(Fast) letzte Kilometer in Berlin

Heiligensee - Frohnau (14 km)

Ein letzter richtiger Wandertag in Berlin, morgen kommt nur noch eine kleine Zugabe. Na ja, die Bezeichnung "richtiger Wandertag" traf in den letzten Tagen eher selten zu, meist bewegten sich die Kilometerzahlen nur zwischen 12 und 15, nur dreimal waren es zwischen 18 und 22. Heute sind es nur 14, morgen läppische 8, aber wer nachempfinden kann, wie "anspruchsvoll" für einen Wanderer Asphaltkilometer sind, wie die Füße beginnen zu brennen und die Oberschenkel sich verhärten, der mag uns die mangelnden Kilometerzahlen nachsehen.

Dass es heute wieder nur 14 Kilometer sind, ist insofern sehr günstig, da wir gegen 14 Uhr unser Tagespensum abgeschlossen haben sollten, denn nach Dusche und Klamottenwechsel bei Christa müssen wir zum Brandenburger Tor eilen, weil wir dort für 16.50 Uhr zu einer Reichstagsführung angemeldet sind. Sieben Mal war ich jetzt in den letzten Jahren in Berlin und nie hatte ich es geschafft, für den Reichstag ausreichen Zeit zu bekommen. Diesmal soll es sein! Schon vor einigen Tagen hatte ich diesen Termin eingestielt. Jetzt sollten wir ihn nicht verpassen.

Nach Beendigung des Lokführerstreiks fährt heute die S-Bahn wieder. Wir sind in Heiligensee kaum aus dem Bahnhofsgebäude heraus, finden wir uns auch schon auf dem Mauerweg wieder. Erst auf dem alten Zollweg auf West-Berliner Seite, dann auf dem Kolonnenweg der DDR-Grenzer. Bald hören wir das typische Rauschen von starkem Autobahnverkehr und wenig später überqueren wir die A111, eine noch relativ kurz vor dem Mauerfall von der DDR gebaute, aber von der Bundesrepublik finanzierte Autobahn, die den steigenden Reiseverkehr zwischen Hamburg und West-Berlin entlasten sollte. Ganz in der Nähe eröffnete 1982 die neue "Grenzübergangsstelle Stolpe", die aber zunächst nur für den West-Berliner Transitverkehr nach Skandinavien diente. Heute beherbergt das Gebäude ein Autobahnamt.

Der Kolonnenweg geht nun schnurgerade durch einen dichten Kiefernwald, immer der Schneise des Grenzstreifens folgend. Manchmal ist es uns möglich, das von Radfahrern stark frequentierte Asphaltband zu meiden. Dann geht es daneben auf einem Pfad weiter - bis er zu sandig wird und damit noch anstrengender als die Kolonnenweg-Radpiste. Wir stoßen auf die Stadtkante von Frohnau, dem nördlichsten Ortsteil von West-Berlin, und damit beginnt sich unser Kreis entlang der ehemaligen Mauer so langsam zu schließen. Aber noch ist es nicht ganz soweit. Der Weg schwenkt nach Norden, rechts die beginnenden Häuser von Frohnau, links der Kiefernwald, dazwischen Dieter, Christa und ich auf dem hier recht breiten Grenzstreifen. Menschen kommen zwischen den Häusern her, manche mit Hunden, überqueren den sandigen Streifen und gehen in den Wald hinein. Jahrelang sahen sie an gleicher Stelle nur die Mauer vor sich aufragen, vielleicht noch nicht einmal die Baumspitzen dahinter. Eine halbe Stunde später ein neuer Schwenk, diesmal nach rechts, nach Osten. Immer noch liegt rechts Frohnau, links jetzt ein riesig weites Feld, wo jetzt der Raps zu blühen beginnt. Hier konnten die Bauern damals das LPG-Feld nur unter Grenzer-Aufsicht bestellen oder abernten, immer die bedrohenden Gewehre vor Augen. Die Frohnauer sahen davon nichts, sie konnten es nur erahnen. Die Mauer war dazwischen. Vielleicht hörten sie manchmal Schüsse, wenn wieder einmal jemand versuchte, die Grenzanlagen zu überwinden. Auch hier haben es Menschen versucht, einigen ist es gelungen, lange nicht allen.

Eine von ihnen war Marinetta Jirkowski. Mit ihrem Verlobten und einem Freund versuchte sie in der Nacht vom 21. zum 22. November 1980 von einem unbewohnten Gartengrundstück nach West-Berlin zu fliehen. Hinterlandmauer und den Signalzaun zwischen zwei Wachtürmen, die sich im Abstand von 100 m links und rechts ihres Fluchtweges befanden, konnten sie meistern. Mit einer Leiter wollten sie auch die 3,60 m hohe Mauer überwinden. Zuerst kletterte ihr Verlobter nach oben und sprang in den Westen. Der Freund sprang nicht, weil Marietta, die inzwischen auf der oberen Sprosse der Leiter stand, zu klein war, um die Mauerkrone mit ihren Händen zu erreichen. Als der junge Mann sich bäuchlings auf die Mauer legte, fielen Schüsse - insgesamt 27 - und es wurde taghell. Reflexartig ließ er die Hand seiner Freundin los und sich selbst auf die Westseite der Mauer fallen. Marinetta Jirkowsky stürzte schwer verletzt von der Leiter und starb wenig später. Sie war eine der wenigen Frauen, die die Flucht über die Mauer gewagt haben.

Im Tegeler Forst stoßen wir auf einen gut erhaltenen DDR-Grenzwachturm. Er steht in etwa zehn Metern Abstand zu unserem Kolonnenweg, mitten im Grenzstreifen. Er gehörte damals zu den "Führungsstellen", die nicht nur zur Grenzüberwachung dienten, sondern zugleich auch als Kontrollstelle für weitere Beobachtungstürme, die durchschnittlich alle 500 m im Grenzstreifen standen. Eine "Führungsstelle" war mit drei Grenzsoldaten und einem Offizier besetzt und verfügte im Erdgeschoss über eine Arrestzelle für "Grenzverletzer". 

Heute steht "Deutsche Waldjugend" auf der Frontseite. Ein Lehrer aus Berlin und eine Lehrerin aus Brandenburg hatten sich schon kurz nach dem Mauerfall für den Erhalt des Turms eingesetzt. Unter tatkräftiger Mithilfe von Anwohnern, jungen Leuten und Naturinteressierten gelang es ihnen, nicht nur den Abriss zu verhindern, sondern auch den Grenzstreifen mit über 80.000 (!) Bäumen zu bepflanzen und um den Turm herum Biotope anzulegen. Ein Foto aus früheren Tagen und die heutige Realität zeigen einen krassen Gegensatz. 

Kurz darauf sind wir mitten in Frohnau. Wir überqueren die Oranienburger Chaussee, tappsen durch kleine Anwohnerstraßen und stehen relativ unvermittelt vor dem S-Bahnhof Frohnau. Der Kreis wäre geschlossen, wenn..., ja, wenn die kleine Etappe zwischen Griebnitzsee und Volkspark Potsdam nicht noch zu absolvieren wäre. Die hatten wir ja vor weinigen Tagen übersprungen, um morgen noch Zeit für den Ausflug nach Werder zu haben. Also, endgültiger Zieleinlauf erst morgen!

Die Zeit passt. Ohne Stress fahren wir zurück nach Wilmersdorf, machen uns "landfein" und dann auf Richtung Reichstag. Wir sind absolut pünktlich, schließen uns mit anderen einer netten Dame an, lauschen artig ihren Ausführungen noch auf dem Pariser Platz im Angesicht des Brandenburger Tores, dackeln dann hinter ihr her bis zu den Security-Containern vor dem "hohen Hause", müssen uns dann einer Prozedur unterziehen, die dem Sicherheitscheck auf einem Flughafen nahekommt und sind dann irgendwann im Plenarsaal. Eine weitere nett Dame, diesmal vom hauseigenen Besucherdienst, hält uns einen - durchaus interessanten und kurzweiligen - Vortrag über ihren Arbeitsplatz und entlässt uns und etliche weitere angemeldete Besuchergruppen in Richtung Dachterrasse und Reichstagskuppel.

Der Blick von oben ist außerordentlich beeindruckend. Ein wenig fühle ich mich erinnert an letztes Jahr, als ich zum Abschluss meiner Romwanderung auf der Kuppel des Petersdoms stand. Auch jetzt und hier eine tolle Panoramasicht, viele Bauwerke, an denen wir auf unserem Mauerweg vorbeigekommen sind oder die ich von früheren Berlinbesuchen kenne. Das alles bei klarem Blick, trotz der fortgeschrittenen Stunde noch milden Temperaturen und einer langsam untergehenden Sonne.

Und zur Abrundung noch ein Abendessen in einem kleinen französischen Restaurant, ein kleines Geschenk von Dieter und mir an Christa für ihre Gastfreundschaft.

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Kommentare: 1
  • #1

    Sebastian (Sonntag, 26 April 2015 09:01)

    Die Reichstagskuppel schaue ich mir in 2 Wochen auch mal an.
    Wolgang ist übrigens wieder halbwegs heile daheim und hat gestern schon wieder kräftig in die Gitarre gehauen. Die zweite Gitarre fehlte... ;-)