Klein Erwin, der Schlingel!

Staaken - Heiligensee (22 km)

Heute steht uns die längste Wanderung auf dem Berliner Mauerweg bevor, außerdem ist wieder Streiktag bei der Bahn. Also sind wir gut beraten, mal etwas eher loszugehen als sonst. Wir stehen eine halbe Stunde eher auf, gehen aber eine ganze Stunde eher aus dem Haus, komisch. Auf der Strecke sind wir dann sogar ein-einhalb Stunden früher als gestern, das passt!

Auf dem Nennhauser Damm und anschließend dem Finkenkruger Weg folgen wir exakt dem ehemaligen Mauerverlauf und kommen schon nach wenigen Minuten an den Schauplatz einer besonders spektakulären Fluchtgeschichte. Wir queren die Hamburger Bahn, deren Regionalbahnhof Albrechtshof man entlang der Gleise erreichen könnte. Am 5. Dezember 1961, einen Tag nach seinem Geburtstag, glückte dem Lokführer Harry Deterling, der in seinem Betriebswerk Pankow als einziger die Jubelerklärung zum Mauerbau nicht unterschrieben hatte, die Flucht. Zusammen mit seinem Schwager - dem Heizer Hartmut Lichy - und 14 weiteren Familienmitgliedern steuerte er gegen 21 Uhr eine Dampflock mit acht Personenwagen von Oranienburg an und ohne in Albrechtshof einen vorgesehenen Halt einzulegen nach West-Berlin. Dabei durchbrach er die Absperrung am Finkenkruger Weg und kam erst auf Spandauer Gebiet zum Stehen. Im Zug saßen auch Soldaten und weitere Passagiere, von denen sich einige spontan mit zur Flucht entschlossen. Nur sieben von ihnen kehrten freiwillig zurück. Die DDR-Medien berichteten, es habe sich um einen "verbrecherischen Anschlag auf den Interzonenzug aus Hamburg" gehandelt. Diese Flucht ist Hintergrund eines deutschen Spielfilms mit dem Titel "Durchbruch Lok 234" aus dem Jahr 1963.

Auf dem Finkenkruger Weg gehen wir weiter Richtung Norden. Die schmale, von zwei Baumreihen begleitete Straße bildete von 1951 bis 1990 die Grenze zwischen West-Berlin und der DDR. Die Grenze war die Straßenmitte. Zu Mauerzeiten wurde die West-Berliner Hälfte asphaltiert, das Kopfsteinpflaster der DDR-Seite blieb - bis heute - unangetastet.

Wir kommen in den Spandauer Forst und von nun an schlängelt sich eine für Radfahrer vorzügliche Asphaltpiste durch die Bäume hindurch mit beständigem kleinen Auf und Ab durch den Wald. Im Gegensatz dazu verläuft der nur einen Steinwurf entfernte ehemalige Grenzstreifen vollkommen eben und mit einer breiten, jedoch immer mehr zuwachsenden Sandspur neben uns her. Unser Weg folgt den natürlichen Geländegegebenheiten, der Grenzstreifen wurde zur Schaffung eines besseren Sicht- und Schussfeldes von den Grenzkommandos einplaniert.

Zu Fuß ist hier kein Mensch unterwegs, dafür aber die Radler: die Gemütlichen, die sportlich Flotten, die Einzelkämpfer, die Paare, die kleinen Familien mit Kinderanhänger, die Rudel, die mit Klingel und die ohne, die Rücksichtsvollen und die, denen ich am liebsten einen Stock zwischen die Speichen werfen möchte. Wir alle kommen bald an der ehemaligen West-Exklave Eiskeller vorbei. 

Sie erhielt ihren Namen aufgrund der durchweg niedrigen Temperaturen, die das Gebiet zu einer bevorzugten Lagerstätte für Eis aus dem Falkenhagener See gemacht haben soll. Nur durch eine vier Meter breite und 800 m lange Zufahrt waren die wenigen Häuser, die von drei Bauernfamilien bewohnt wurden, mit dem Bezirk Spandau verbunden. Im Herbst 1961 wurde ihre Situation durch die Geschichte eines 12-jährigen Bewohners weit über Berlin hinaus bekannt.

Der schulpflichtige Erwin, das einzige Schulkind aus der Exklave, fuhr jeden Morgen mit seinem Fahrrad nach Spandau zur Schule. Eines Tages kam er früh wieder nach Hause zurück mit der Aussage, Volkspolizisten hätten ihm den Weg versperrt und nach Hause gejagt. Die englische Besatzungsmacht stationierte daraufhin 30 Soldaten im Eiskeller und ließ Klein Erwin allmorgendlich mit einem Panzerspähwagen zur Schule eskortieren. Erst Jahre später gestand Erwin, dass er damals nur die Schule schwänzen wollte. Gottseidank schrieb die Mauer auch Geschichten wie diese.

Vom Eiskeller bis zur Havel ist es nicht mehr weit, teilweise verläuft der Mauerweg mitten durch den alten Grenzstreifen. Genau da, wo die ehemalige Grenze ans Havelufer trifft, steht an einer Badestelle der Havel die Ausflugsgaststätte Jagdhaus mit ihrem großen Biergarten. Paulaner-Sonnenschirme, blau-weiße Tischdecken, eine sehr bajuwarisch angehauchte Speisekarte - hier will man wohl ein wenig Bayern nach Preußen bringen. Wir machen das Spiel mit und bestellen Weißwürste (Dieter) und Kaiserschmarrn (ich), kauen und genießen und machen uns dann ans letzte Drittel.

Nach vielen Kilometern durch den Spandauer Forst, kommen wir jetzt wieder in besiedeltes Gebiet. Hennigsdorf liegt vor uns. Wieder gehen wir über eine gepflegte "Uferpromenade", deren Villenanrainer netterweise davon Abstand genommen haben, diese sich zur Vergrößerung ihrer Seegrundstücke einzuverleiben. Man muss ja schon darüber fast dankbar sein. Dafür steht an der Promenade sogar noch ein ehemaliger Grenzwachturm, sauber und gepflegt, zum Grenzmuseum gemacht, "Geöffnet! Eintritt kostenlos!".

Nach fast 20 Kilometern mehr oder weniger durchweg auf Asphalt beginnen die Füße zu brennen. Zwischen Havelkanal und dem riesigen Gelände des ehemaligen "Kombinat VEB Lokomotivbau-Elektrotechnische Werke Hennigsdorf", heute Bombardier, ziehen sich die Kilometer. Ältere West-Berliner verbinden dieses Werk noch immer mit dem "Zug der Stahlarbeiter". Am Morgen des 17. Juni 1953 waren die Arbeiter des Hennigsdorfer Stahlwerks und des Lokomotivwerks zur Begeisterung vieler Anwohner über Reinickendorf und Wedding zum "Haus der Ministerien" gezogen, um dort die DDR-Regierung mit ihren sozialen und politischen Forderungen zu konfrontieren.

Mein Körper fordert nun ein Bett! Asphalt, Kilometer und Temperaturen sind dafür verantwortlich und mein Brüllhusten gehört immer noch nicht der Vergangenheit an. Doch alles ist im Fluss, mir geht es von Tag zu Tag besser. Keine Sorge!

Kommentar schreiben

Kommentare: 5
  • #1

    Der Kronprinz (Freitag, 24 April 2015 10:11)

    Dann weiter gute Besserung.

  • #2

    Mariechen (Freitag, 24 April 2015 18:55)

    Hoffentlich fängt der "richtige" Weg entlang des Grünen Bands bald an, so rund um Berlin zu tapern stelle ich mir schrecklich langweilig und ermüdend vor.

  • #3

    Sebastian (Samstag, 25 April 2015 14:47)

    Klein Erwin... Ich kenne da noch einen anderen "Bub", der hatte auch immer spannende Geschichten zu erzählen, warum er nicht in die Schule konnte ;-)
    Pass auf den Husten auf, eine Lungenentzündung bracuhst du eher nicht.

  • #4

    Peter (Samstag, 25 April 2015 18:46)

    Hallo Reinhard, Sebastian hat recht mit seinem Hinweis auf deine Lunge. Vielleicht mal kurz
    beim Doc vorbei schauen und abhorchen lassen.
    Ansonsten war auch ein Artikel von Deiner Tour im Rhein Sieg Anzeiger zu lesen. Mich wundert
    nur das Sira dabei ist.
    Viele Grüße aus Lohmar und eine gute Zeit
    Peter

  • #5

    Die Pilgertochter (Montag, 27 April 2015 07:39)

    Ja, Peter! Das wunderte mich auch, als mir am Samstag erzählt wurde, dass Sira angeblich dabei ist, wo sie doch gerade in dem Moment neben mir stand! Tststs, Papa, Papa, Papa... Hast du etwa alte Fotos rausgegeben?