Geht's noch?

Kladow - Staaken (13 km)

Heute streiken mal wieder die Lokomotivführer. Für uns, die wir nahezu jeden Tag u .a. auch schon mal S-Bahnen der Hauptstadt benutzen, eigentlich eine schlechte Nachricht. Da aber glücklicherweise die Busse und U-Bahnen nicht von dem Ausstand betroffen sind und wir unseren heutigen Startpunkt in Kladow auch auf diese Art und Weise erreichen können, ficht uns das nicht sonderlich an. Selbst das Fahrgastaufkommen in den beiden verbleibenden öffentlichen Verkehrsmitteln bleibt unkritisch. Immerhin, die Anreise dauert mal wieder gut eine Stunde, mit dem Bus braucht es natürlich länger als mit S- oder U-Bahn, dafür sieht man mehr.

Allmählich allerdings freue ich mich auch darauf, dass bald diese tägliche Fahrerei aufhört. Zum einen kostet sie täglich bis zu zwei Stunden Zeit, die man auch wandern könnte, zum andern hat es einfach was, morgens aus der Tür zu kommen, sich nach links oder rechts zu wenden und einfach loszugehen. Oder am Nachmittag in ein Dorf oder eine kleine Stadt einzulaufen, die Straße der Unterkunft zu finden, anzuklingeln und da zu sein. Aber hier für Berlin war und ist immer noch die Lösung mit dem Aufenthalt bei Christa genau richtig, eine glückliche Fügung, für die ich sehr dankbar bin.

Um 10.30 Uhr setzen wir uns an der Bushaltestelle in Kladow wieder in Bewegung, heute ist Christa wieder mit dabei. Die Temperaturen sind gute fünf-sechs Grad niedriger als gestern, erstmals nach einigen Tagen zeigen sich mal wieder ein paar Wolken mehr am Himmel - Wanderwetter! Zehn Minuten später sind wir am Mauerweg, eine halbe Stunde später an der Südspitze des Groß Glienicker Sees.

Die ehemalige Grenze ging der Länge nach durch diesen See hindurch, die Grenzanlage mit Mauer und Kolonnenweg unmittelbar am Ufer entlang. Patrouillenboote der DDD-Grenzsoldaten fuhren damals den See auf und ab und beobachteten die Menschen aus West-Berlin, die auf der anderen Seite wegen des sauberen Seewassers gerne hier badeten. Wir gehen auf der Straße mit dem schönen Namen "Seeuferpromenade", die ihren Namen allerdings überhaupt nicht verdient. Den See und das Ufer sehen wir nur ab und zu mal zwischen den villenartigen Häusern hervorblitzen, die Straße mit diesem so verheißungsvollen Namen ist nichts anderes als eine Anwohnerstraße. Die eigentliche Seeuferpromenade verläuft hinter diesen Häusern, unten am See entlang, auf dem ehemaligen Kolonnenweg. Obwohl im Bebauungsplan der Stadt Potsdam sowohl das Ufer als auch der frühere Kolonnenweg als öffentliche Anlagen ausgewiesen sind, haben die Bewohner einiger dieser Villen den Uferweg gesperrt. Einige sind sogar noch weitergegangen und haben ihren Garten bzw. ihre Grünanlagen über den eigentlich öffentlichen Weg hinweg bis ans Ufer ausgebaut. Geht's noch??? Wer hat denn da die Hand aufgehalten? Sowas geht doch nicht ohne Genehmigung! Wird gegen diese Frechheit nicht geklagt?

Während ich mich noch aufrege, sehen wir Relikte der Mauer vor uns, kurz dahinter einen etwa hundert Meter langen Reststreifen des Streckmetall-Hinterlandzauns. Bei genauem Hinschauen entdecke ich Gemäuerreste, eine Ansammlung alter Gebäude, durchsetzt mit neueren Gebäudeteilen, eine Andeutung von einem früheren Garten oder Park. Ein Weg mit grobem Kopfsteinpflaster führt zu einem großen Torbogen, der den Weg auf eine verkehrsreiche Straße münden lässt. Wir sind am früheren Gutshof Groß Glienicke, einem ehemaligen Rittergut aus dem späteren Mittelalter, Sitz derer von Wollanks. Einst gab es hier sogar ein kleines Schloss und eine Orangerie. Beide brannten nach dem II. Weltkrieg ab, nach der Teilung wurde das Gut durch Grenzstreifen und Mauer vom Ort Groß Glienicke abgeschnitten, der östliche Teil des Parks "zur Grenzsicherung" bewusst zerstört, der westliche verfiel. Ein Stück Landkultur - weg, kaum noch zu erkennen, geopfert dem "antifaschistischen Schutzwall".

Kurz hinter dem ehemaligen Gutshof stoßen wir auf die Potsdamer Chaussee. An ihr entlang zog sich damals der Grenzstreifen und die Mauer, heute bildet sie die Grenze zum Land Brandenburg und auf ihr rollt der Verkehr zwischen Berlin und Potsdam. Kilometerlang zieht sie sich schnurgerade dahin und wir drei sind froh, als wir mal für kurze Zeit auf einen Weg durch die ehemaligen Rieselfelder rechts von uns ausweichen können. Diese Felder, mit ihren kleinen Kanalvorrichtungen und wallartig aufgeschütteten Umrandungen, erinnern mich ein wenig an die riesigen Reisfelder in der Poebene Italiens. Sie wurden Ende des 19. Jahrhunderts für die Abwasserverrieselung der schnell wachsenden Großstadt Charlottenburg angelegt. Die Abwässer wurden durch ein Leitungssystem zur Stadtgrenze bis auf diese Felder gepumpt und erst nach dem II. Weltkrieg schrittweise außer Betrieb genommen. Für uns eigentlich jetzt ganz gut, dass sie nicht mehr in Nutzung sind.

Bald erhebt sich vor uns ein - nach unseren topographischen Erfahrungen der letzten Tage - recht "stolzer" Berg: der Hahneberg. Er wurde in den 1960er und 1970er Jahren als Bauschuttdeponie errichtet und türmt sich jetzt auf immerhin 87 m über NN auf. Ab 1977 wurde er nach und nach zum heutigen Spandauer Naherholungsgebiet mit Rodelbahn umgestaltet. Der Mauerweg führt glücklicherweise nicht auf ihn hinauf, sondern um ihn herum, und wenig später sind wir im Berliner Ortsteil Staaken, den wir exakt bei der ehemaligen "Grenzübergangsstelle Staaken/Heerstraße" betreten.

Bevor wir in der Nähe der alten Dorfkirche von Staaken wieder in einen Bus steigen, möchten wir nochmal rasten, einen Kaffee trinken. Direkt gegenüber der Heerstraße beim alten Grenzübergang prangt ein großes REWE-Schild. Aus Erfahrung wissen wir: Da gibt es Tische, Stühle und Kaffee! Genauso ist es! Dieter holt sich ein Stück Puddingstreusel dazu, Christa und ich versuchen es mit Kirschtaschen. Der Versuch scheitert! Die Kirschtaschen schmecken einfach nur nach süß und keineswegs nach Kirschen. Außerdem sind überhaupt keine drin, nur eine Art roter Glibber. Christa und ich nehmen es mit Humor, zumindest der Kaffee ist gut. Zu unserer Erheiterung trägt noch die Schiebetür bei, neben der wir am Haupteingang sitzen. In Sekundenabständen geht sie auf-zu, auf-zu, und stoppt dabei immer haarscharf neben Dieters Kopf. Der lässt sich gar nicht weiter stören und kaut seelenruhig an seinem Puddingstreußel.

Am Abend läuft Dieter ein weiteres Mal zur Hochform auf. Er verarbeitet (endlich!) den von Wolfgang vor drei Tagen unterwegs gekauften Spargel zu einem überaus schmackhaften Gericht und verhilft uns so zu einem kurzen Moment des Gedenkens an unseren Kurzzeit-Begleiter, der jetzt wohl zu Hause in seinem Fernsehsessel sitzt und sich seine Wanderwunden leckt.

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Der Kronprinz (Donnerstag, 23 April 2015 17:26)

    Also, das Bild vom grenzzaun ist ja echt beängstigend...