grünes Band?


Ich bin in Deutschland schon viel herumgekommen, meist mit dem Rucksack auf dem Rücken. Doch in vielen Landschaften, die das Grüne Band durchzieht, war ich so gut wie noch nie. Nur der Thüringer Wald mit dem Rennsteig, die Rhön, der Harz und die Landschaften in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, zwischen Lauenburg an der Elbe und der Ostseeküste bei Travemünde und Boltenhagen, sind mir bekannt. Vieles davon liegt aber auch schon Jahrzehnte zurück. Vogt- und Frankenland, die Saale, das Grabfeld, das Eichsfeld, das Werrabergland, das Wendland und die Altmark – alles weiße Flecken auf meiner Landkarte.

 

Dann dieses „Zufallsprodukt“ Grünes Band. Wo sich ein Naturrefugium entwickeln konnte, weil sich über 40 Jahre kein Mensch in ihm aufhalten, geschweige denn es überqueren durfte. Das mit Waffengewalt „beschützt“ wurde, von den Machthabern mit Sicherheit aber nicht angestrebt war. Erst Mauerfall und Wiedervereinigung ließen ein Juwel erkennbar werden, das in Europa einmalig ist.

 

Dabei gab es kein Konzept für eine Wiedervereinigung, allenfalls eines für eine Annäherung von Ost und West. Obwohl die Wiedervereinigung im Grundgesetz stand, wurde sie immer weiter in die Zukunft hinausgeschoben, war eigentlich nur eine eher unrealistisch erscheinende, blasse Möglichkeit. Dabei galt es als absolut unrealistisch, dass die Siegermächte einem vereinigten Deutschland zugestimmt hätten.

 

Einerseits hatte man es sich eigentlich ganz gut im Status quo eingerichtet; selbst in der geteilten Stadt Berlin. Die, die doch über die Wiedervereinigung geredet haben, wurden meist als ewig Gestrige oder Revanchisten abgetan. Denn das entsprach nicht der damals vorherrschenden politischen Korrektheit. Außerdem gab es ja eine gewisse Annäherung – verbunden mit Erleichterungen beispielsweise im Reiseverkehr. Andererseits herrschte eine gewisse Angst vor einer neuerlichen zentralen Position Deutschlands; die Sowjetunion würde eine Wiedervereinigung ohnehin nicht zulassen; zwei Deutschlands seien besser als eines und so weiter.

 

Am 9. November 1989 fiel die Mauer in Berlin dann doch und mit ihr zwangsläufig die gesamte innerdeutsche Grenze. Im Fernseher jubelten Menschen. Sie liefen aufeinander zu, weinten und umarmten sich. Viele schwenkten die deutsche Flagge. Ich merkte damals, dass etwas Weltbewegendes passiert war. Meine Erinnerung daran gleicht einem Film, bei dem ich auch heute noch eine Gänsehaut bekomme.

 

In den folgenden Jahren habe ich immer wieder von der Teilung Deutschlands, dem Kalten Krieg, dem Mauerfall und der Wiedervereinigung gelesen. Zahlen, Daten und Fakten haben sich in mein Gedächtnis gebrannt. Ich  weiß eigentlich über vieles Bescheid - trotzdem weiß ich viel zu wenig. Buchstaben und Zahlen alleine können nicht vermitteln, was damals wirklich geschah. Und was bedeutet der Mauerfall heute noch? Ist er mehr als nur eine abstrakte Warnung davor, was verblendete politische Ideologie mit sich bringen kann? Da hilft doch nur eines: Ich muss mir das vor Ort anschauen. Nicht nur in Berlin, sondern auch entlang des gesamten ehemaligen Grenzstreifens.

 

Dort könnte ich mich dem Thema "Mauer" oder „Grenze“ auf vielerlei Arten nähern. Beispielsweise, indem ich zur Mauer und zum Grenzstreifen - oder zu dem, was davon übrig ist - gehe. Ich kann mir Mahnmale ansehen oder Grenzmuseen besichtigen, in der Nähe des Checkpoint Charlie kann ich mich mit Menschen, die sich als Grenzsoldaten verkleiden, fotografieren lassen, ich kann mir am  Souvenirstand Gasmasken aus Plastik und alte Grenzer-Mützen kaufen, und wenn ich dann keine Lust mehr auf die Infotafeln habe, kann ich zu McDonald's gehen.

 

Doch ich will was anderes. Nach Berlin und Leipzig will ich in andere, kleinere Orte, in denen die deutsche Teilung ebenfalls Spuren hinterlassen hat. Ich will die Orte sehen, wo Geschichte passierte - und möchte mich mit Menschen treffen, die sie mitgeschrieben haben. Vielleicht DDR- und BRD-Grenzer, die die Mauer bewacht haben. Menschen, die wegen der Nähe zur Grenzlinie aus ihrem Dorf vertrieben wurden oder in einem Dorf gelebt haben, das ohne die Wende überhaupt nicht mehr existieren würde. Oder Menschen, die mitten in den Demonstrationen gegen das DDR-Regime standen, obwohl sie um ihr Leben fürchten mussten. Ich will wissen, warum sie so gehandelt haben. Was sie dabei empfunden haben. Und was sie heute – mehr als 25 Jahre danach - darüber denken.

 

Aber werde ich dann die Dimension des Mauerfalls verstehen? Ich glaube nicht, denn dazu waren vorher für mich die Mauer und der Streckmetallzaun zu weit weg, sowohl räumlich als auch mental. Zumal die Berliner und die Menschen entlang dieses „antifaschistischen Schutzwalls“ in ihrer Wut diesen fast gänzlich entfernt haben. Vieles von dem, was man sieht, ist künstlich nachgebildet worden. Das Brutale der Mauer und der ehemaligen innerdeutschen Grenzanlage, mit den Zäunen, Postenwegen, Minenfeldern, Wachtürmen und Hundelaufstrecken, ist kaum mehr darstellbar.

 

Und trotzdem will ich da hin!