Bruderkuss

Reichstag - Köllnische Heide (16 km)

 

Nachts wird es oft unvermittelt hell und ich glaube immer, die Nacht wäre schon rum. Aber nichts da, Dieter kann nach einer gewissen Tiefschlafphase nicht mehr weiter ratzen und nimmt sich seinen Sudoku-Block vor. Ihm widmet er sich dann für etwa 90 Minuten, bis ihm wieder die Augen zufallen und er sich nochmal für eine Weile rumdreht. Eigentlich könnte ich mir dann den Sudoku-Block vornehmen, aber dieser Denksport interessiert mich herzlich wenig. So schlummern wir denn beide vor uns hin, bis um 7.30 Uhr mein Handywecker losgeht.


Heute nehmen wir die Spur des Mauerwegs wieder dort auf, wo wir ihn gestern verlassen haben, am Reichstag. Wieder strahlt die Sonne, aber es ist mindestens 5°C kälter als gestern. Das soll mir sehr recht sein. Geht ein Windzug - und derer gehen viele - sind es auch gefühlte 10°C weniger. Nur wenige Schritte sind es vom Reichstag zum Brandenburger Tor. Ich war nun schon oft genug hier, trotzdem steigen diesmal meine Erinnerungen an die Tage des 9./10./11. November 1989 ganz besonders in mir auf. Als die Menschen von der Westseite her die Mauer, die sich in einem Halbbogen vor dem Tor entlangzog, erklommen, jubelten, andere emporzogen, zu ersten Spitzhacken griffen und auf die Mauerkrone eindroschen. Wie erste Hundertschaften der Grenztruppen von Ostberliner Seite aufzogen, Wasserwerfer einsetzten, irgendwann dann aber doch gewissermaßen ratlos abzogen. Wie in den folgenden Tagen die "Mauerspechte" aktiv wurden und letztendlich hier, wie auch an vielen anderen Stellen der Stadt, ganze Mauerabschnitte eingerissen wurden, neue Grenzübergänge entstanden und die Mauer schließlich (fast) vollkommen von der Bildfläche der Geschichte verschwand. Viel schneller, als man es je erwartet hatte.

Wo seinerzeit ein großes Besucherpodest unmittelbar an der Mauer vor dem Tor gestanden und Ronald Reagan seinen berühmten Satz "Mr. Gorbatschow, please tear down this wall" in die Mikros gerufen hat, überqueren wir die Straße und gehen weiter am Holocaust-Denkmal vorbei bis zum Potsdamer Platz.

Wer die Bilder sieht, wie dieser Platz nach den Zerstörungen im II. Weltkrieg vor knapp 25 Jahren noch ausgesehen hat, nämlich im westlichen Teil wie eine Steppenlandschaft, auf der auch schonmal größere Flohmärkte stattfanden, oder eben jenen breiten Todesstreifen auf östlicher Seite, den mutet es fast unmöglich an, wie in dieser doch relativ kurzen Zeit daraus ein fast futuristisch pulsierendes Wirtschafts- und Touristenzentrum geworden ist.

Ich habe gehört, dass in einem dieser Neubauriesen, dem Kollberghaus, der schnellste Aufzug Europas Interessierte in 20 Sekunden 90 m in die Höhe auf eine Aussichtsplattform mit Panoramablick über Berlin hochbringt. Das Wetter ist schön, die Aussicht müsste gewaltig sein, also gönnen wir uns trotz 6,50 € "Fahrkosten" das Vergnügen und lassen uns hoch katapultieren. Die Aussicht ist allerdings phänomenal - aber es ist auch saukalt. Dieter rennt einmal um den Panoramarundgang, schüttelt sich, stöhnt, fröstelt - und ist in einen geschützten Bereich verschwunden. Ich halte es ein paar Minuten länger aus und bin dann auch der Meinung, dass ich genug gesehen habe. Wir lassen uns wieder "runterplumpsen" und gehen weiter.

Die nächsten Stationen unseres Weges entlang der ehemaligen Mauer seien im folgenden nur in geraffter Form dargestellt, denn ich möchte keinen Touristenführer niederschreiben. Die Kopfsteinpflaster-Doppelreihe, die den Verlauf der Mauer entlang der innerstädtischen Straßen nachzeichnet und fast lückenlos ist, lässt uns oft fast schmunzeln. Das ist in weiten Teilen tatsächlich alles, was von diesem schändlichen Bauwerk übrig geblieben ist! An Straßenrändern entlang zieht sich diese Linie, kreuzt mal eine Straße, biegt mal rechtwinklig ab, mal in einer weit geschwungenen Kurve. Und doch sind entlang dieser jetzt so harmlos anmutenden Linie Menschen erschossen worden, sind verblutet, wurden Fluchttunnel gegraben, wurden Fluchthelfer oder Flüchtlinge von Stasi-Mitarbeitern verraten. Gedenktafeln weisen auf viele dieser schlimmen Geschehnisse hin, manchmal stecken noch frische oder auch vertrocknete Blumen an einigen Erinnerungsstelen oder Gedenkkreuzen. Doch viele dieser Stätten des Gedenkens übersieht man, wenn man nicht gezielt danach sucht. Sie sind von parkenden Autos zugestellt, von hirnlosem Graffiti überkritzelt oder verschwinden in einem Gebüsch. Der weitaus größte Teil des ehemaligen Todesstreifens ist mit neuen Häusern oder mit Straßen überbaut, doch manchmal erkennt man noch, wenn man es weiß, Reste des alten Grenzstreifens. Sie liegen teils als mit Unrat überzogenen oder mit jungen Birken bewachsenen Brachen neben dem Weg, teils führt der Weg aber auch mitten hindurch, wenn sie zu einer Parklandschaft gemacht wurden.

Wir sehen den berühmten Checkpoint Charlie, das Mahnmal für das Maueropfer Peter Fechter, das Hochhaus des Axel-Springer-Verlags, die ehemaligen Grenzübergangsstellen Heinrich-Heine-Straße und Oberbaumbrücke, das Engelbecken mit der Sankt Michaelkirche, das mit Bildern von über 100 Künstlern versehene Reststück der Mauer zwischen Schilling- und Oberbaumbrücke, die sog. "East Side Gallery" (u.a. mit dem berühmten "Bruderkuss" zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker), den Mauerabschnitt am Landwehrkanal, die Heidelberger Straße mit der größten Dichte an Fluchttunneln - und immer wieder die Gedenktafeln für die Maueropfer. Jedesmal stehe ich fassungslos davor.

Gegen Ende der heutigen Strecke marschieren wir im Bezirk Neukölln an einem riesigen Areal von Schrebergartenkolonien vorbei. Bei einer von ihnen, der "Kolonie Neuköllner Wiesen", bringen wir es nicht fertig, am Vereinsheim "Im Wiesengrund" vorbeizugehen, obwohl es bis zum Zielpunkt unserer Tagesetappe, dem S-Bahnhof "Köllnische Heide", gar nicht mehr weit ist. Wir haben Hunger und im Vereinsheim, das gleichzeitig auch eine kleine Gaststätte ist, gibt es echte Berliner Currywurst.

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