Brüllhusten

Rudow - Lichtenrade (12 km)
Lichtenrade - Zehlendorf (14 km)

Gestern habt Ihr nichts von mir gehört - ich hatte aber sehr wohl geschrieben. Nur, nach zwei Stunden lustvollen Schreibens genügte mal wieder eine ungeschickte Fingerbewegung von mir, das Aufgezeichnete irgendwo in den Untiefen meines Tablets verschwinden zu lassen, vielleicht habe ich es aber auch gelöscht. Mit einer gehörigen Portion Frust im Leib habe ich mir um 0.25 Uhr daraufhin die Bettdecke über den Kopf gezogen und bin in den Protestschlaf-Modus übergegangen. Wahrscheinlich lag alles aber auch an meinem durch einen gigantischen Husten geschwächten Körper.

Tatsächlich quälte mich bereits seit über 24 Stunden ein Brüllhusten vm Feinsten. Natürlich war das Wetter schuld! Na ja, ein ganz klein wenig wohl auch ich. Von morgens an schien zwar immer die Sonne vom blauen Himmel, aber die Temperaturen waren noch recht niedrig und der Wind - vor allem, wenn er auffrischte - echt biestig. Unter dem Anorak wurde es mir schnell zu warm, also lief ich im T-Shirt rum. Dann gab es aber auch mal einen Wegabschnitt im Schatten, Häuserzeilen, wo der Wind nur so durchfegte und Rasten, wo es sich doch eigentlich gar nicht lohnte, den Anorak wieder drüberzuziehen und - zack! - war es passiert. Leichter Husten steigerte sich zum Brüllhusten, flankiert von leichtem Fieber. Der Junge war nicht mehr in Höchstform. Christa zerrte mich in die Apotheke, lud mir Hustensaft, schleimlösende Kapseln "zum Abhusten bei chronischer oder akuter Bronchitis" und Lutschpastillen in den Rucksack und all das Zeugs führte ich mir von da an in den vorgeschriebenen Dosierungen zu. Eine erhoffte kurzfristige Besserung ist bisher noch nicht eingetreten, aber ich will auch nicht zu viel verlangen. Noch immer ergreifen Christa, Wolfgang und Dieter vor mir auf dem Weg die Flucht, wenn mir wieder mal ein Hustenanfall bald die Brust zerreißt oder die Berliner Menschen in den S- und U-Bahnen reißen erschrocken ihre Armbeugen vor den Mund, um der wahrscheinlichen Bazillenattacke rechtzeitig entgegenzutreten. 

Trotzdem waren wir gestern recht flott unterwegs. Ich konnte zwar immer gut husten, aber trotzdem auch ganz gut marschieren, Wolfgang tappte tapfer hinterher und freute sich über jeden Kilometer, den er geschafft hatte. Dieter lief allmählich zur Hochform auf, was man mittlerweile daran erkennen kann, dass er nicht müde wird, einen Witz nach dem anderen zu erzählen und Christa bewegte sich mit ihren wohl nicht viel mehr als 40 Kilogramm Lebendgewicht wie eine Gazelle auf dem Kolonnenweg.

Kennen wir den Kolonnenweg bisher nur als einen asphaltierten Streifen durch die West-Berliner Randbezirke, so war er gestern meist ein sehr angenehmer Pfad durch jungen Birkenwald. Und dennoch muss ich mir klarmachen, dass ich hier nicht einfach nur einen Waldspaziergang mache. Auch hier sind Menschen gestorben, abgeknallt von eigenen Landsleuten, nur weil sie sich unter einem menschlichen Sozialismus etwas anderes vorgestellt hatten oder einfach nur an den Annehmlichkeiten teilhaben wollten, die es ihrer Meinung nach "auf der anderen Seite" in Hülle und Fülle gab.

Zum Beispiel Herbert Kiebler, drei Jahre jünger als ich. Am 27.06.1975 wurde er hier erschossen. Wenige Wochen vor der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki war der DDR an negativen Schlagzeilen jedoch nicht gelegen. Deshalb wurde die Tat als Selbstmord mit einem Messer ausgegeben. Da Herbert Kiebler seiner Mutter einen Abschiedsbrief geschrieben hatte: "Auf Widersehen im Knast oder in Westdeutschland", wurde diese Version bezweifelt. Da den Angehörigen der letzte Blick auf den Toten verwehrt wurde, drangen sie heimlich in die Friedhofskapelle ein, öffneten den Sarg und entdeckten die Schusswunden.

Über mehrere Kilometer gingen wir hart an der Stadtkante entlang. Rechts von uns die Häuser der Stadtbezirke Rudow, Buckow und Lichtenrade, links weite, beackerte Flächen, wo der Bauer früher nur unter strenger Aufsicht der Grenzer mit dem Traktor seine Bahnen ziehen durfte. Über diese Felder hinweg sahen wir die Blocks der Satellitenstadt Gropiusstadt aufragen. In den 18.500 Wohnungen, die zu 90 % als Sozialwohnungen errichtet wurden, leben 50.000 (!) Menschen. Seit den 1980er-Jahren gilt die Gropiusstadt als sozialer Brennpunkt. Über Berlin hinaus bekannt geworden ist sie durch das verfilmte Buch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", dessen Protagonistin Christiane F. hier aufwuchs.

Nach knapp zwölf Kilometern waren wir schon an unserem Tagesziel, dem S-Bahnhof Lichtenrade. Gut für Dieters Füße, Wolfgangs Rücken und meinen geschwächten Gesamtkörper. Nur Christa hätte wohl noch stundenlang weiterlaufen können. In einem kleinen Café ganz in der Nähe des Bahnhofs gönnen wir uns zur Belohnung Buletten, Bockwürste, Kuchen und Kaffee, ganz nach dem jeweiligen Belieben, und fahren anschließend nach Hause.

Die Rekreationsphase war angenehm lang. Ich brauchte sie auch. Zwölf Kilometer sind eigentlich recht wenig, wenn man kränkelt können sie aber lang werden. Jedenfalls war ich heilfroh, als ich mich bei Christa sofort zwei Stunden lang flachlegen konnte. Und ich hätte mich nach Dieters selbstgekochten Spaghettis am liebsten sofort wieder hingelegt, dann aber schnappte sich Dieter Christas alte Gitarre, zog zwei neue Saiten auf und schruppte die alten Lieder runter. Ach ja..., wie in alte Zeiten!

Heute ist das Wetter weniger windig und auch wärmer als in den letzten Tagen, trotzdem behalte ich meinen Anorak an. Immer noch sind meine Hustenanfälle nicht unbedingt ein Ohrwurm. Der Weg heute unterscheidet sich nicht viel von dem gestrigen. Wieder geht es einige Kilometer auf schönen Pfaden durch den ehemaligen Grenzstreifen an der Stadtkante entlang, diesmal heißen die Bezirke nur Lichtenfelde, Marienfelde oder Teltow. Wieder sind es kleine Birkenwälder, Parkanlagen oder von Japanern gespendete Kirschbaumalleen, die nichts mehr von dem Schrecken vergangener Tage erkennen lassen. 

Bereits gestern, als wir mal kurzfristig den Mauerweg verlassen und ihn dann wieder suchen mussten, sprach die Antwort eines jungen Joggers auf Christas Frage "Wo ist denn hier der Mauerweg?" für uns Bände: "Weeß ick doch nich!" Ich glaube, viele der jungen Menschen, die am heutigen Sonntag hier mit ihren Hunden, als Pärchen oder auch alleine unterwegs sind, wissen gar nicht mehr, wo sie hier eigentlich sind. Aber ist das unbedingt schlecht? Sich erinnern im Grundsätzlichen ist bestimmt wichtig, aber muss dafür jeder Meter der ehemaligen Mauer ein Gedenkort sein? Ist es nicht auch ein gutes Gefühl, wenn heute, "nur" 26 Jahre nach dem Mauerfall, die Menschen diesen schlimmen Ort einfach "mit Füßen treten"? Kann es nicht auch eine gewisse Genugtuung sein, wenn Menschen sich an gleicher Stelle, wo früher Menschen starben, heute der Erholung hingeben, im Gras oder auf Bänken sitzen und picknicken, Mütter oder Omas Kinderwagen spazieren fahren oder junge Familien eine Radtour unternehmen? Honecker und Mielke werden sich im Grabe rumdrehen!

Für ein paar Kilometer ziehen wir wieder am Teltowkanal entlang, aber diesmal rauscht nicht genau neben uns, wie vorgestern, eine Autobahn. Nur Stelen zum Gedenken an Menschen, die ums Leben kamen, weil sie durch den Kanal in ein anderes Leben schwimmen wollten, gibt es auch hier.

Um 16 Uhr sind Dieter und ich wieder bei Christa und Wolfgang in seinem kleinen Hotel. Ich nehme mir meine Bettphase, die beiden anderen versuchen sie zu vermeiden, weil sie Sorge haben, sich in der Nacht nicht ausreichend ihrem Schönheitsschlaf widmen zu können. Als ich gerade, so gegen 23 Uhr, mal in Christas Wohnzimmer vorbeischaue, sitzt Dieter vor einem Glas Whiskey und dem laufenden Fernseher in dem gerade das Fußballspiel Schalke : Wolfsburg läuft - und schläft. Und das will was heißen!

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Kommentare: 4
  • #1

    Der Kronprinz (Montag, 20 April 2015 06:18)

    Gute Besserung!

  • #2

    Hildegard von Huppach (Montag, 20 April 2015 12:22)

    Gute Besserung weiterhin!
    Es freut mich, dass Dieter so gut durchhält!
    Hat Dieter Blasenpflaster dabei?

  • #3

    Peter und Lore (Montag, 20 April 2015 21:04)

    Lieber Reinhard,
    auch wir wünschen Dir gute Besserung.
    Und Du musst viiiiiiiiiiiiiiel trinken (Tee und sowas, nicht Whisky), sonst nutzt das ganze Zeug aus der Apotheke nicht viel.
    Lieben Gruß
    Peter und Lore

  • #4

    Die Pilgertochter (Mittwoch, 22 April 2015 10:38)

    Hahaaa!! Papa und viel trinken!!! Der war gut!!!