Zum Schluss ...

"Was ist 1393 Kilometer lang, 'liegt rum' - wie kleine Kinder sagen würden - und ist die meiste Zeit grün? Die Antwort auf meine Frage liegt nahe: Es ist das Grüne Band." So begann eine SPD-Abgeordnete in der Bundestagssitzung vom 17. Dezember 2004 ihre Rede. Und sie fuhr fort: "Wir kennen es noch als den unmenschlichen Grenzstreifen zwischen Ost und West, den Todesstreifen, der lebensgefährlich war und deutsche Familien und Freunde trennte. Es ist Teil unserer deutschen Geschichte; schon deshalb gebührt ihm eine besondere Beachtung ... Es muss erhalten werden als Mahnmal; das ist das eine. Aber es sollte auch erhalten werden, weil es eine einmalige, unwiederbringliche Chance für den Natur- und Artenschutz in Deutschland bietet."


Ich habe diesem Grünen Band in Deutschland - und mit ihm der ehemaligen innerdeutschen Grenze - Beachtung geschenkt: mit großem Interesse an seiner Geschichte, mit viel Freude an seiner Natur, mit besonderer Betroffenheit für die Schicksale der Menschen, die damals an und mit dieser Grenze leben und in vielen Fällen auch ihr Leben lassen mussten, und mit viel, viel Schweiß und brennenden Füßen, die es mich gekostet hat, um dieses Grüne Band, diese Grenze für mich zu entdecken.


Ich bin berührt von dieser Reise. Sie ist mir Erinnerung und Mahnung zugleich. Bei vielen Wanderungen zuvor hatte ich gelernt, bestimmte Dinge auszublenden, loszulassen. Gedanken flogen vorbei, aber sie beschäftigten mich nicht oder "verfolgten" mich gar. Diesmal war das irgendwie anders. Jeden Tag war es ein Wechselbad: die Freude über einzigartige Landschaften, ihre Tier- und Pflanzenwelt, nette Begegnungen oder lustige Situationen auf der einen und die ständige Auseinandersetzung mit den immer noch sichtbaren oder auch unterschwelligen Resten jener Grenze, die über 40 Jahre hinweg Menschen in Angst versetzte, auseinanderriss oder sogar tötete; meine Fassungslosigkeit und sehr oft auch aufsteigende Wut über ein System, das zum Scheitern verurteilt war, aber seinen Bürgern die Freiheit nahm, selbst zu entscheiden, ob sie in diesem System leben wollten oder nicht. 


Der damals bekannte Bürgerrechtler Pastor Schorlemmer sagte mal: "Mit dem Mauerbau lebte die große Mehrheit in der DDR gebückt. Das Widersprechen und Widerstehen wurde zu einem viel höheren Risiko, weil man sich dem Staat nicht mehr entziehen konnte. Die Schizophrenie hat nach dem Mauerbau zugenommen: Wer etwas werden wollte, passte sich ein und führte eine Art Doppelexistenz. Allabendlich begingen die DDR-Bürger Republikflucht, indem sie Westradio hörten und später Westfernsehen sahen. Ansonsten funktionierten sie im Lügensystem, um zu überleben". Diese Sätze fassen sehr treffend zusammen, was mir viele Menschen von ihrem Leben in der damaligen DDR erzählten. Und sie erzählten mir von den "Fettaugen", die es immer vermochten, vor und nach der Wende, oben zu schwimmen und sich zu helfen wussten, wenn die Brühe drunter dünner wurde. Niemand, dem ich im "Grenzland" begegnet bin und mit dem ich gesprochen habe, weint der DDR auch nur eine Träne nach. Der ein oder andere mag das Leben nach der Wende kritisch erlebt haben im Bezug auf die Umstellung des eigenen Lebens hin zu mehr Eigenverantwortung und Initiative. Gravierende Veränderungen machten sich für die meisten Familien bemerkbar, waren nicht mit leichter Hand zu meistern. Dennoch überwiegt bei all meinen Begegnungen der Freiheitswert, der in der Wiedervereinigung Deutschlands liegt, auch wenn man einiges noch hätte besser machen können. Das habe ich hautnah erfahren und bin froh darüber.


Ich glaube, es verging kein Tag, an dem ich nicht darauf aufmerksam gemacht wurde, dass ich nicht auf einem "normalen" Wanderweg unterwegs war. In den Wochen und Monaten nach den Grenzöffnungen, die sich nach dem 9. November 1989 über Monate versetzt in den verschiedenen Regionen hinzogen, wurde das Allermeiste abgerissen, demontiert, gesprengt, zugeschüttet. Man musste so lange damit leben, man konnte es einfach nicht mehr sehen. Nur sehr wenig Reste der Grenzanlage, die damals zwei poltische Weltsysteme, zwei Länder und Menschen trennte, sind erhalten geblieben, am Originalstandort oder zur Erinnerung und zum Gedenken an anderer Stelle wieder aufgebaut. Vieles davon sieht man schon von Weitem und ist Anlaufstation auch für viele Touristen, die sich "das mal eben ansehen wollen": alte Kasernen, Wacht- und Beobachtungstürme, Grenzlandmuseen und Gedenkstätten, Mahnmale und Gedenksteine oder -kreuze zu Grenzöffnungen, geschleiften Dörfern oder Grenzopfern. Andere Reste entdeckt man nur, wer langsam, auch abseits der Straßen unterwegs ist: kleine Abschnitte übriggebliebener Mauer- oder Zaunelemente oder des Kfz-Sperrgrabens, Grenzsteine und die schwarz-rot-goldenen Grenzpfosten mit oder ohne DDR-Staatsemblem, versteckte "Agentenschleusen" und Bachsperren, alte Trafohäuschen als einzige Zeugnisse geschleifter Dörfer, rostige große Lautsprecher in manchen Dörfern oder heruntergekommene Anlagen früherer LPGs, vergessene einzelne Betonpfosten des Hinterlandzauns, Streckmetallreste als Gartenzaun oder Fußmatte - und natürlich mein "geliebter" Kolonnenweg.


Die Mitte Deutschlands war für mich bis vor zwei Monaten ein noch weitgehend unbekanntes Terrain. Ich weiß jetzt, dass es Landschaften gibt, in die ich nochmal kommen würde - wenn ich noch Zeit genug hätte: die weiten offenen Höhen der Rhön mit ihren großen Bergwiesen, der Harz mit Brocken und Eckertalsperre, der Drömling mit seinen Kanälen, Feuchtwiesen und Ottern, die Altmark und das Wendland mit den prachtvollen alten Gehöften und Rundlingsdörfern, die Elbe mit ihren Deichen, Marschen, reetgedeckten Häusern und Storchennestern, Arendsee, Schaalsee und Ratzeburgersee mit ihren Schilfufern und Wasservögeln, die Wakenitz als der "Amazonas des Nordens" und nicht zuletzt die Ostseeküste mit ihrem Naturstrand und den Klippen.


Während ich hier in der Abendsonne auf der Terrasse des Naturfreundehauses sitze, denke ich auch nochmal an Menschen, Orte und Situationen, die mir im Gedächtnis bleiben werden: Christa, die Dieter und mir in Berlin eine so wunderbare Gastgeberin war, Kerstin und Jürgen, die mich überraschend in Berlin besuchten, genauso wie Anke und Thomas in Oebisfelde und meine Nichte Heike mit ihrer Familie in Asbach. Nicht zu vergessen die gemeinsamen Kilometer mit Hanny aus Holland und meinen langjährigen Freunden Dieter und Wolfgang. Ich denke an die besonderen Stationen auf dem Berliner Mauerweg: Bornholmer Straße, Bernauer Straße, Reichstag, Brandenburger Tor, Potsdamer Platz, Checkpoint Charly, East-Side-Gallery, Grenzübergangsstelle Dreilinden, Glienicker Brücke. Ich denke an den Tag in Leipzig mit den besonderen Schauplätzen der Montagsdemonstrationen: Stadtring, Stasi-Zentrale, Augustusplatz, Nikolaikirche. Ich denke an Mödlareuth, dem mauergeteilten Dorf im Vogtland, an Lauchröden an der Werra, wo der Grenzzaun direkt unter dem Wohnzimmerfenster meiner Gastgeber herging und zwanzig Meter weiter die Freiheit lag. Ich denke an Dietmar, den Altkommunarden aus Frankfurt, der seit Jahrzehnten mit seiner Frau den Wildberghof bei Tettau betreibt, an den ehemaligen Grenzer und jetzigen Linken vom "Volkseigenen Hof" in Eisfeld, an die fleißige Gärtnerin Frau Euring in Eußenhausen, an den Pensionsgast in der Pension Hartmann in Brix, der sich nachts selbst aus seinem Zimmer ausgesperrt hat und mit mir im Doppelbett die Nacht verbringen muss, an die Erzählungen von Herrn Wassermann im Wassermannshof im kleinen Grenzdorf Reinhards, an die monströsen Kalihalden zwischen Vacha und Berka, an die munteren Mönche vom Kloster Hülfensberg, an die Brüder Mike und Walter Meder, die mich in Asbach beherbergen und mit ihrem Trabbi durch die Gegend fahren, an die Tagesmutter Frau Weller, mit der ich mich morgens beim Frühstück über Kindererziehung unterhalte, an Margrit Schmidt und ihren Lebenspartner Heinz in Ilseburg, denen ich nicht nur ein schönes Quartier, sondern auch noch eine schöne Stadtführung durch Wernigerode zu verdanken habe, an das Ehepaar Göde, die mich in ihrer Pension "Alter Bahnhof" in Söllingen wie ein Familienmitglied aufnehmen, an Frau Koll in Harpe, wo ich auf ihrem Hof einen wunderschönen Ruhetag verbringe, an die Naturfreunde Traudi und Jürgen Starck auf dem Haselnusshof in Binde mit ihrem herrlichen Naturgarten und ihrem Engagement für das Grüne Band, an die schönen Jugendherbergen in Lauenburg und Ratzeburg, die immer nochmal eine Adresse für ein Wiedersehen wären, an die nette Frau in Leisterförde, die Wolfgang und mir nach einigen langen und nassen Wanderstunden eine trockene Bank und eine heiße Tasse Kaffee spendiert und an den Rest des Sauerfleischs, den Wolfgang beim Hafenrestaurant in Lauenburg nicht mehr schafft, ihn zwei Tage im Rucksack transportiert und dann beim Abschied an der Bushaltestelle von Zarrentin noch brüderlich mit mir teilt. Und dann noch der ganz große Moment, als ich im Brockenhotel von meinem Sohn Daniel erfahre, dass ich mal wieder Opa geworden bin. Es waren besondere Tage!


Ich war fast genau 1300 Kilometer entlang dieser Grenze auf meinem Weg, dazu kommen 170 Kilometer auf dem Berliner Mauerweg. Zweieinhalb Monate weg von zuhause, auf den Tag genau zwei Monate auf dem Grünen Band. Zwei Paar Wanderschuhe sind ziemlich abgelaufen, ich werde sie zum Besohlen beim Schuster vorbeibringen. Zwei Paar Socken und mein in die Jahre gekommener Anorak sind nicht mehr zu retten, sie werden - mit einer anerkennenden Bemerkung - in der Schwarzen Tonne verschwinden. Ich habe abgenommen, an Gewicht und auf meinem Bankkonto. Ich musste nicht über das kleinste Wehwehchen klagen, bis auf meinen bösen Brüllhusten in Berlin, der sich aber frühzeitig genug im Vogtland wieder von mir verabschiedete. Wiedermal fühlte ich mich mit jedem gelaufenen Kilometer gesünder, richtig "down" war ich selbst nach dreißig und mehr Kilometern nie. Deshalb lasse man/frau mich gehen, solange ich das kann.


Für dieses Jahr ist es mal wieder vorbei! Vorbei das Gehen, vorbei das Auftanken, vorbei das Staunen. Doch wie alle anderen Orte, an denen ich mal angekommen war, so ist auch der Priwall nur eine "Zwischenstation". Ich werde weitergehen, auf neuen Wegen und zu neuen Zielen. Ich werde weitergehen, um neu aufzutanken und das Staunen immer wieder aufs Neue zu erleben.


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Bonus-Strecke

Priwall - Boltenhagen (26 km)


Mein Weg auf dem Grünen Band ist zu Ende - und doch nicht so ganz. Am Priwall traf seinerzeit zwar der Grenzstreifen auf die Ostseeküste, aber damit war der Zaun noch nicht zu Ende. Aus Sorge, Menschen könnten noch versuchen, nach Travemünde oder zu den Schifffahrtsrouten der Skandinavienfähren zu schwimmen, wurde ein 20 Kilometer langer Abschnitt vom Priwall über die Kliffs und Strände des Klützer Winkels bis kurz vor das Seebad Boltenhagen ebenfalls mit einem Grenzzaun abgeriegelt. Die Orte zwischen Travemünde und Boltenhagen waren also vom Strand abgeschnitten und dementsprechend ruhig war es an der Küste. Während östlich und westlich die touristische Entwicklung - je nach systemeigener Ausformung - die Strände förmlich überrollte, entstand hier ein Natur-Refugium. Und weil ich dies alles ebenfalls sehen will, gehört für mich die Etappe Priwall - Boltenhagen noch ausdrücklich mit zu meiner Grenzwanderung.


Beim Frühstück dann ein kleiner Schrecken: Carola, die Bewirtschafterin des Naturfreundehauses, teilt mir trocken mit, dass der Bus von Boltenhagen bis Pötenitz, den ich mir im Internet als perfekte Rückfahrgelegenheit ausgeguckt hatte, seit November letzten Jahres gar nicht mehr führe. Peng! Und jetzt? Wie komme ich nach 26 Kilometern Wanderung wieder zurück auf den Priwall? Zurückgehen? Ha,ha! Taxi? Mal eben so mindestens 50 Euro dafür abdrücken? Nochmal: Ha, ha! Ganz auf die Etappe verzichten? Nix, kommt gar nicht in die Tüte! Ich habe mich so auf diese Küstenwanderung gefreut. Auch wenn ich sie mit meiner Wandergruppe im Rahmen unserer Ostseewanderung schon einmal gegangen bin bzw. gerade weil ich sie schon mal gegangen bin und weiß wie schön sie ist, will ich das nochmal haben. Also werde ich mich an den Straßenrand stellen und den Daumen hochhalten, wie in alten Zeiten. Ich bin sicher, es wird sich mal wieder alles fügen und gehe los.


Nach Verlassen des Naturfreundehauses gehe ich so, wie ich gestern gekommen bin - nur ohne Wheelie. Schnurgerade führt die Mecklenburger Landstraße über den Priwall. Früher endete sie direkt hinter dem Campingplatz, der auch zum Naturfreunde-Gelände gehört, heute steht dort ein Schild "Mecklenburg-Vorpommer" und ein Gedenkstein mit der Aufschrift "Nie wieder geteilt - 3. Februar 1990" (Tag der Grenzöffnung). Direkt vor dem Stein verlief früher der westdeutsche Grenzweg zum Strand, heute heißt er "Waldweg". 


Ein paar Meter weiter zweigt in der Straßenkurve der Bohlengang zum Strand ab, den ich gestern, bei meinen letzten Metern zur Ostsee, so emotional aufgekratzt gegangen bin. Genau an seinem Beginn stand der Beobachtungsturm der Grenzwächter, der in den freudigen Tagen der Grenzöffnung zum Schnellimbiss umfunktioniert worden war. Heute ist von ihm nichts mehr zu sehen. Nur eine Stele steht dort, auf der ich u.a. folgendes lese: "Seit dem Mauerbau 1961 wagten über 5.600 Menschen eine Flucht über die Seegrenze. Mehr als 4.500 scheiterten und wurden inhaftiert. 900 waren erfolgreich, 174 kamen ums Leben. Am 3. Februar 1990 öffneten Grenzer das Tor am Strand."


Der heutige Teil des schön asphaltierten Radweges bis Steinbeck ist nichts anderes als der frühere Kolonnenweg. Ich glaube, dass kaum einer von denen, die hier entlangradeln, davon wissen. Dort, wo der Zaun damals endete, hört heute auch der offizielle Radweg auf. Schade nur, dass man auf dem Radweg nicht viel von der Ostsee sieht, denn ein schmaler Waldstreifen zwischen Steilküste und Weg versperrt die Sicht. Wer aber ans Wasser will, kann das immer wieder tun. Obwohl der gesamte Küstenstreifen unter strengstem Naturschutz steht, zweigen immer wieder Strandzugänge ab. Den zweiten nehme ich direkt, ich will ans Wasser.


Herrlich ist es da, Naturstrand eben. Sand und Steine, Baumwurzeln und Felsblöcke, gestrandete glattgeschliffene Baumstämme und von Menschen aus Ästen und Zweigen gebaute "Strandhütten", Muscheln und Krebse, Algen und Möwen, Schwäne und anderes Vogelgetier. Ein großer Trupp Uferschwalben schwirrt mir auf einmal um den Kopf herum. Nach einer lang gezogenen Schleife über der See kehrt der Schwarm zum Kliff zurück. Jetzt sehe ich die Eingänge zu den Nisthöhlen, die die Schwalben in die senkrechte Wand gegraben haben. Einige verschwinden in den Röhren, die meisten docken nur kurz an und drehen eine weitere Runde. Menschen vielleicht zehn pro gelaufenen Kilometer: Spaziergänger, Bernsteinsammler, Sonnenanbeter, Nackte. Auf der See kreuzen Segelboote und riesige Fähren steuern auf Finnland und Schweden zu. Doch die Sonne saugt mir - trotz Hut - so langsam das Gehirn aus. 


Nach 15 Kilometern "Strandspaziergang" gehe ich hoch auf den Radweg, der immer mal wieder ein Stück im Schatten verläuft. Dort bin ich als einziger fußläufig unterwegs. Fast ängstlich dränge ich mich an den Rand, denn sie kommen von vorne und von hinten: Die vollbepackten Tourenradler, die Hightech-Sportraser, die Tagesausflügler mit den Leihrädern und die Seniorenriege auf ihren E-Bikes. Viele bestaunen mich wie einen Außerirdischen: Zu Fuß geht hier auch? Ist ja irre! 


Die Strandläufer wissen die sportliche Leistung der Radler gar nicht zu schätzen. Da die Landschaft hier in Küstennähe sehr hügelig ist (und bei den Klippen nahezu senkrecht zur See hin abstürzt), gleicht der Radweg einer Achterbahn. So mancher hat damit wohl nicht gerechnet, denn ich sehe hochrote Gesichter und höre kräftiges Keuchen.


Diesen Umstand haben sich zwei Frauen am Ortsrand von Steinbeck, dort wo der offizielle Radweg endet, zu Nutze gemacht und direkt am Endpunkt des Radweges einen Imbiss aufgebaut. Kaum ein Radler fährt vorbei - und ein Wanderer hält auch an. Die zwei Frauen sind bester Laune und lassen die Finger fliegen. Das Naturschutzgebiet endet genau hier, da ja auch der Grenzzaun hier unten am Strand endete. In einem Naturschutzgebiet wäre solch ein Imbiss nicht genehmigungsfähig, doch so sind die Frauen zwei von den Gewinnerinnen der wiedererlangten Einheit.


Nach einer Frikadelle mit Kartoffelsalat und einer eiskalten Apfelschorle nehme ich die letzten fünf Kilometer meiner diesjährigen Wanderreise in Angriff. Der Weg wird für den Wanderer schöner, für den Radler schwieriger. Nur noch als schmaler Pfad zieht er sich nun am Rand der goldgelben Getreidefelder dahin, die bis unmittelbar an die Abbruchkante der Steilküste heranreichen. Gräser und Brennnesseln überwuchern teilweise den Pfad und erfreuen die Radler in ihren kurzen Hosen oder im kurzen Rock. Wenn die Pedalritter mir entgegenkommen, muss ich großmütig sein. Für sie gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder sie fahren gefährlich nahe an der senkrecht abfallenden Wand oder durchs Korn. Für mich trifft zwar im Prinzip dasselbe zu, aber ich bewege mich nicht auf einem wackeligen Zweirad, sondern auf zwei stabilen Füßen. Also gehe ich ins Korn und werde von dankbaren Radlern gefeiert. Sehr gerne, meine Herrschaften!


Nach einer Stunde bin ich in Boltenhagen. Erinnerungen werden wach: Etwa zehn Jahre müssten es her sein, dass ich mit meiner Wandergruppe hier durchgezogen bin. Noch zwei Jahre vorher war ich mit meinen zwei Jüngsten, Julian und Yannik, hier. Meck-Pomm-Rundreise mit Baden in der Ostsee. Beim ersten Bad im Boltenhagener Ostseewasser machte Klein-Yannik Bekanntschaft mit harmlosen kleinen Quallen. Seitdem gab es nur noch eine Rundreise OHNE Baden in der Ostsee.


In Boltenhagen ist der Teufel los. Gar nicht mal am Strand, das Wasser ist wohl noch nicht badetauglich. Aber an der Seebrücke, im Kurpark, in den Cafés, vor den Softeis-Ständen, in den Läden, die trotz Sonntag geöffnet haben, überall drängen sich die Menschen. Hier kriege ich Platzangst! Raus hier, das ist nichts für mich. Erst recht nicht nach den vielen einsamen Tagen auf meinem Weg. Außerdem will ich jetzt wissen, ob das mit der Rückfahrt klappt.


Auf der Karte habe ich mittlerweile gesehen, wie ich mich wohl Richtung Priwall zurücktasten muss. Dabei ist wohl nicht der kürzeste Weg der schnellste, sondern der, der am meisten Verkehr hat. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich schaffe es, drei Autos zu stoppen, die mich nacheinander über Klütz, Dassow und Pötenitz meinem Ziel Priwall näher bringen. Der letzte Fahrer, ein Hamburger, der als Ruheständler nun in Pötenitz lebt, lädt mich sogar noch zu Kaffee und Kuchen zu sich nach Hause ein, wo ich mich im Kreise seiner Großfamilie zur Sonntagsnachmittagsattraktion mausere. Nach einem netten Plauderstündchen auf der Terrasse bringt er mich sogar noch bis zum Naturfreundehaus, genau pünktlich zum Abendessen. Wer sagt's denn! 


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Ostsee erreicht!

Lübeck / Herrnburg - Priwall (32 km)


Ich muss ans Grüne Band zurück, raus aus dem Gewühl von Lübeck. Dazu muss ich zum Hauptbahnhof, der glücklicherweise nicht weit von der Altstadt-Jugendherberge entfernt ist. In den Straßen ist es noch relativ ruhig. Heute ist Samstag. Selbst im Bahnhofsgebäude geht es noch relativ entspannt zu. Für meinen Wheelie muss ich mal wieder eine Fahrrad-Gebühr bezahlen. Stinkt mir ein wenig. Die Ostsee-Urlauberin, die vollbepackt in Travemünde aus dem Zug steigt, musste bestimmt auch nichts für ihren Monster-Trollee zusätzlich bezahlen. Und der hat auch Räder ...!


Mein Zugziel ist aber nicht Travemünde, sondern Herrnburg, der erste Ort südöstlich von Lübeck in Mecklenburg-Vorpommern. Hier ist es wieder grün. Aber nicht mehr so grün, wie noch auf meiner Wanderkarte dargestellt, denn inzwischen haben neue Wohngebiete Wald und Wiesen vereinnahmt und ich stehe wegmäßig kurzfristig auf dem Schlauch. Kommt ja gut, denke ich mir, bei einem verspäteten Abmarsch und mehr als 30 Kilometern vor der Brust genau richtig. Doch Google-Maps ist wieder mein Freund und schickt mich zügig auf den rechten Weg. 


Die Bezeichnung "Pahlinger Heide" ließ es schon vermuten: Kiefernforste und Sandwege. Ich gehe hart am Rand, wo der Sand nicht ganz so weich ist und komme einigermaßen gut voran. Schnurgerade verläuft mal wieder der Weg, ohne viel Kurven immer nach Osten. Ab Palingen habe ich dann die Chance, weitere Sandwege zu vermeiden. Konsequenz: eine Landstraße, Problem: Null. Es rollt und das ist heute die Hauptsache. Nach zwei Stunden Weg erreiche ich Selmsdorf. Beim Feuerwehrhaus ist Feststimmung. Alle Feuerwehrzüge, die Alten und die Jungen, stehen stramm in Reih' und Glied und lauschen den Worten des Bürgermeisters, der ohne Punkt und Komma die Einsätze des letzten Jahres herunterbetet und zum Dank dafür einen neuen Einsatzwagen präsentiert. Alle sind begeistert, ein Tusch der Feuerwehrkapelle, alle Einwohner von Selmsdorf klatschen, nur den Kindern ist das herzlich egal, sie toben auf der Hüpfburg. Immerhin habe ich Unterhaltung bei meiner Rast. 


Dann die erwartete Prüfung für Körper und Geist: Acht Kilometer B 105 liegen vor mir, auf der Karte mit leichten Schlenkern, gefühlt stur geradeaus. Mein Wanderführer empfiehlt sogar, dieses Stück auszulassen und die Distanz lieber mit einem Bus (und das auch noch mit einem Umweg) zu überbrücken. Aber das geht ja wohl gar nicht! Wer auf der großen Ausfallstraße "Cassia" nach Rom hineinmarschiert ist, den kann doch wohl so eine Straße in Mecklenburg-Vorpommern nicht kratzen. Aber es wird wirklich nicht ganz einfach: Die Straße entpuppt sich zwar als eine Allee, die dem schwitzenden Wanderer bei der heutigen schwül-warmen Sonnenbestrahlung etwas Schatten bietet, aber die Leitplanken nerven. Die sind ohne Unterbrechung über Kilometer hinweg durchgezogen, um den Baumbestand der alten Allee zu schützen. Oder die Fahrer vor den Bäumen. Jedenfalls nicht den Grüne-Band-Wanderer vor den Fahrern. Solange sich nicht zwei Autos auf meiner Höhe begegnen, geht es ja, wenn aber doch, wird es eng. Doch ich habe meine Erfahrungen mit diesen Situationen und bin recht entspannt. 


Bald sehe ich links den Dassower See vor mir liegen, der mit seinem Ufer immer näher an die Straße heranrückt. Als er sie fast berührt, steht da ein alter Wachturm, einer von den dicken Viereckigen, ein früherer Führungsturm. Mit dickem, rotem Pinselstrich ist auf seine Wand ein Herz gemalt. Ein "P" liebt seine "E". Auf der Tür ein resolutes "Nie wieder". Mit beidem kann ich leben. Doch wie konnten die Menschen, nur ein paar Kilometer von der Großstadt Lübeck entfernt, mit dieser Grenze leben? Jeder Eigenwilligkeit der Uferlinie folgten Zaun und Kolonnenweg. Alles war Sperrgebiet, in das man nur mit Passierschein kam. Das Südufer des Dessower Sees war ein vergessenes, aber peinlichst kontrolliertes Land.


Dann endlich Dassow. Dassow war ebenfalls Sperrgebiet, der Dassower See war Bundesrepublik, das Ufer die Grenze. Vor dem Mauerbau in Berlin durften auch die Dassower Kinder noch im See baden, obwohl die Grenzlinie der Hochwasserlinie entsprach und bei niedrigerem Wasserstand ein Küstenstreifen zur BRD gehörte. Da durften auch noch drei Fischkutter durch Westwasser in die Ostsee fahren. Dann war das vorbei. Die drei Fischkutter wurden auf Tiefladern nach Wismar verbracht, bevor da ein Fischer jemand in den Westen geschleust hätte; und zwischen Haustür und See wurde auch in Dessow eine Mauer hochgezogen. Wer in den 60er-Jahren aufwuchs, der hatte den See nicht gesehen. Der kam hier auch nicht ans Meer, das die Touristen heute in zehn Minuten erreichen. 


Wo heute der Penny-Markt steht, zog damals die Mauer von Dessow weg und ans Ufer des Dessower Sees. Wo ich also kalte Getränke einkaufe, weil die Schwüle des Tages meine Flüssigvorräte schnell hat schwinden lassen, war damals meist höchste Alarmstufe verordnet, denn immer wieder versuchten DDR-Bürger über den Dessower See zu flüchten. 


Von einem dieser Fluchtversuche lese ich in der Nähe der wenigen Häuser des fast vollständig geschleiften Dorfes Volksdorf, dem letzten Dorf, bevor ich den Priwall erreiche: Von der anderen Seite des Dessower Sees schafft es ein junger Mann, den Zaun am Ufer zu überwinden. Er will durch den See Richtung Travemünde schwimmen. Er schafft es, in den See zu gelangen, und schwimmt zu der kleinen vorgelagerten Insel Buchhorst. Hier entdecken ihn die Grenzer eines nahegelegenen Wachtturms und nehmen ihn unter Feuer. Vollkommen in Panik schwimmt er orientierungslos weiter und gelangt, meist tauchend, schließlich vollkommen erschöpft zu einem aus dem Wasser ragenden Stein nahe am nördlichen Ufer des Sees zwischen den Dörfern Benckendorf und Volkstorf. Auf dem Stein sich erholend, wird er von Grenztruppen auf einem Wachtturm bei Volkstorf in Visier genommen. Bald peitschen Schüsse über den See. Fischer aus Lübeck, die im See ihrem Beruf nachgehen, haben inzwischen die Schüsse gehört, eilen zu dem Flüchtenden und geben ihm mit ihren Booten Schutz, bis ein Schiff des BGS auftaucht und den Flüchtling aufnimmt.


Wolken haben sich zusammengebraut, es donnert, starker Wind kommt auf und eine kurze Schauer geht nieder, vor der ich mich unter hohen Büschen in Sicherheit bringe. Eine Viertelstunde dauert das Ganze, dann ist die Schwüle weg, in kürzester Zeit wie weggeblasen. Wie ein Zeichen für mich, jetzt mit Volldampf die letzten Kilometer anzugehen. Ich renne nochmal durch die Kornfelder, bestaune weite Flächen mit Mohnblumen und sehe und rieche Kamille. Ich sehe die mächtige "Bettenburg" von Travemünde über einem Wald emporragen und etwas abwärts der Trave die dicken Pötte der Skandinavienfähren. Nochmal ein Stück Wald direkt am Ufer der Pötenitzer Wiek, die genau wie der Dessower See nichts anderes ist wie ein Teilstück der Lübecker Bucht, die nur durch das angeschwemmte Küstenmaterial des Priwalls fast zu selbstständigen Binnengewässern geworden sind. Auch hier zog sich der Zaun entlang, der Kolonnenweg. Im Wald nochmal Grünes Band pur: Alles schießt mächtig ins Kraut, Gras hüfthoch, Brombeeren, Brennnesseln, dschungelartig, dicht, vor allem grün - ein schöner Abschied. Dann plötzlich die Landstraße, die mich nochmal für 500 Meter aufnimmt.


Es kribbelt im Bauch. Immer wieder denke ich: Jetzt muss die Kurve der Straße doch kommen, wo du nur noch 150 m geradeaus zu gehen brauchst und dann bist du da, bist angekommen an der Ostsee. Auf einer kleinen Radweg-Markierung neben der Straße hat jemand "DDR - unser Vaterland" geschrieben. Komisch, das gerade jetzt in diesem Moment zu lesen. Dann bin ich endlich an der Kurve, und tatsächlich, direkt dort beginnt ein Bohlengang. Gleich dahinter die Düne. Das Wellenrauschen höre ich schon. Die letzten Schritte. So langsam wie noch nie.


Wie wird es sein? Ein Triumphzug! Kaiserwetter, Möwenlachen, Frühsommerglück. Die letzten Meter am Strand sind festlich geschmückt, Girlanden, Birkengrün mit bunten Bändern. Fähnchen schwenkende Schulkinder und Vivat rufende Landfrauen in Festtagstracht stehen Spalier. Feuerwehrkapellen schmettern Begrüßungsfanfaren, und Bürgermeister der umliegenden Gemeinden und Städte stehen zu Ansprachen bereit. Würste wälzen sich im Fett, Fässer fiebern ihrem Anstich entgegen, Lavendel liegt in der Luft, daneben Sekt und Fischbrötchen. Und jedermann erwartet ein Fest. So etwa hatte ich mir das vorgestellt.


Quatsch! In Wahrheit: Schritt für Schritt gehe ich auf dem Bohlenweg vor, ganz allein, wie auf den allermeisten Kilometern zuvor. So will ich es. Und dann ... Wo die Priwall-Halbinsel am schmalsten ist. Wo eine einfach und engmaschig gestrickte Wochenendhaussiedlung direkt an das Naturschutzgebiet anschließt. Wo bis 1990 Ost-Grenzer auf West-Nackte stießen. Wo seit 1226 ein Lübecker Strand Mecklenburg berührt. Wo im Westen die zugebaute Ferienküste Ostholsteins liegt, und im Osten nichts, nichts als Naturstrand, Bäume bis ans Wasser, bis Boltenhagen segensreiche Leere. Wo ein Bohlengang die letzten Meter durch die Dünen führt - da geht das Meer auf. Ich bin angekommen. Mir ist ein wenig zum Heulen.


Es ist schon relativ spät. Bis auf ein junges Ehepaar mit Kind ist niemand mehr da. Sie kommen gerade an mir vorbei, wollen auf dem Bohlengang zurück zu ihrem Auto. Ich bitte sie, ein Foto von mir zu machen. Wie hätte sonst dieser Moment dokumentiert werden sollen? Sie tun es gerne und gehen. Ich bin alleine am Strand. So wollte ich es. So passt es im Moment zu mir. Das Naturfreundehaus kann noch etwas warten. Ich setze mich in den Sand und bin zufrieden.


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Auf dem "Amazonas des Nordens"

Ratzeburg - Rothenhusen (10 km) - Lübeck


Es ist angenem ruhig beim Frühstück, obwohl genauso viel Menschen im Speisesaal sitzen wie gestern beim abendlichen Grillessen. So gut wie alle Kids kämpfen noch gegen ihre Müdigkeit an. Ein Jugendherbergsaufenthalt ist eben keine Kindererholungsmaßnahme. Als ich mein schmutziges Geschirr in die Spülküche bringe, sitzen die meisten noch an ihrer ersten Brötchenhälfte oder haben sicherheitshalber noch gar nicht mit kauen angefangen. Frühstück wird eben von Erwachsenen überbewertet.


Der heutige Tag wird irgendwie ganz anders: eine Mischform aus Wanderung und Bootspartie. Und dennoch so hart an der ehemaligen Grenze wie selten in den letzten Tagen. In aller Gemütsruhe schlendere ich zum Schiffsanleger an der Schlosswiese. Um 10 Uhr legt von dort ein Rundfahrtboot zum Bootshaus Rothenhusen am Nordende des Ratzeburger Sees ab. Auch mein Grünes Band berührt diesen Punkt, aber bis dahin mitfahren will ich nicht. Ja was denn nun? Also: Das Boot soll mich über die Römnitzer Enge direkt zum ehemaligen kleinen Fischerdorf Römnitz bringen und mir damit die zeitraubende nochmalige Umrundung des Domsees, praktisch einer Ausbuchtung des Großen Sees, ersparen. Die Strecke kenne ich von gestern, muss ich also nicht nochmal haben. So geschieht es dann auch und ich bin mit dem ersten Teil des Tages zufrieden. 


An der Anlegestelle in Römnitz wartet schon eine Frau auf das Boot, dreißig Meter dahinter steht ein junger Mann mit einer kleinen Gruppe behinderter Kinder. Als das Boot anlegt, bekomme ich ungewollt die kurze Unterhaltung der Frau, wahrscheinlich der Chefbetreuerin der Kindergruppe, mit dem Bootskapitän mit. Sie seien zufällig hier vorbeigekommen und hätten das Boot ankommen sehen. Die Kinder würden nun sooooo gerne eine Bootsfahrt bis Rothenhusen machen, aber sie wisse nicht, ob das Geld reicht. Ich verzögere meinen Schritt, will wissen, was da jetzt bei rauskommt, während die Kinder bei ihrem männlichen Betreuer vor Aufregung und Gespanntheit mit ihren Körpern hin und her wiegen und mit weit aufgerissenen Augen herüberschauen. Für einen Gruppentarif reiche es bei der geringen Anzahl von Kindern noch nicht, aber eine Begleitperson wäre frei. Den geforderten Betrag verstehe ich nicht genau, nur die resignierte Stimme der Betreuerin: "Schade, dann haben wir zehn Euro zu wenig! Na dann ... vielleicht beim nächstenmal ...!" Das darf doch jetzt nicht wahr sein! Zwei Euro fehlen jedem Kind zur Erfüllung eines sehnlichen Wunsches. Ich rufe zum Kapitän hinüber, ob man in diesem Fall nicht mal eine Ausnahme machen könne. Er zuckt nur mit den Schultern. "Das dürfen wir gar nicht erst anfangen. Sowas spricht sich rum." - "Na und?", erwidere ich. "Vielleicht gibt das ja 'ne gute Presse für ihr Unternehmen." Der Bootslenker schüttelt nur mit dem Kopf. Die Kinder haben an der Körpersprache ihrer Betreuerin mittlerweile wohl gemerkt, dass anscheinend nichts aus ihrer schönen Schiffsfahrt wird und haben bereits abgedreht. Ich kann das jetzt nicht so stehen lassen. Ich greife in meine Hosentasche, krame zehn Euro raus und drücke sie dem Kapitän in die Hand. "Und jetzt lassen Sie die Kinder bitte an Bord gehen! ", sage ich und meine Stimme zittert vor Erregung ein wenig. Drei Ehepaare hinter mir, die offensichtich miteinander bekannt oder befreundet sind, hatten wohl die gleichen Gedanken wie ich und inzwischen Geld gesammelt. Jetzt gehen sie zur Betreuerin, drücken ihr ebenfalls Geld in die Hand und sagen: "Und von diesem Geld kaufen Sie bitte jedem Kind im Fährhaus Rothenhusen ein Eis!" Die Frau bedankt sich überschwänglich bei uns allen und winkt zu ihren Kindern hinüber. Ich weiß nicht, ob die Kinder genau mitbekommen haben, was da vor sich ging, aber als sie an mir vorbeistürmen, haben alle ein großes Glänzen in den Augen. 


Die zehn Kilometer lange Strecke am Ostufer des Ratzeburger Sees entlang ist einfach nur schön. Ein Hochwald nimmt mich auf, der See blitzt nur selten durch die Büsche. Der Weg steigt an, senkt sich wieder, immer im Wechsel. Das Ausflugslokal Kalkhütte erscheint, sieht aber geschlossen aus. Ist es noch zu früh oder Ruhetag oder hat es den Betrieb ganz eingestellt? Der Waldpfad mündet auf einen asphaltierten Forstweg, wieder rauf, runter. Fast am Ufer des Sees dann der Moment, wo die ehemalige Grenze ebenfalls auf den See trifft und von nun an am Fuß seines Steilufers entlangläuft. Der Zaun verlief oben, kein DDR-Bürger konnte den See sehen, geschweige denn drin schwimmen. Die Menschen der nun folgenden kleinen Dörfer Campow und Utecht mussten zum Baden weit ins Landesinnere, dabei lagen die schönsten Badestellen nur wenige hundert Meter entfernt. 


Hinter Campow dann eine Begegnung der besonderen Art: Auf einer etwas höher gelegenen Wiese stolziert ein Nandu, genauer gesagt, eine Nandu-Mutter, denn um ihre Füße herum tummeln sich fünf bis sechs Küken. Heißen die jungen Nandus so? Küken? Die sind doch in jungen Jahren schon größer als die größten Hühner. Wenn ich nicht gelesen hätte, dass hier Nandus rumlaufen, würde ich jetzt grübeln: Hat hier einer 'ne Straußenzucht? Irgendwie sieht ein Strauß aber anders aus ... Und außerdem läuft dieser Nicht-Strauß doch frei rum ... Aber ich weiß Bescheid: Nandus, deren Heimat eigentlich die Pampa in Argentinien, Uruguay und Brasilien ist, dürften die seltenste Großtierart sein, die hierzulande in freier Wildbahn herumläuft. Und das auch nur, weil vor Jahren einige Nandupärchen, die auf einer Farm in Groß Grönau, einem Dorf südlich von Lübeck, gehalten wurden, nach Mecklenburg rübergemacht haben. Dabei sind sie murmaßlich durch die Wakenitz gewatet oder geschwommen, denn fliegen können Nandus nicht. Dort haben sie Familien gegründet, sind inzwischen zu hundertst, und jetzt mischen sie als geschützte Natur das Naturschutzgebiet auf. Balzende Nanduhähne haben immerhin schon Gallowaykälber in Panik versetzt und den Hund des wandernden Dokumentarfilmers Andreas Kieling fast zu Tode gehetzt. Eine Bejagung ist nicht erlaubt, das verbietet das Bundesnaturschutzgesetz. Ganz zu schweigen vom Artenschutzabkommen. Wenn nun aber dieser eingewanderte geschützte Neubürger sich an der ebenfalls geschützten blauflügeligen Ödlandschrecke vergreift, weil er in der Brutzeit einfach mehr Eiweiß braucht? Dann haben wir den Salat. Deutschland uneinig Einwanderland.


Nach Campow kommt Utecht, nach Utecht Rothenhusen. Rothenhusen ist das alte Fährhaus, das auf einer kleinen Insel an der Nordspitze des Ratzeburger Sees liegt. Hier drehen die Ausflugsschiffe von Ratzeburg, bevor sie wieder zu der Domstadt auf der Insel zurückfahren, hier starten aber auch die kleinen Boote der Wakenitz-Schifffahrt des alten Familienunternehmens Quandt. Fast zwei Stunden benötigen sie, um von hier ihre Fahrgäste bis Lübeck zu bringen. Das gönne ich mir!


Nach meiner Ankunft am Fährhaus reicht es so gerade zu einem Kaffee auf der Außenterrasse des Fährhaus-Restaurants, als das Motorschiff "Melanie" an der Anlegestelle festmacht. Zunächst bin ich der einzige Fahrgast. Mag sein, dass unterwegs an den zwei Stationen noch weitere zusteigen. "Willkommen an Bord zu einer Fahrt auf dem 'Amazonas des Nordens'!" So begrüßt mich Raimund Quandt, der bereits seit fast 40 Jahren im Kielwasser seines Vaters Manfred auf der Wakenitz schippert. Den Begriff des "Amazonas des Nordens" hatte vor Jahren ein Lübecker Journalist geprägt. "Seitdem sitzt der Name und steht auch auf meinem Flyer", sagt der Kapitän. Ganz so mächtig wie der südamerikanische Strom sei die knapp 15 km lange Wakenitz zwar nicht, räumt er schmunzelnd ein, doch die Artenvielfalt könne sich auch hier sehen lassen. 


Raimund Quandt berichtet von Schwänen, Eisvögeln, Zwergtauchern, Löffelenten, dem Wachtelkönig und dem Fischadlerpaar. Auch Fischotter seien am Fluss wieder zu Hause. Am Anfang ist die Wakenitz noch so schmal, dass die Erlenkronen und Weiden sie wie einen Baldachin beschirmen. "Sagte ich's nicht ..." - der Kapitän blickt stolz über "seinen" Fluss, "... wie auf dem Amazonas ...!" Lauschig und romantisch geht es weiter. Schilf wiegt hin und her, Graugänse und Enten schwimmen zwischen Seerosen, ein versteinerter Graureiher wartet geduldig auf einen leichtsinnigen Frosch.


"Die Wakenitz war Grenzfluss. Früher sah man auf der gegenüberliegenden Seite Schilder mit der Aufschrift 'Halt! Hier Grenze!' Dort stand auch ein schwarz-rot-goldener Betonpfahl mit DDR-Emblem." Die Grenze entlang der Wakenitz war eine flexible Grenze. Sie führte am Ostufer entlang, der aktuelle Wasserstand markierte den genauen Verlauf. "Auf dem Wasser selbst konnten wir uns mit unseren Booten frei bewegen. Es gab allerdings immer mal den ein oder anderen vorwitzigen Paddler, der meinte, 'drüben' ein Päuschen einlegen zu können. Mancher wachte dann am nächsten Morgen in einem DDR-Gefängnis auf, wo er bei einer sechswöchigen 'Kartoffelschäl-Kur' über die 'Grenzverletzung' nachdenken konnte."


Beim Restaurant Absalonshorst legen wir an, andere Gäste steigen zu, ebenfalls beim Restaurant Müggenbusch. Die Wakenitz ist inzwischen breiter geworden, immer wieder liegen jetzt auch Wiesen am Ufer, Kleingärten, feudale Grundstücke mit stattlichen Kaufmanns- und Senatorenvillen. Dann ist die Lübecker Moltkebrücke erreicht, das Ziel meiner Fahrt auf dem "Amazonas des Nordens". 


Mitten in der Altstadt Lübecks, nicht weit von der Marienkirche, dem Rathaus und dem Buddenbrookhaus, liegt eine der zwei Lübecker Jugendherbergen, meine Unterkunft für heute. Auch nicht weit weg vom Hauptbahnhof. Und da muss ich morgen früh hin. Ein Zug bringt mich dann wieder ans Grüne Band, vor die Tore Lübecks. Noch ein Tag bis zur Ostsee!




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Langsam dem Ende entgegen

Mustin - Ratzeburg (24 km)


Als ich beim Frühstück sitze und auf den Kleinen See von Mustin hinausblicke, wird mir auf einmal bewusst, dass die vergangene Nacht die letzte war, die ich in einer Unterkunft der Kategorie Gasthof/Pension/Privatzimmer zugebracht habe. Die letzten werden Jugendherbergen und ein Naturfreundehaus sein. Allerdings habe ich auch dort Einzelzimmer gebucht, denn in meinem Alter steht man immer mehr auf das, was man wohl "Privatsphäre" nennt. 


Schon in den letzten Tagen kam das Gefühl immer mehr hoch, jetzt ist es voll da: der Zwiespalt von Freude und Wehmut. Nur vier Wandertage liegen noch vor mir, wohl keine hundert Kilometer mehr. Mein kleines Abenteuer Grünes Band geht dem Ende entgegen. Keine körperliche Anstrengung mehr, keine brennenden Füße, keine Auseinandersetzung mehr mit der jüngeren deutschen Geschichte und mit menschlichen Schicksalen, keine wechselnden Landschaften, kein Blick mehr auf die Wettervorhersage, keine freudigen oder weniger freudigen Überraschungen mehr bei den Unterkünften, kein Kolonnenweg, kein Grenzmuseum, keine Wachtürme. Keine Gespräche mehr mit Menschen, die an dieser Grenze damals lebten und es heute immer noch tun. Keine Beklemmung, keine Betroffenheit, keine Wut mehr über das , was damals "im Namen der Arbeiter und Bauern" hier geschah, vielleicht nur noch Verblüffung und Freude darüber, wie die Natur über all die Schändlichkeiten wieder ihren Mantel deckt.


Doch ich spüre auch Freude. Freude auf meine Lieben daheim, Freude auf meine Enkelkinder, von denen ich das jüngste noch nie auf dem Arm hatte, Freude darauf, mit meiner Theatergruppe bald wieder arbeiten zu können, die Zeitungen von zweieinhalb Monaten zu lesen, mit meiner Wandergruppe bald wieder loszuziehen, aus diesem Blog vielleicht wieder ein Buch zu machen oder mich einfach nur zurückzulehnen, um mit Hilfe meiner niedergeschriebenen Erinnerungen und den aufgenommenen Fotos alles nochmal Revue passieren zu lassen. Doch erstmal muss ich überhaupt ankommen.


Meine Unterkunft in Mustin liegt etwas abseits vom ehemaligen Grenzverlauf und ich muss erstmal wieder zu ihm zurück. Von einem Moränenhügel sehe ich das Wasser des Lankower Sees zu mir heraufblinken. Sein West- bzw. Südufer markieren die mecklenburgisch - schleswig-holsteinische Grenze, der Kolonnenweg verlief aber am Ostufer. Der Grenzzaun führte jedoch direkt durch den See hindurch und schnitt den größten Seitenarm ab. Um das bewerkstelligen zu können, hatten sich die Grenzkommandos der DDR etwas Besonderes ausgedacht. Vom Grenzstreifen zog man eine Reihe Streckmetallgitterplatten quer über den See, wobei die Zaunelemente in der Mitte der Seestrecke in das Wasser eintauchten. Damit nicht genug: Oberhalb und unterhalb des Metallgitters hatte man eine Rolle Stacheldraht gezogen, wobei die untere Rolle bis zu den Ufern hin tief in das Wasser eintauchte. Eine perfekte Sperre, die gleich einer Pontonbrücke durch Schwimmelemente stabilisiert wurde. 


Am Nordufer des Lankower Sees lag Lankow. "Auch dieses 800 Jahre alte Dorf musste weichen, weil es zu dicht an der Grenze lag und sich nicht lückenlos hätte überwachen lassen können", erzählt mir später eine Mitarbeiterin des Grenzmuseums in Schlagsdorf. "Nichts blieb von dem Dorf übrig. Bis auf die Reste ehemaliger Bauerngärten, in denen im Mai oder Juni noch Pfingstrosen und Gartenlupinen blühen." 

Am Südufer des Mechower Sees treffe ich wieder auf den Kolonnenweg. Fast verschämt taucht er neben der Straße, die es damals gar nicht mehr gab, aus hohem Grasbewuchs auf und stößt auf Asphalt. Als wolle sich die Straße ihm in den Weg stellen. 


Von Schlagbrügge gehe ich die Straße nach Schlagsdorf, einem Dorf im ehemaligen Sperrgebiet, fast malerisch auf einem Hügel oberhalb des Muchower Sees gelegen. Ein Ort mit uralter Geschichte, der gesichtslos wurde, nicht mehr zu existieren schien, als der Sicherheitsgürtel im innersten Grenzbereich immer dichter wurde. Das erste, was mir in den Blick fällt, sind die Kästen der ehemaligen Kasernengebäude, heute zu einer Wohnanlage "aufgehübscht". Wächter und Bewachte lebten in unmittelbarer Nachbarschaft. Wenn die Schlagsdorfer Alarm hörten und die Grenzer mit ihren Fahrzeugen in größter Hast ausrückten, wussten sie, dass es mal wieder jemand versucht hat.


Wie es sich für ein altes Dorf gehört, steht unweit der Kirche die alte Dorfschule. Inzwischen ist das Schulgebäude zum "Grenzhus" umfunktioniert worden, einem Museum zur Erinnerung an das Leben vor 1989. Einen Moment überlege ich mir, ob ich reingehen soll, denn ich habe schon einige von ihnen gesehen. Dann tue ich es doch - und bin froh darüber. Sehr eindrucksvoll, prägnant und nicht überladen, schildert das Museum mit Fotos, Interview- und Quellentexten das Leben der Menschen an der Grenze zwischen Schnackenburg, Lauenburg und Lübeck, berichtet von Zwangsaussiedlungen, Grenzabsicherungen, gelungenen oder gescheiterten Fluchtversuchen und von den Tagen des euphorischen Glücks nach der Maueröffnung in Berlin und den darauf folgenden Grenzöffnungen überall hier in der Region. Ich sehe Fotos von Örtlichkeiten entlang der nördlichen Grenze, die ich selbst auf meinem Weg gesehen habe. Fotos aus schlimmen Zeiten, die diese friedlichen Bilder, die ich im Kopf habe, verblassen lassen. Ich lese von Fluchten, die genau dort versucht und oft gescheitert sind, wo ich nichtsahnend und vielleicht singend oder pfeifend entlanggezogen bin. Als ich nach mehr als einer Stunde das Museum verlasse, kann ich nicht sofort weitergehen. Im Museumscafé, in dem ich der einzige Gast bin, trinke ich einen Kaffee, muss tief durchatmen, versuche den Kopf wieder aufzuräumen, ihn wieder frei zu machen von dieser verdammten Grenze hier. 


Doch sie lässt mich nicht los: Auf den nächsten Kilometern treffe ich immer wieder auf Hinweistafeln, dort, wo der Hinterlandzaun den Weg kreuzte, wo der Beobachtungsturm stand, wo ein Fluchtversuch gelang, wo der Hauptzaun verlief, wo von einem Holzturm aus der Blick über den ganzen Mechower See geht, an dessen Ostufer der Hauptzaun ein kaum zu überwindendes Hindernis darstellte, wo eine Eisenschiene quer über dem Schotterweg liegt und damit zeigt, wo die politische Grenze war und heute zwischen zwei Bundesländern immer noch ist. Für heute ist's genug!


Die Grenze verlässt am Nordende des Mechower Sees meinen Weg und strebt auf das Ostufer des Ratzeburger Sees zu. Morgen werde ich dort wieder auf sie stoßen. Ich marschiere weiter in Richtung auf die Stadt, die dem See seinen Namen gab: Ratzeburg. Mechow bleibt hinter mir zurück, dann Bäk. Durch das Kupfermühlental erreiche ich das Ufer des Sees, sehe drüben auf der Stadtinsel den Dom auf einer kleinen Anhöhe aufragen, daneben steht das Herrenhaus der Mecklenburger Herzöge. Über den Königsdamm komme ich in den alten Stadtbezirk, laufe auf den Dom zu, werfe einen Blick hinein. Viel Geschichte liegt rechts und links am Weg, viel gäbe es zu erzählen, doch dies ist kein Touristen-Stadtführer. Ratzeburg ist nur eine der letzten Etappenziele meiner Wanderung auf dem Grünen Band Deutschland und nicht Ziel einer Städtetour.


An der Ruderakademie vorbei erreiche ich die neue Ratzeburger Jugendherberge, direkt am Ufer des Sees. Ein Schulorchester absolviert gerade eine Probenwoche. Wie ich so höre, sind die Proben auch bitter nötig, denn der Beatles-Song "Let it be" klingt noch etwas schräg. Ein 7. Schuljahr tobt draußen am See herum und drei Jungs versuchen gerade, sich unter Anfeuerung von etwa zehn Mädchen von einer Holzplattform ins Wasser zu schubsen. Die abseits stehende Pädagogin ist verzweifelt und zetert und der daneben stehende Pädagoge grinst nur und telefoniert über sein Handy mit seiner Frau. Am Abend wird draußen gegrillt, der Lärm ist beträchtlich, alle haben gute Laune, nur in einer Ecke sitzt ein Mädchen inmitten einer Traube von Klassenkameradinnen und heult. Wahrscheinlich Liebeskummer oder Heimweh. Bei einer kleinen Rangelei landet ein Teller mit Würstchen und Katoffelsalat auf dem Boden und der aufgetragene Ketchup flattert durch die Luft. - Ich freue mich, Pensionär zu sein!


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Ansichten eines Anglers

Zarrentin - Mustin (28 km)


Als ich beim Frühstück erscheine - ich gehe jetzt auch durch die Küche - , sind die Monteure schon alle weg. Kalter Rauch hängt noch in der Luft, aber immerhin brauche ich keinen frischen einzuatmen. Das Frühstücksangebot ist überaus reichlich. Wer den ganzen Tag arbeiten muss wie die Monteure, der braucht auch richtig was hinter die Kiemen. Und sowas ähnliches wie arbeiten tue ich ja auch.


Die Sonne scheint noch, als ich die Gaststätte Steffen verlasse und durch den alten Teil von Zarrentin zum Schaalsee hinuntergehe. Die Grenze verlief, wie heute die Landesgrenze auch, genau durch die Länge des Sees. Dadurch war "der Luftkurort vor den Toren Hamburgs", wie sich in den 30er-Jahren Zarrentin selbst bezeichnete, zu DDR-Zeiten völlig abgeschnitten. Die Stadt lag im Sperrgebiet. Alle uralten Verbindungswege zum benachbarten Mölln, Ratzeburg oder Lauenburg waren unterbrochen, Landstraßen gesperrt oder durch Kontollposten besetzt, Eisenbahnlinien aufgehoben oder abgebaut. Reisende überkam bei der mechanisch kalten Abfertigung am Grenzübergang Gudow - Zarrentin auf der nahegelegenen Transitautobahn Hamburg - Berlin eisiges Schaudern. Vor allem nach dem Mauerbau 1961 war Zarrentin vollkommen isoliert. Eine Kette gleißender 2000-Watt-Lampen tauchte nachts Zarrentins Hinterland in schmerzhaft grelles Licht. Natürlich war auch der Badebetrieb verboten. Erst nach der Wende blühte der Ort wieder auf.


Auf einem schönen Uferweg gehe ich am Schaalsee entlang, der glatt wie ein Spiegel daliegt. Boote liegen an kleinen Stegen, bunte Häuschen auf Pfählen ("Pahlhüser") stehen daneben, Schwanenpaare mit ihren Jungen ziehen an mir vorbei. Auf der Liegewiese des Seefreibads ist natürlich noch nichts los, und ich glaube, so schnell wird sich daran heute auch nichts ändern. Zum einen habe ich noch vorhin im Ort eine Digitalanzeige mit 13°C gesehen, zum anderen verdeckt gerade eine dunkle Wolkenwand die Sonne und wird ihr wohl so bald keinen Vortritt mehr gewähren.


Gletscher der Weichseleiszeit haben vor fast 120.000 Jahren die Grund- und Endmoränenlandschaft zwischen Ratzeburg und Zarrentin modelliert. Beim Abtauen spülte ihr Schmelzwasser Löcher und Rinnen aus und veränderte das von der Gletscherzunge geformte Land noch einmal. So auch das Bett des Schaalsees mit seinen Buchten und Inseln. Aufgereiht wie die Perlen einer Kette ziehen sich Schaalsee und Goldensee, Lankower See und Mechower See von Zarrentin bis nach Ratzeburg. Zu DDR-Zeiten patrouillierten Tag und Nacht Boote der Grenztruppen auf dem Wasser. Die östliche Uferseite war Sperrgebiet, außer den Grenzern kam keiner hin. Die Natur blieb nahezu unberührt. Es wuchs, was wuchs, und starb, was starb, niemand griff ein, regulierte oder beseitigte irgendwas. Und so sieht es auch heute noch aus, fast wie im Dschungel. Im Jahr 2000 erfuhr die vier Jahrzehnte lang "weggeschlossene" Landschaft am Schaalsee internationale Aufwertung als UNESCO-Biosphärenreservat. 


Ich tauche ein in diese Wildnis, laufe eine Weile und komme an einen Bootssteg, der weit in den See hinausragt. Auf dem Steg steht ein Angler, mir zugewandt, als hätte er gewartet, dass ich komme. Sein Gesicht strahlt mir entgegen, so dass ich gar nicht vorbeikann, ohne nach seinem Fang zu fragen. Erst sagt er nichts, schaut nur hinunter auf den Boden und strahlt noch mehr. Vor seinen Gummistiefeln liegt ein kapitaler Hecht. Dann verkündet er: "Zehn Pfund bringt der auf die Waage, mindestens." Und ich höre seinen Stolz. "Das war vielleicht ein Kampf! Über hundert Meter Schnur musste ich ihm geben. Eine halbe Stunde hat es gedauert, bis ich den Burschen endlich aus dem Wasser kriegte."


Er legt den Hecht wie einen Schatz in einen großen Eimer und geht dann mit ihm und seinen Angelutensilien zu einer Bank ans Ufer, setzt sich hin und stopft sich eine Pfeife. Ich frage ihn, ob ich mich einen Moment zu ihm setzen dürfe und ohne eine Antwort zu geben, rutscht er auf der Bank etwas zur Seite. Wir kommen ins Gespräch, wie das war damals, hier an der Grenze. Irgendwann sind wir bei den Grenzern.


"Die Grenztruppen waren hier Teil des Gemeinschaftslebens", erinnert er sich. "Sie hatten Patenschaftsverträge mit Schulen und Kindergärten, und Vertreter der Grenztruppen saßen im Stadtparlament. Man lebte miteinander und die bei der Ein- und Ausreise nach Zarrentin geforderten Formalien empfanden die meisten Bürger nicht als starke Einschränkung. Wir hatten uns daran gewöhnt. Aber dass Freunde, Verwandte und andere DDR-Bürger nur mit einem lange im Voraus zu beantragenden Passierschein einreisen durften, dass Familien praktisch auseinandergerissen wurden, war schon schmerzlich."


Er blickt sehr nachdenklich und nichts ist mehr zu sehen von der Freude über seinen gefangenen Hecht. "Diese Zeit hatte hässliche, aber auch menschlich schöne Seiten. Wir machten das Beste aus unserem Leben; einer war für den anderen da, man half sich gegenseitig und man feierte gemeinsam. Wir hatten Organisationen, die sich für das kulturelle Leben einsetzten, und unser Schulsystem war gut. Sicher", räumte er ein, "immer war Politik im Spiel, aber der Unterricht selbst bewegte sich auf hohem Niveau. Glauben Sie mir, ich war Lehrer."


Und dann sagt er fast kämpferisch: "Wir haben hier gearbeitet und unser Leben gestaltet. Wir lassen uns unsere Vergangenheit nicht nehmen." Mit etwas düsterem Gesichtsausdruck schaut er über den See und ich habe das Gefühl, ich sollte jetzt gehen. Ich verabschiede mich, lasse ihn mit seinen Gedanken zurück und mache mir meine eigenen. Als ich mich nach einiger Zeit nochmal rumdrehe, sitzt er immer noch auf seiner Bank und rührt sich nicht.


Nach ein paar Kilometern auf einem Radweg und anschließendem Abzweig auf einen Wirtschaftsweg, führt mich mein Weg auf eine kleine Anhöhe, auf der das kleine Dorf Techin liegt. Zu DDR-Zeiten verlief der Grenzzaun unmittelbar hinter den Häusern. Um den Zustand der Häuser stand es nach vier Jahrzehnten Grenze nicht sonderlich gut. Nach der Wende wurden sie von Grund auf saniert, mit Reet gedeckt und von einem Investor zu Ferienhäusern ausgebaut. Ein romantisches "Dörfchen" für Städter. Aber warum nicht? Immer noch besser als der vollkommene Verfall.


Um mich herum wird es dunkel. Nicht nur weil die Wolken über mir inzwischen tiefgrau sind und mich immer mal wieder mit etwas Nieselregen benetzen, sondern auch weil der Waldpfad, auf dem ich kurz nach Techin unterwegs bin, immer mehr von einem Dschungelpfad annimmt. Mit Ranken und Efeu bewachsene Bäume stehen dicht an dicht, einige sind auch umgefallen und strecken ihre Wurzeln in die Luft. Sumpfwasser steht neben dem Trail und schickt mir die Mücken in Scharen auf den Hals. Bevor sie mich ganz auffressen, führt ein Hohlweg mich hoch nach Lassahn.


Bis 1945 gehörte das Dorf, wie einige Nachbardörfer auch, zum Herzogtum Lauenburg. Danach aber fiel es am 26. November 1945 im Rahmen einer englisch-russischen Grenzbegradigung an die Sowjetische Besatzungszone. Eine dramatische Evakuierungsaktion folgte. Den Einwohnern, die erst am 14. November von dem bevorstehenden Gebietstausch erfuhren, wurde freigestellt, in den "Westen" zu gehen. Doch die Umsiedlung musste bis zum 28. November abgeschlossen sein. Die große Mehrheit der Lassahner entschloss sich, die Heimat zu verlassen, nur 14 Familien blieben. Bereits am 16. November begann man damit, das Vieh und landwirtschaftliche Gerätschaften abzutransportieren. Die Fischerboote wurden ans westliche Ufer gebracht. Alle Lassahner wurden mit der Fähre ans westliche Ufer bei Groß Zecher übergesetzt. Die Bevölkerung in den lauenburgischen Grenzorten wuchs beträchtlich, die Gebiete östlich des Schaalsees waren nahezu entvölkert. Später zogen sudetendeutsche Flüchtlinge in die ausgeplünderten und teilweise zerstörten Häuser ein.


Mittlerweile hat sich Lassahn wieder herausgemacht. Das schönste Gebäude ist die Dorfkirche St. Abundus. Sie steht, von einer Feldsteinmauer umgeben, hoch über dem Ufer des Schaalsees und ist teils aus Feldsteinen gebaut (1250), teils als Fachwerk gefügt (17./18. Jahrhundert).


Von Lassahn bis Kneese ist wieder die Landstraße mein Revier. Ulkig sieht sie aus: Dem Gelände angepasst läuft sie wie aufeinanderfolgende Wellen vor sich hin. Ein Motorradfahrer, der mich überholt, schein auf ihr entlangzusurfen, verschwindet im Wellental, um wenig später wieder, anscheinend mühelos, auf den Wellenberg emporgetragen zu werden, rauf, runter, rauf, runter ...


Für Kneese verspricht mir der Wanderführer ein Café, nach zwanzig bisher absolvierten Kilometern eine verdiente Belohnung. Doch dann die Ernüchterung: "Wir haben den Café-Betrieb eingestellt. Wir danken für Ihr Verständnis!" Es ist ja nicht das erste Mal, das ich eine erhoffte Raststelle verschlossen vorfinde, aus den verschiedensten Gründen. Dann eben nicht!


Acht Kilometer noch! Bei Dutzow umkurve ich den Dutzower See, die nördlichste Ausbuchtung des Schaalsees. Auch Dutzow hatte unter seiner Lage unmittelbar an der Demarkationslinie schwer gelitten. Familien wurden zwangsausgesiedelt, Häuser abgerissen. Nur wenige alte Häuser stehen noch, der Rest ist neueren Datums. 


Nach 28 Kilometern, mit nur einer Unterbrechung relativ am Anfang der Etappe, komme ich um 14.30 Uhr in Mustin an. Und siehe da: Ganz im Gegensatz zu einer gewohnten Wandergesetzmäßigkeit liegt meine Unterkunft heute am Anfang des Ortes. Eine schöne Herberge: "Landgasthof am kleinen See", neu, gemütlich, eine freundliche Wirtin. Draußen zieht gerade verstärkter Regen auf. Ist mir jetzt herzlich egal!


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Bis zum nächsten Mal, Wolfgang!

Langenlehsten - Zarrentin (18 km)


Wolfgang hat sich in der Nacht gut erholt. Er brennt nahezu darauf, heute wieder wandern zu dürfen. Wenn unten in der Diele nicht eventuell ein großer Bernhardiner lauern würde, würde er die Treppe hinuntertänzeln. So ist er etwas in seinem Schritt gehemmt, flötet aber ein präventives "Bernhard! Beeernhaaard!" die Treppe hinunter und macht uns beiden damit den Weg frei. Frau Kohn steht in der Küche und putzt gerade die Fliesen hinter der Herdplatte. Ihr Mann wollte ihr beim Herstellen von Erdbeermarmelade helfen, zog nur leider den noch rotierenden  Pürrierstab zu früh aus dem Erdbeermus. Das Ergebnis kann man sich ausmalen.


Nach einem gepflegten Frühstücks-Smalltalk, bei dem hauptsächlich Frau Kohn spricht, machen wir uns auf den Weg nach Zarrentin. Schnurgerade geht es durch Getreidefelder auf einen Kiefernforst zu, der kaum näher kommen will. Die Natur hat Erbarmen und schickt etwas Abwechslung: Hasen stürmen schonmal auf dem Weg vor uns her und Rehe springen durchs Getreide. Das Wetter ist für diese Strecke genau richtig. Wo kein Baum steht, gibt es bei Sonnenschein keinen Schatten und bei Regen und Sturm keinen Schutz. Also sind wir zufrieden mit dem bedeckten Himmel und der Windstille. Wir sind ja so genügsam.


Nach dem schnurgeraden Stück durch die Feldflur schließt sich ein doppelt so langes schnurgerades Stück durch den Kiefernforst an. Außer Kiefern gibt es auch hier das ein oder andere Reh, das wir erspähen, das wäre es aber auch mit der Abwechslung. Es sei denn, man zählt das langsame Anschwellen der Geräuschkulisse von der Autobahn Hamburg - Berlin mit dazu, dann wird es schon interessanter. Von der Brücke aus, die die Autobahn überspannt, sehen wir links die Raststätte Gudow liegen. Da klar ist, dass es bis Zarrentin keine andere Rastmöglichkeit gibt, machen wir einen kleinen Umweg und laufen "durch die Hintertür" die Raststätte an. Eine bequeme Sitzgelegenheit und ein Kaffee sollen es dann doch sein.


An parkenden LKW vorbei erreichen wir die Raststätte mit der Überschrift "Burger King", dabei denke ich, hier müsse "Gudow" drüberstehen, aber so ändert sich eben alles. Der Clubsessel im Restaurantbereich ist sehr bequem, die Preise machen mich fast wütend. So bleibt es tatsächlich beim Kaffee, obwohl die Verlockung, auch anderes zu verkonsumieren, relativ groß ist. Außerdem kostet ein Toilettengang 70 Cent, das hätte ich draußen auch preiswerter haben können. Nach einer halben Stunde sind wir wieder auf der Piste.


Jenseits der Raststättenanlage queren wir wieder die Grenze, raus aus Schleswig-Holstein, rein nach Mecklenburg-Vorpommern. Eigentlich müssten wir jetzt für einen Kilometer einen Kolonnenweg gehen, aber den gibt es nicht mehr, aufgehoben. Wo sind jetzt wohl seine Platten geblieben? Zu Schotter verarbeitet, irgendwo wiederverwertet? Mich interessiert das wirklich. Wo ist der ganze Kram hin? Natur und Kulturland sehen "im Osten" mittlerweile nicht mehr wesentlich anders aus als "im Westen", aber den Dörfern sieht man ihre DDR-Vergangenheit irgendwo immer noch an. Valluhn und Schadeland sind solche Dörfer. Zu lange lagen sie hier in Grenznähe im Abseits. Es wird wohl noch eine Zeit lang dauern, bis auch diese Narben unkenntlich geworden sind. 


Auf den letzten Kilometer fällt mir auf, dass die Landschaft sich verändert. Vorbei ist es mit dem platten Land. Aus leichten Wellen werden Hügel, die letzten Kilometer des Weges schwingen sich auf und ab und Wolfgang sieht gewisse Parallelen zu den Elbbergen hinter Boizenburg. Das ist natürlich maßlos übertrieben, aber im Ansatz nicht falsch. Doch Wolfgang ist motiviert: Nach Zieleinlauf in Zarrentin ist für ihn die dreitägige Wandererfahrung Teil 2 beendet und ursprünglich war die Rückfahrt mit dem Bus von Zarrentin zu seinem Wagen nach Boizenburg für nach 17 Uhr angedacht. Ein zufälliger Blick aber auf einen Fahrplan an der Bushaltestelle von Valluhn, durch das der Bus ebenfalls fahren wird, hat gezeigt, dass bereits um 14.00 Uhr sich ein früherer Bus auf den Weg gen Boizenburg machen wird. Also schreitet er beflügelt voran, das müsste doch zu schaffen sein.


Mit der Uhr im Auge, aber letztlich ohne Stress, kommen wir tatsächlich frühzeitig genug in Zarrentin an. Sogar so frühzeitig, dass wir noch fürstlich speisen können. Seit Lauenburg schlummert in Wolfgangs Rucksack noch ein Rest Sauerfleisch vom abendlichen Essen. Zusammen mit den zwei Brötchen, die er sich gestern zusätzlich zum Bier in Büchen gekauft hat, ergibt dies eine hervorragende Abschiedsmahlzeit für zwei Personen. Nicht weit weg von der Bushaltestelle hocken wir uns auf eine Vorgartenmauer und verdrücken diese Reste mit Genuss.


Zwanzig Minuten später biegt der Bus um die Ecke. Drei schöne gemeinsame Tage mit 60 zusammen zurückgelegten Kilometern liegen hinter uns. Wolfgang steigt in den Bus, ein letztes Winken, die Bustüren schließen sich. Wenn du dich nochmal motivieren kannst, mich irgendwann mal ein Stück zu begleiten, Wolfgang, immer wieder gerne! Für die gute Laune unterwegs bist du immer eine Bereicherung.


Eine Woche noch habe ich jetzt wieder alleine vor mir. Dann war es das!


Meine Unterkunft in Zarrentin liegt keine hundert Meter von der Bushaltestelle entfernt. Eine Gaststätte mit drei Zimmern, die hauptsächlich "Monteurzimmer" sind. Das Zimmer ist ok, obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, ob meine Nase nicht doch leichten Zigarettenduft in den Gardinen wahrnimmt. Abends verblüfft mich, dass die anderen Zimmergäste, wohl alles Monteur-Stammkundschaft, direkt durch die Küche den Gastraum betreten. Als ich dann zu meinem Bedauern feststellen muss, dass auch noch kräftig geraucht wird, ist mir schnell klar, dass hier andere Gesetze herrschen. Dafür ist mein Schnitzel auf Toast gefällig groß, keine Fingerhutportion, sondern tellerdeckend. Man kann eben nicht alles haben ...


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Bitte eine Bank!

Lauenburg - Langenlehsten (25 km)


Man muss es einfach sagen: Die Jugendherberge "Zündholzfabrik" in Lauenburg ist einfach eine Top-Adresse: ihre Lage unmittelbar am Rand der Altstadt und am Ufer der Elbe, die schönen Zimmer mit Elbblick, die gemütliche Bar mit angeschlossener Bibliothek und heute Morgen dann das Frühstücksbuffet im freundlich hellen Speiseraum, ebenfalls mit Blick auf die friedlich dahinfließende Elbe. Und die Zeiten, als man noch selbst spülen musste, sind sowieso längst vorbei.


In Anbetracht der heutigen Etappenlänge verschaffen wir uns nach Verlassen der Jugendherberge etwas Erleichterung. Wir durchqueren nicht nochmal, wie bereits gestern, die gesamte Altstadt bis zur Brücke am Elbe-Lübeck-Kanal zu Fuß und verschwenden auf dem sperrigen Kopfsteinpflaster unsere Zeit, sondern nehmen den Bus.


Unmittelbar vor der Kanalbrücke verlassen wir ihn wieder und biegen direkt danach mit einem kräftigen Schwung nach Norden auf meine Zielgerade ein. Eine denkbar lange Zielgerade von etwa 160 Kilometern, aber auch eine unglaublich kurze, betrachtet man die Strecke, die hinter mir liegt. Das Wetter sieht nicht gerade nach einem Sommertag aus, tief hängen die Wolken, als wollten sie sich bald über uns ausschütten, aber noch geben sie Ruhe. 


Ruhe herrscht auch am Elbe-Lübeck-Kanal, dem wir uns auf einem breiten Weg nähern. Bei seiner Einweihung durch Kaiser Wilhelm 1896 war er noch ein hochmoderner Kanal. Immerhin können hier Schiffe von 80 m Länge verkehren, aber für einen wirtschaftlichen Containertransport, wie er heute üblich ist, reicht es nicht mehr. Bis auf kleinere Lastkähne tut sich hier nicht viel. Wolfgang und ich sehen nicht einen einzigen. 


Bei Dalldorf verlassen wir den Kanal und steuern auf einer kleinen Landstraße auf Zweedorf zu. Nach 500 m überqueren wir die durch die Niederung mäandrierende Delvenau, die für einige Kilometer die Grenze darstellte. Ich schaue mich nach dem Kolonnenweg um, auf den wir hier treffen müssten, aber Fehlanzeige. Wenn es ihn noch gibt, dann ist er total zugewachsen. Außerdem ist es mittlerweile passiert: Es hat angefangen zu regnen. Jetzt durch hohes Gras und wir wären bis zu den Knien total durchnässt. Ein Blick auf die Karte. Kein Problem, wir bleiben auf dem Sträßchen, gehen über Zweedorf und Schwanheide, verlassen damit zwar deutlich das Grüne Band, behalten aber trockene Füße und Hosen. Außerdem könnten wir mal eine Bank vertragen, es wäre Pausenzeit.


In Zweedorf kommt schonmal keine Bank. Und nur mit einer Bank wäre es jetzt auch nicht getan. Sie müsste schon überdacht sein. Banksitzen im Regen ist nur suboptimal. Zweedorf hat zwar ein Buswartehäuschen, aber die Bank, die dort montiert war, hat ein böser Mensch auch wieder abmontiert. Also weiter! Kurz vor Schwanheide zweigt ein Weg zurück zum Grünen Band ab. Ich bin unsicher, ob wir den nehmen sollen. Wenn wir dort auf einen immer noch zugewachsenen Kolonnenweg stoßen, haben wir den Salat. Außerdem finden wir dort bestimmt keine Bank, geschweige denn eine trockene in einem Buswartehäuschen. Also weiter auf der Straße! 


Sie ist lang und gerade - und Wolfgangs Schritt wird spürbar langsamer. In Schwanheide, einem größeren Ort, die Hoffnung auf eine trockene Bank. Aber zunächst wieder nichts! Der Regen wird ergiebiger. Am Bahnhof sind wir sicher: An einer Art kleinem Busbahnhof steht ein Holzbauwerk. Das MUSS ein Buswartehäuschen MIT Bank sein. Wir kommen näher und es ist - ein Buswartehäuschen OHNE Bank. Wolfgang freut sich so gar nicht und sucht Schuldige für unser Unglück. Bänke gar nicht erst montiert wegen marodierender Jugendlicher, die sowieso auch schon die Wände beschmiert haben? Kann sein, muss nicht sein. Hilft nix, weiter! Inzwischen sind wir mehr als drei Stunden unterwegs.


Die Straße von Schwanheide in Richtung Langenlehsten geht durch einen Kiefernforst und ist noch länger und noch gerader. Wolfgang vermutet, dass "in 50 Kilometern" kein Ort kommt - und natürlich auch keine Bank. So ganz Recht hat er nicht, aber es zieht sich schon gewaltig. Zumal es keine schön glatt asphaltierte Straße ist, sondern mal wieder ein holpriges Pflaster. Nur gut, dass es links und rechts davon einen glatten Randstreifen gibt, auf dem mein Wheelie rollt. Am besten laufen wir uns in Trance, fahren alle Empfindungen runter, nehmen die Nässe, wie sie kommt, vermeiden jeden Gedanken, lassen die Umwelt verschwimmen und gehen einfach geradeaus. Aber das hebt die Stimmung nicht wirklich. So ziehen wir denn dahin, mäkeln genüsslich über die hiesige Ruhebanksituation und lassen den Regen unwidersprochen auf uns herabrinnen. 


Trotz all dieser Widrigkeiten muss ich aber auch an das Drama denken, was sich nicht weit von hier am 1. Mai 1976 ereignete: Der erst17-jährige systemkritische Michael Gartenschläger war 1961 von der DDR wegen "Propaganda" und "Hetze" zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt, jedoch nach zehn Jahren von der Bundesrepublik freigekauft worden. Unbeirrt in seinem Bemühen, die menschenverachtenden Praktiken der DDR-Führung zu entlarven, hatte er dann vom Westen aus Fluchthilfe betrieben. Im Frühjahr 1976 baute er am Grenzzaun nördlich von Boizenburg zwei Selbstschussanlagen ab, deren Existenz die DDR immer geleugnet hatte. Er legte sie dem SPIEGEL zur Berichterstattung vor, die Stasi, vor allem ihr Chef Erich Mielke, tobte.


In der Nacht zum 1. Mai 1976 machte sich Gartenschläger erneut am Grenzknick zwischen Böthen und Leistenförde zu schaffen, um eine dritte Selbstschussanlage abzubauen. Doch in dieser Nacht lagen Männer einer geheimen Eingreiftruppe der Stasi auf der Lauer, um ihn, den "Provokateur und Staatsfeind" zu liquidieren. Michael Gartenschläger wurde erschossen und als "unbekannte Wasserleiche" beerdigt. Der Knick in der Grenze, nur ein paar hundert Meter von der Straße entfernt, auf der Wolfgang und ich uns gerade entlangmühen, heißt im Gedenken an das Opfer noch heute Gartenschlägereck. Auch wenn ich jetzt nicht am Gedenkkreuz stehe, geht mir diese Geschichte doch wieder nahe. Sie ist wieder kaum fassbar, aber auch nicht auszublenden. So war es jedesmal an solchen Orten, und so ist es jetzt wieder. Es dauert seine Zeit.


Tatsächlich tauchen irgendwann mal Häuser auf, nicht mehr als drei oder vier: Leistenförde. Immer noch Regen, keine Bank, wir sind vier Stunden auf den Füßen. Vor dem Zaun eines Hauses dann eine große Kiste mit Deckel. Auf dem Deckel steht das Wasser, doch Wolfgang WILL JETZT SITZEN. Wir sind gerade dabei, mein Sitzkissen aus meinem Rucksack zu zerren, als sich bei dem Haus die Tür öffnet. "Kann ich Ihnen helfen?", ruft eine Frauenstimme zu uns herüber. Ich registriere neben der Tür unter dem Hausvordach eine Bank und versuche es mit der Jammernummer: "Wir gehen jetzt schon über vier Stunden ohne Pause und finden einfach keine trockene Bank. Jetzt wollen wir uns hier auf die nasse Kiste setzen." Es funktioniert. "Kommen Sie, Sie können sich auch hier auf die Bank setzen." Bingo! Das ist Musik in unseren Ohren! Eine trockene Bank unter einem Vordach mit Sitzkissen. Als dann nach kurzer Zeit sogar noch Kaffee gereicht wird, sind wir mit unserem Schicksal wieder versöhnt.


Nach einer halben Stunde gemütlicher Rast machen wir uns an die letzten vier Restkilometer. Der Regen hat aufgehört, es klart sogar auf. Zaghaft bilden sich Löcher in der Wolkendecke und ab und zu kommt die Sonne durch. Je näher wir Langenlehsten kommen, desto langsamer wird Wolfgang. Er hat genug für heute, wir müssen ankommen. Noch nie hat er solch eine Strecke zu Fuß zurückgelegt, aber die letzten Meter werden jetzt bitter. 


Dann kommt das, was in solchen Situationen oft vorkommt. Langenlehsten ist ein langgezogenes Straßendorf. Die Pension liegt an der Dorfstraße Nummer 22. Nummer 2 ... 6 ... 10 ... 14a ... 14b ... 14c ... das darf doch jetzt nicht wahr sein! ... 16 ... 18a ... 18b ...neiiiin!!! ...20 ...22 ... endlich! Die Unterkunft liegt am Ende des Dorfes. Das letzte Haus! Wolfgang wirft sich auf die Bank neben der Haustür, ich drücke die Klingel. Frau Kohn, die Pensionswirtin, öffnet und schaut irritiert. "Haben Sie gebucht?" Jetzt wird aber der  Hund in der Pfanne verrückt. Dann scheint es der lieben Frau zu dämmern. "Ich glaube, ich habe mich um eine Woche vertan. Aber keine Angst, ich habe ein Zimmer frei. Ich muss nur noch die Betten beziehen." Erleichterung! 


Jetzt muss noch die Verpflegungssituation geklärt werden. Wolfgang hat zwar noch Sauerfleisch vom Abendessen in Lauenburg im Rucksack, aber dazu brauchen wir wenigstens noch Brot. Wir bitten Frau Kohn darum und erhalten sogar ersatzweise eine Packung Kartoffelsalat. "Haben Sie denn auch etwas Bier da?", folgt Wolfgangs hoffnungsvolle Frage. Als Frau Kohn aus ihren letzten Beständen zwei kleine Flaschen hervorkramt, wird das Gesicht von Wolfgang sichtlich länger. Doch dann fügt sich mal wieder alles. Ein nettes Ehepaar, als Dauergast vorübergehend bei Kohns einquartiert, spendiert uns zum Kartoffelsalat jeweils zwei Bratwürste, die man uns sogar noch brät, und als der Mann des Paares sich noch bereiterklärt, mit Wolfgang ins zehn Kilometer entfernte Büchen zu fahren, um ein wenig Flüssignahrung zu besorgen, ist für Wolfgang die Welt wieder absolut in Ordnung. Sein härtester Wandertag hat ein glückliches Ende gefunden.


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Wandermotiv: Grenz-Nostalgie

Boizenburg - Lauenburg (15 km)


Wenn ein Freund zu Besuch ist, es viel zu erzählen gibt und in der Bar der Jugendherberge (!) von Lauenburg ein leckeres Bier gezapft wird, dann bleibt keine Zeit zum Bloggen. Meine Beiträge für die Zeit während Wolfgangs Anwesenheit kommen also etwas zeitversetzt.


Einen Frühstücksraum gibt es in der "Pension am Hafen" in Boizenburg nicht, dafür aber "Zimmerservice". Das Tablett, das uns unser Pensionswirt aufs Zimmer bringt, ist reich gefüllt, draußen lacht mal wieder die  Sonne - der Tag fängt gut an. Um 9 Uhr startet für Wolfgang - nach den drei Tagen auf dem Mauerweg in Berlin - der zweite Teil der Selbstprüfung nach dem Motto "Mal sehen, ob ich das schaffe. Wenn es keinen Spaß macht, verliere ich aber vielleicht ein paar Kilo Bauchspeck". Nein, Spaß beiseite, eine große Motivation für ihn, gerade hier nach Boizenburg zu kommen und ein Stück mit mir zu gehen, hat etwas mit Nostalgie zu tun. Mehr als dreißig Jahre lang hat er den deutsch-deutschen Grenzübergang bei Lauenburg/Boizenburg genutzt, nutzen müssen, um nach Siedenbollentin, einem kleinen Ort im tiefsten Meck-Pomm-Land zu gelangen, wo verwandschaftliche Wurzeln von ihm liegen und er seit seiner Kindheit Ferientage verbracht hat. Er will diesen Grenzübergang nochmal sehen, schauen, was von ihm noch übrig ist, sich erinnern, wie das damals war bei den entwürdigenden Kontrollen. Verbunden mit einer einfachen Strecke durch flaches Gelände stellt er sich diese drei Tage als eine schöne Abwechslung vom Alltagsleben im Ruhrgebiet vor. 


Direkt hinter der Pension geht es für ein paar hundert Meter am Hafengelände mit den alten Werftanlagen vorbei. Schiffsbau war einst hier angesagt, besonders für den "großen Bruder" Sowjetunion wurden Fahrgastschiffe gebaut. Im Hafen landeten aber auch Frachtschiffe mit Unmengen an hochwertigem Ton an, der von dort mit einer etwas mehr als zwei Kilometer langen Güterbahn an den östlichen Stadtrand zur Fliesenbabrik gebracht wurde. Boizenburg war die "Stadt der Fliesen", mit einem traditionsreichen Werk, das zu DDR-Zeiten halb Europa mit Keramikfliesen versorgte, vor allem den westlichen Teil, sodass es für die eigene Bevölkerung nicht reichte. Boizenburger Fliesen erster Wahl aufzutreiben, war für Normalbürger ungefähr so kompliziert, wie einen fabrikneuen Trabi vor Ablauf der üblichen Wartezeit zu ergattern, und das waren zwölf bis 14 Jahre.


Hinter Boizenburg marschieren wir anhaltend die Straße bergauf. Jawohl, bergauf! Es geht die Elbberge hoch. Ich war darauf vorbereitet, Wolfgang so gar nicht. Er ging von einer flachen Strecke an der Elbe entlang aus, so wie ich sie während der letzten Tage genießen konnte. Stattdessen wird es "bergig". Als wir an der Straße entlang die Höhe erreichen, sehen wir ein Bauwerk vor uns, das wie ein ehemaliger kleiner, abgebrochener Beobachtungsturm der Grenztruppen aussieht. "Checkpoint Harry" steht drauf. Gegenüber am Straßenrand ein ehemaliges Kontrollgebäude, Fenster vergittert. Neben dem Schild "Checkpoint Harry" der Zusatz "Restaurant", Werbung lockt mit Radeberger Bier. Hier war bis 1989 der "Vorgrenzposten Vier" zur Abfertigung Reisender von und nach Boizenburg. 


In Vier zweigen wir von der Straße ab und gehen wieder Richtung Elbe. Nur die liegt inzwischen tief unter uns. Vom "Elwkieker", einem hölzernen Aussichtsturm, der heute am Standort eines ehemaligen Wachturms am Steilabfall zur Elbe steht, schauen wir auf den Fluss hinab. Ich sehe einen großen Abschnitt meiner Strecke von gestern dort unten liegen, die Deiche links und rechts der ausladenden Elbe, die Marschwiesen, die Häuser von Gothmann und ganz weit hinten die von Stiepelse, ganz viel Niedersachsen, ein wenig Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein.


Dann geht es los! Wie auf einer Achterbahn verläuft unser Waldpfad durch die Elbberge. Hinunter geht es in kleine Schluchten und Siefen, um direkt auf der anderen Seite wieder ordentlich steil bergauf zu gehen. Ich selbst bin überrascht von der Berg- und Talfahrt und fühle mich an beste Kolonnenwegzeiten im südlicheren Teil des Grünen Bandes erinnert. Wolfgang stöhnt, schnauft und schwitzt und wähnt sich im falschen Film. "Ich dachte, hier an der Elbe entlang wäre alles flach. Was ist das denn jetzt? Das macht ja überhaupt keinen Spaß, hier bergab zu laufen, weil es danach sowieso wieder bergauf geht ...!" Er schimpft wie ein Rohrspatz und ich amüsiere mich köstlich. Doch der Schweiß fließt mir genauso wie ihm.


Direkt neben dem Pfad tauchen auf einmal alte Betonpfosten auf, traurige Reste des alten Grenzsignalzauns, der sich hier durch den Wald zog, genauso wie unser Pfad jeder Schlucht und jedem Siefen folgend. Was muss das für die Bautrupps damal eine Schinderei gewesen sein, hier diesen Zaun zu errichten ...


Irgendwann hat die Achterbahnfahrt ein Ende und wir treffen auf ein Stück Kolonnenweg, der uns stetig bergab wieder an die B 5 bringt. Wir haben die Elbberge geschafft und sind wieder auf Höhe der Elbe. Der Straße entlang folgen wir für einen Kilometer einem neu asphaltierten Radweg - und Wolfgang fällt sofort auf: "Genau hier liefen damals immer die Hunde her und links und rechts der Straße war der Zaun."


Wir kommen an die Stelle, wo die B 5 an dem kleinen Ort Horst vorbeiführt. Hier lag der Hauptgrenzdurchgang zwischen Lauenburg (West) und Boizenburg (Ost). Zunächst war er von der Roten Armee bewacht, ab Mai 1952 hatten ihn ostdeutsche Grenzpolizisten übernommen. Danach wurde Schlag auf Schlag die Grenze dichtgemacht, ein Abfertigungsgebäude entstand, der Horster Damm, heute gleichbedeutend mit der Straße bis Boizenburg, wurde beidseitig eingezäunt, Hundelaufanlagen wurden installiert. Bis auf eine große geteerte Fläche ist vom ehemaligen Abfertigungsgelände nichts mehr zu erkennen, doch ich denke, es reicht, Wolfgang noch den einen oder anderen Schauer über den Rücken zu treiben. Wie oft hat er hier mit Teilen seiner Familie im Auto gesessen und war den Schikanen der Grenzer ausgesetzt. Er ist der Meinung, dass man nach der Wende mehr von dieser Anlage hätte zur Erinnerung und Mahnung erhalten sollen. Etwas abseits der Straße steht nur noch die renovierte ehemalige Wohnanlage der Grenztruppen und Stasimitarbeiter von einem hohen Zaun umgeben im Kiefernwald. Heute dient sie als Asylbewerberheim.


Hinter Horst geht es endlich nochmal wieder auf einen Deich, für Wolfgang zum ersten, für mich zum letzten Mal während meiner Tage an der Elbe. Bald schon sehen wir die ersten Gebäude von Lauenburg vor uns, eine große Werfthalle, die große Auto- und Eisenbahnbrücke über die Elbe, eine kleinere über den Elbe-Lübeck-Kanal. Und schneller als gedacht sind wir in der Altstadt unten am Elbufer. Eine enge Straße mit grobem Pflaster, kleine und große Fachwerk-Backsteinhäuser, gepflegt, urig. 


Handel hatte immer Wohlstand in das Elbestädtchen gebracht. Dabei spielte der Salzhandel eine bedeutende Rolle, besonders nachdem die Alte Salzstraße als Haupthandelsroute durch den Elbe-Lübeck-Kanal abgelöst wurde. Doch dann kam die "Zonengrenze" und mit ihr wurden alte menschliche und wirtschaftliche Verbindungen gekappt und die Region Lauenburg bis zum Mauerfall ins wirtschaftliche Abseits geschoben. Lange Zeit war man im toten Winkel der Elbe. Schlecht fürs Geschäft, es fehlte das Hinterland. Dann ging die Grenze auf, alles boomte, expandierte. Doch nach und nach bekamen die Mecklenburger ihre eigenen modernen Läden, und man versank wieder in den Dornröschenschlaf. Bis zur Grenzöffnung bekam man wenigstens Zuschüsse im Rahmen der Zonenrandförderung. Damit war jetzt Schluss. Jetzt setzt man stark auf touristisches Potenzial.


Einiges an Menschen sitzt in den Gastronomien oder spaziert fotografierend durch die enge Elbstraße. Ausflugsschiffe liegen am kleinen Kai und verlassen es Richtung Hitzacker oder Hamburg. Wolfgang und ich lassen uns ebenfalls durch die Altstadt treiben und stehen irgendwann vor der neuen Jugendherberge "Zündholzfabrik", unmittelbar am Elbufer. Gebucht habe ich nur leider in der alten Jugendherberge "Am Sportplatz", etwas außerhalb der Stadt. Wir haben keine Lust mehr, den Weg bis dorthin zu Fuß zurückzulegen und fragen in der "Zündholzfabrik" nach Möglichkeiten, eventuell mit einem Bus dorthin zu gelangen. Doch ganz unerwartet ergibt sich eine viel bessere Alternative. Da beide Jugendherberge über dieselbe Geschäftsführung laufen und hier noch Zimmer frei sind, bucht die nette Dame an der Rezeption um und wir sind unerwartet bereits am Ziel - in einer modernen Jugendherberge, in schönen Zimmern und abends in einer gemütlichen Bar bei einem leckeren Bier. 


Und draußen, an der Herberge vorbei, fließt die Elbe, Hamburg entgegen.


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Der Elbe mehr Raum

Stiepelse - Boizenburg (15 km)


Beim Frühstück sitze ich mit einem Mann zusammen, der noch was vor sich hat. Er ist vor ein paar Tagen mit dem Zug von Freiburg nach Flensburg gefahren und ist jetzt auf dem Weg mit dem Fahrrad zurück. Dazu nimmt er nicht unbedingt die direkteste Linie, sonst wäre er nicht jetzt in Stiepelse. Im Prinzip folgt er dem Grenzverlauf der ehemaligen innerdeutschen Grenze bis auf die Höhe von Fulda, ohne aber unmittelbar am Grünen Band entlangzufahren. Ab Fulda schwenkt er dann Richtung Südwesten auf seine Heimatstadt zu und will auf seinem Weg viele Flusstäler nutzen. 


Vor mir liegen erstmal noch zwei Tage Elbe. Weiterhin ist es der Elberadweg, weiterhin sind es die Deiche, die meinen Weg bestimmen. Wirklich endlos liegen nach Norden hin die Marschwiesen, und wenn ich dort Bäume sehe, dann sind es diejenigen entlang der Straße, die sich in einiger Entfernung zum Deich parallel entlangzieht, die Deutsche Storchenstraße. 


Selbst menschliche Besiedlungen gibt es heute am Deich kaum. Nur Neu-Bleckede kommt bald hinter Stiepelse und das sind nur wenige Häuser. Und doch bleibe ich einen Moment stehen. Drüben, am anderen Elbufer liegt Bleckede, ein Städtchen, mindestens so groß wie Hitzacker. Neu-Bleckede ist praktisch nichts anderes als die Fähranlegestelle am gegenüberliegenden Ufer. Doch mehr als 45 Jahre setzte diese Fähre nicht mehr über. Jetzt kommt sie gerade wieder mit drei Autos an Bord über den Fluss geschippert. Dafür aber hatte Neu-Bleckede über Jahrzehnte einen Führungsturm, direkt am Deich, direkt an der Stelle, wo es zur Anlegestelle runter geht und von wo aus gleich die Autos hochgefahren kommen, um weiter in die Marschen zu fahren. Was würden dazu die Grenzer sagen, die dort oben auf der Beobachtungskanzel einst ihren "Dienst am Sozialismus" getan haben? Kaum zu begreifen auch, dass dieser Turm nur wenige Meter entfernt von den Häusern am Deich steht. Was musste das für ein Gefühl gewesen sein, unter ständiger Beobachtung zu leben. Mit ihren Ferngläsern konnten die Grenzposten in die Fenster hineinsehen. War es erlaubt, diese immer mit einem Vorhang gegen Einblicke zu schützen? Wie hat man im Garten gearbeitet, wenn man sicher sein konnte, dass jeder Handgriff beobachtet wurde?


Der nächste Deichabschnitt ist noch neuer, als die der letzten drei Tage. Unter dem Eindruck des Jahrhunderthochwassers von 2002, aber auch von Hochwasserständen in den folgenden Jahren, wurden hier ebenfalls unter dem Motto "Der Elbe mehr Raum" die Deiche bis zu 250 m rückverlegt und gleichzeitig erhöht und verstärkt. Eine existentiell wichtige Investition in die Zukunft, denn der Klimawandel ist nicht aufzuhalten. Diese neuen Deiche haben für den Radwanderer (und dadurch natürlich auch für den Wanderer) zwei Auswirkungen. Entweder verläuft der Radweg oben auf der Deichkrone auf wunderbar platter Platte oder er führt "landeinwärts", am Fuße des Deichs, entlang. Warum er nicht durchgehend auf der Krone verläuft, hat sich mir noch nicht so ganz erschlossen. Denn den "Deichverteidigungsweg" unten entlang gibt es sowieso immer. Ich denke mal, man hat sich was dabei gedacht.


Wieder erfreut mich die Tierwelt: Der Hase hoppelt, die Störche schweben heran und lassen sich auf den Wiesen nieder, in Eintracht mit ihren Gevattern, den Reihern, Wildgänseformationen kommen laut schreiend angerauscht und landen wie die Wasserskifahrer auf den im Deichvorland neu geschaffenen Flutrinnen, und Kuhherden liegen träge widerkäuend im Gras und dösen vor sich hin. Jedenfalls solange Radfahrer an ihnen vorbeiziehen. Wenn ich aber mit meinem Wheelie an ihnen vorbeirolle, stehen sie hektisch auf, laufen zusammen - und schauen mich unglaublich blöde an. Was habe ich an mir, das Radler nicht haben? Ist es die rote Farbe meines Anoraks oder die neongelbe meines Wheelie-Regenschutzes? Oder kennen Sie einfach nur die Spezies Mensch, die auf einem Rad mit den Füßen strampelnd an ihnen vorüberzieht? Teilweise verfolgen sie mich sogar etliche Meter und kommen anscheinend aus dem Staunen gar nicht mehr raus.


Kurz vor Gothmann komme ich wieder an eine Grenze, die es vor 25 Jahren so hier nicht gab. Für mich endet die Durchquerung des Amtes Neuhaus und damit des Stücks Niedersachsen und ich wechsel wieder nach Mecklenburg-Vorpommern. Genau dort, an der unmarkierten Grenze, steht ein hoher hölzerner Aussichtsturm. Natürlich klettere ich die Stufen hoch - und bin beeindruckt von dem, was ich sehe. Ungeheuer weit geht mein Blick: Ganz dahinten müsste Stiepelse sein, dazwischen der teils gradlinige, teils geschwungene neue Deich, auf dem ich entlangmarschiert bin, die Marschen, die Flutrinnen, eine Schafherde, die sich auf einer riesigen Marschwiese ausmacht wie ein heller Farbfleck auf grünem Grund und gar nicht mehr so weit, vor den Elbbergen, erkenne ich die blauen Kräne der alten Werft des Hafens von Boizenburg.


Eine Stunde später bin ich da. Am Stadtrand treffe ich auf einen Teich, dessen Zulauf Teil eines Wallgrabensystems ist, das die Altstadt umgibt. Unmittelbar darauf bin ich in der Altstadt, eine heimelige Atmosphäre aus Fachwerk, Backsteingemäuer und Kopfsteinpflaster. Das Rathaus steht frei auf einem großen gepflasterten Marktplatz, sein Fachwerk ist mit Backsteinen ausgemauert, unter den Arkaden der Vorderfront hängen die Waagschalen der Justitia. Im Hintergrund erhebt sich der Backsteinbau der dreischiffigen St.-Marien-Kirche.


Viel ist nicht los im Städtchen. Ab und zu rumpelt ein Auto über den Asphalt, ein älteres Ehepaar sitzt vor der Eisdiele am Marktplatz an einem kleinen Bistrotisch und ein Imker, der bis jetzt seinen Honig auf dem Marktplatz verkauft hat, verstaut gerade seinen Stand in seinem Autoanhänger. In wenigen Minuten habe ich die Altstadt durchkreuzt, erreiche den Hafen. Einst recht geschäftig, verlor er noch zu DDR-Zeiten an Bedeutung, ein Zustand, an dem auch die Wende nichts geändert hat. Nur noch Sportboote machen am Kai fest. 2001 wurde der Hafen aufwendig modernisiert, doch das Hafenbecken wirkt überdimensioniert und man hat den Eindruck als warte es darauf, zu neuem Leben erweckt zu werden.


Direkt am Hafen liegt auch meine kleine Pension. Hier warte ich auf Wolfgang, der irgendwann am Nachmittag auftauchen wird. Ich überbrücke die Zeit mit einem kleinen Schönheitsschlaf und kurz nach 17 Uhr steht er tatsächlich auf der Matte. Ich bin begeistert. Besuch von einem lieben Freund, es werden drei schöne Tage werden. Für mich. Wie Wolfgang als Ungeübter die kommenden Kilometer wegstecken wird, bleibt abzuwarten. Morgen geht es nur über 15 Kilometer bis nach Lauenburg, übermorgen aber sind es 26 Kilometer und das ist schon eine andere Hausnummer. Aber wir werden sehen, bangemachen gilt nicht!


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