Stätten Berliner Mauergeschichte

Wilhelmsruh - Reichstag (14 km)

 

Heute möchte Christa uns begleiten. Berlin kennt sie wie ihre Westentasche, aber einige Stellen im Norden sind selbst ihr unbekannt. Warm soll es heute werden, über 20°C, und wir merken es auch direkt, als wir vor die Tür treten. Die Luft hat etwas wie Samt und Seide - aber nur solange wir in der Sonne Richtung U-Bahnhof gehen und kein Wind aufkommt. 


In den U- und S-Bahnen Richtung Norden ist es wesentlich leerer als gestern Morgen. Wir sind eine Viertelstunde später dran, der Berufsverkehr ist durch. An der Station Wilhelmsruh steigen wir aus, hier endete ja unsere gestrige Etappe. So wie schon gestern der Mauerweg gegen Ende an einem Bahndamm entlang führte, so setzt sich dies heute erstmal eine zeitlang fort. Der Bahndamm bildete eben damals die Grenze zwischen West- und Ost-Berlin. Die Mauer zog sich an ihm entlang, mit ihr der Todesstreifen. 

Was uns auffällt: Entlang des Weges liegen Unmengen an Müll. Aufgeplatzte blaue Säcke verbreiten ihren Unrat mit jedem stärkeren Windzug, Plastik in jeder Erscheinungsform verteilt sich zwischen den Büschen und alte, teilweise zerrissene Sperrmüllsessel stehen unter Straßenbrücken oder Zugunterführungen und faulen vor sich hin, vielleicht nur noch eine warme Heimstatt für Mäuse oder Ratten. Für einige Kilometer bewegen wir uns eben nicht durch ein Vorzeigeviertel der Hauptstadt, aber Wege oder Straßen parallel zu Bahndämmen sind nie ein Aushängeschild einer Stadt. Erst hinter dem Bahnhof Wollankstraße, wo wir den Dunstkreis des Bahndamms verlassen, wird es netter. Dazu passt auch, dass wir auf ein kleines Straßencafé stoßen, an dem wir draußen in der Morgensonne die erste Rast einlegen.

Danach bestimmen Kirschbäume unseren Weg. Sei es in den winzigen Vorgärten ansprechender Wohnviertel Pankows, sei es als eine von einer japanischen Initiative gespendeten Kirschbaumallee, die dort gepflanzt wurde, wo einst die Mauer stand oder als Baumreihe zwischen Kopfsteinpflasterstraßen und Bürgersteigen im Randbereich des Bezirks Prenzlauer Berg. Wo damals das Grau der Mauer und ihrer angrenzenden Häuserblocks das Bild dominierten, blühen jetzt, im April, diese Kirschbäume in ihrer ganzen Pracht.

Bald taucht vor uns der eiserne Bogen der Bösebrücke auf mit seiner darunter sich befindlichen S-Bahn-Station. Vielen mag dieser Brückenname vielleicht nicht viel sagen. Aber die Straße, die dort hinüberführt, hat einen besonderen Namen in der jüngeren deutschen Geschichte. Es ist die Bornholmer Straße und auf der Brücke befand sich zu Mauerzeiten die "Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße ". Am 9. November 1989 wurde dieser Übergang zwischen Ost- und West-Berlin weltbekannt. Die nördlichste - von insgesamt sieben - "Grenzübergangsstellen für West-Berliner und Bundesbürger" war der erste Grenzübergang, der für alle Besucher aus dem Ostteil der Stadt geöffnet wurde. Nachdem Herr Schabowski nach einer "kleinen" Kommunikationspanne am Abend eine neue Reiseregelung verkündete, wollten Leute aus Pankow und Prenzlauer Berg sofort Gebrauch davon machen und West-Berlin einen Kurzbesuch abstatten. Nachdem die ersten DDR-Bürger ohne Ausreisepapiere die Grenze hier um 21.20 Uhr passierten, öffnete der Grenzkommandant Harald Jäger den Schlagbaum mit den Worten: "Wir fluten jetzt". Mit Sekt und Jubelstürmen wurden 20.000 DDR-Bürger von ihren "Brüdern und Schwestern" im Westteil der Stadt begrüßt. Es war der Moment des Mauerfalls und das Ende der DDR. Ich habe diese Szenen damals im Fernsehen live miterlebt und war, das gebe ich gerne zu, Mitglied einer kollektiven Begeisterung und Rührung, die ich so bei mir zu der damaligen Zeit gar nicht für möglich gehalten hätte.

Als ich mit Dieter und Christa am nördlichen Brückenkopf auf dem Areal des ehemaligen Grenzübergangs stehe und mir wieder bewusst wird, welche Szenen sich hier abgespielt haben, schnürt es mir erneut die Kehle zu. Meinen beiden Begleitern geht es wohl nicht anders.

Kurz darauf kommen wir am ehemaligen Stadion des FC Dynamo Berlin vorbei, dem Lieblingsverein von Stasi-Chef Erich Mielke. Weil die Schiedsrichter diesen "MfS-Verein" immer begünstigten, wurde der vielfache DDR-Meister vom Volksmund auch "Schiebermeister" genannt.

Etwa eine Viertelstunde später stehen wir an dem Punkt, an dem damals die Mauer auf die Bernauer Straße traf und ihrem Verlauf für etwa zwei Kilometer bis zum Nordbahnhof folgte. Während die Bösebrücke mit der Bornholmer Straße ein Synonym für einen glücklichen Moment der unsäglichen Mauergeschichte ist, bleibt die Bernauer Straße mit ihren dramatischen Fluchten nach dem 13. August 1961ein besonderes Beispiel für die Grausamkeit dieses entsetzlichen "Schutzwalls". Hier versuchten Menschen aus den Häusern zu entkommen, die zu Ost-Berlin gehörten, während der Bürgersteig vor der Haustür schon West-Berliner Boden war. Sie seilten sich aus ihren Fenstern ab, sprangen in bereitgehaltene Sprungtücher, manchmal aber auch in den Tod. Fluchttunnel wurden gegraben, vielen gelang mit ihrer Hilfe die Flucht, vielen nicht. Wo früher diese Häuser standen, ihre Fensteröffnungen zur Vermeidung von Fluchtversuchen zugemauert , später sogar ganze Häuserzeilen abgerissen und an ihrer Stelle der Todesstreifen errichtet wurde, befindet sich heute eine 1,4 km lange Open-Air-Anlage, die versucht, das Grauen dieses besonderen Grenzabschnitts nachvollziehbar zu erzählen und zu veranschaulichen. Auf dem Areal dieser Gedenkstätte steht die Kapelle der Versöhnung, die den Platz der evangelischen Versöhnungskirche eingenommen hat, die im Grenzstreifen stand und zur "Bereinigung des Schussfelds" 1985 auf Veranlassung der DDR-Regierung kurzerhand gesprengt wurde. Vom Aussichtsturm des relativ neuen Dokumentationszentrums Deutsche Einheit auf der gegenüberliegenden Straßenseite haben wir einen Einblick in das letzte Stück Berliner Mauer, das in seiner Tiefenstaffelung erhalten geblieben ist und einen Eindruck vom Aufbau der Grenzanlagen zum Ende der 1980er Jahre vermittelt. Auf weite Strecken wurde der Verlauf der Mauer durch eine Reihe rostiger Stahlstangen sichtbar gemacht, die man überall passieren kann.Themenstationen bieten Informationen per Text, Ton oder Video.

In der gesamten Gedenkanlage wimmelt es von Touristengruppen und Schulklassen. Ich frage mich, inwieweit diese Anlage die jungen Menschen gerade der letzteren Gruppierung noch betroffen macht. Für sie sind sowohl die euphorischen Tage im Anschluss an den 9. November 1989 als auch die schlimmen Tage hier in der Bernauer Straße unmittelbau nach dem Mauerbau im August 1961 wahrscheinlich genauso weit weg wie das Mittelalter. Gibt es für sie einen wesentlichen Unterschied zwischen den damaligen Zeiten hier in Berlin an der Bornholmer Straße oder erst recht an der Bernauer Straße? Ist es für sie noch ein anderes Erschauern als bei der Besichtigung einer angeblichen Folterkammer in einer mittelalterlichen Ritterburg?

Das Wetter passt fast gar nicht zu dieser Umgebung. Die Sonne strahlt vom Himmel, die 20°C sind bei weitem überschritten, viele Menschen liegen entspannt im Gras - aber nicht in einer Parkanlage, sondern in dem mittlerweile begrünten Grenzstreifen, wo einst auch Menschen starben. Verrückte Welt!

Nach den ehemaligen Grenzübergangsstellen Chausseestraße und Invalidenstraße nähern wir uns nun allmählich dem Regierungsviertel und dem Reichstag. Eigentlich wollten wir unsere Etappe am nicht mehr weit entfernten Potsdamer Platz beenden, doch der Tag mit seinen doch recht hohen Temperaturen und der Fülle an Stopps lässt uns zu dem Schluss kommen, den heutigen Wandertag am Reichstag zu beenden. Es ist auch schon nach 17 Uhr. 

Dieter und ich freuen uns auf eine Dusche und ein paar Bier im "Landauer". Die angesagte Kneipe im Willmersdorfer Rheinischen Viertel, ganz in der Nähe von Christas Wohnung, ist für uns schon so etwas wie eine Stammkneipe geworden. Bald begrüßt man uns dort mit Handschlag.













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Kommentare: 2
  • #1

    Lore (Donnerstag, 16 April 2015 09:39)

    Reinhard, hättest doch die Schüler mal fragen können, welche Emotionen die Besichtigung bei ihnen auslöst und ob -wie Du schreibst- die Geschehnisse für die Jugend viel zu weit in der Vergangenheit liegt, um einen Bezug zu vermöglichen.
    Hast aber ja sicher noch öfter Gelegenheit zu Interviews.
    Gruß
    Lore

  • #2

    Der Kronprinz (Donnerstag, 16 April 2015 14:02)

    Dann mal Prost!