Zwischenstation Leipzig

Abschied von Berlin, Abschied von Christa. Sie bringt uns noch an die U-Bahn und winkt uns hinterher, als sich die Türen der Bahn zwischen uns schließen. Danke, Christa, für deine Gastfreundschaft, für dein liebes Wesen, für deine guten Ratschläge, für deine zeitweilige Begleitung! Besser hätten wir es nicht antreffen können.

Am Südkreuz steigen wir um, von der U-Bahn in den ICE, ganz was Feines. Kaum eine Stunde werden wir bis Leipzig brauchen, Zeit genug, den Mauerweg noch einmal kurz zu überdenken. 

Der Mauerverlauf war nur noch an wenigen Stellen dokumentiert: Mauerabschnitte von wenigen oder mehreren Metern Länge sind an einer Hand abzuzählen, einzelne Mauerelemente tauchen an besonderen Gedenkorten auf, über weite Strecken durch die Mitte Berlins zeichnet eine doppelte Pflastersteinreihe den ehemaligen Verlauf nach, viele Stelen gedenken der Opfer oder erzählen die Geschichte mancher Orte und Plätze, die meist traurige Berühmtheit erlangten. Nach dem Motto "Die Mauer muss weg!" wurden fast alle authentischen Zeugnisse des Grenzverlaufs ansonsten beseitigt, man wollte und konnte sie nicht mehr sehen. Heute wird eingestanden, dass das ein Fehler war. Die Stadtentwicklung ist in den Jahren nach dem Mauerfall in einem solch rasanten Tempo vorangeschritten, dass sich selbst viele Berliner nur noch schwer oder gar nicht mehr an den genauen Verlauf der Mauer erinnern können. Für Jugendliche sind diese Zeiten sowieso schon Geschichte.

Insgesamt war die 3,60 m hohe Mauer um West-Berlin 160 Kilometer lang. Ziemlich exakt genau so lang sind wir auf dem Mauerweg marschiert, meist über Asphalt oder Pflaster, selten nur auf "fußfreundlichen" Wegen. Immer wieder waren für mich die Gedenkorte für die Maueropfer berührend und Quelle aufkommenden Zorns. Wie konnte ein Staat so etwas mit seinen Bürgern machen? Die West-Berliner Polizei registrierte zwischen 1961 und 1989 5.075 erfolgreiche Fluchten, davon 574 Fahnenfluchten der DDR-Grenzsoldaten. Etwa 3.200 Menschen wurden von Grenzsoldaten bei ihren Fluchtversuchen festgenommen. Nach aktuellen Forschungen sind allein an der Berliner Mauer 128 getötete Flüchtlinge zu beklagen. Von den 80 nach dem Ende der DDR ermittelten und vor Gericht gestellten Todesschützen bekamen 77 eine Bewährungsstrafe.

Trotz der Asphaltkilometer war für mich der Mauerweg eine abwechslungsreiche und geschichtsträchtige Route. Namen stehen erinnernd für Ereignisse: Potsdamer Platz, Checkpoint Charley, Bernauer Straße, Bornholmer Straße, Oberbaumbrücke, "East Side Gallery", Sacrower Heiligenkirche, Entenschnabel, Steinstücken, Klein Glienicke, Glienicker Brücke, Reichstag, Brandenburger Tor. Ich war schon oft in Berlin, doch erst jetzt habe ich das Gefühl, dass mein Bild von dieser Stadt abgerundet ist.

Wir kommen in Leipzig an. Direkt am Stadtring, schräg gegenüber vom Hauptbahnhof, ist unser Hotel. Wir checken ein, aber aufs Zimmer können wir noch nicht, erst ab 14 Uhr. Zur gleichen Zeit aber beginnt der "Stadtspaziergang", eine zweistündige Führung durch den Innenstadtbereich, die ich bereits zu Hause gebucht hatte. Dieter und ich deponieren unsere Sachen in der Hotellobby und begeben uns auf Erkundungstour.

Die Zeit bis zur Stadtführung scheint uns ausreichend, um auf dem inneren Stadtring den Altstadtbereich Leipzigs so weit wie möglich zu umkreisen und damit gleichzeitig auch einen historischen Weg der neueren deutschen Zeitgeschichte nachzugehen. Hier zogen besonders im September und Oktober 1989, im Anschluss an die Friedensgebete in den großen Kirchen der Stadt, die Montagsdemonstrationen mit einer ständig sich vergrößernden Teilnehmerzahl, immer in der Angst vor der Gewalt und den Waffen der Staatsmacht. Nach der brutalen Niederschlagung der Studentendemonstrationen auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking, schien ein ähnliches Eingreifen hier in Leipzig und später auch in anderen Orten fast wahrscheinlich.

Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, war es an vielen Orten des Landes zu Protesten gekommen. Am darauffolgenden Montag wollte das DDR-Regime den "Spuk ein für allemal beenden" und hatte mit dem Einsatz von Schusswaffen offen gedroht. Trotz großer Angst demonstrierten am 9. Oktober nach Friedensgebeten in vier Leipziger Kirchen (u.a. Thomaskirche und Nikolaikirche) mindestens 70.000 Bürger mit den Losungen "Keine Gewalt" und "Wir sind das Volk" gegen das Regime. Tausende waren extra nach Leipzig angereist. Angesichts dieser Massen mussten sich die 38.000 bereitstehenden Sicherheitskräfte zurückziehen.

Der friedliche Verlauf des Abends wurde als Sieg über das Regime empfunden. Von nun an ergriffen Proteste das ganze Land. Die DDR bereitete weiterhin eine gewaltsame Auflösung der Demos vor. Gleichzeitig versuchte sie, durch "Dialog"-Veranstaltungen mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen, um den Demos ein Ende zu setzen. In den folgenden Wochen wuchs die Zahl der Montagsdemonstranten stetig. Am 16. Oktober waren es bereits 120.000. Nach der Wende, als diverse Gruppierungen versuchten, demokratische Strukturen zu installieren, unterstützten sie zeitweise über 300.000 Menschen auf den Straßen Leipzigs.

Alle diese großen Demonstrationszüge zogen auch an der "Runden Ecke" vorbei, der einstigen Bezirksverwaltung für Staatssicherheit. Am 4. Dezember 1989, also fast einen Monat nach dem Mauerfall, wurde hier eine wichtige Forderung der Friedlichen Revolution Wirklichkeit: Engagierte Bürger besetzten das Gebäude und legten die Arbeit der immer noch existierenden Stasi-Zentrale lahm. Heute ist im 4. Stockwerk dieses verhassten Gebäudes, im ehemaligen Kinosaal, eine umfassende Ausstellung zu den Ereignissen der Wendejahre mit zahlreichen Wort-, Bild- und Tondokumenten untergebracht. Dieter und ich schauen uns alles an und können immer wieder nur den Kopf schütteln. Was waren das damals für Wochen und Monate...

Dieter und ich gehen weiter, kommen zum riesigen Augustusplatz mit Gewandhaus, Oper und Universität, auf dem im Herbst 1989 Massenkundgebungen stattfanden, biegen dann in den Altstadtbereich ein und gehen bis zum Markt. Inzwischen machen sich auch schon die Füße bemerkbar. Wir gönnen uns eine kleine Mahlzeit bei einem Italiener und sind dann bereit für die Stadtführung. Wir geraten bei einer Frau mittleren Alters an geballte Kompetenz und Eloquenz und wissen bald einiges mehr über die Messestadt Leipzig in früheren Jahren und heute, über Bach, Thomanerchor, Herrn Goethe und seinen Faust und anderes mehr und sind danach fast so erschöpft wie nach einem Marsch von 15 km auf dem Mauerweg. Fazit: Leipzig ist mit Sicherheit eine Reise wert, aber jetzt wird es Zeit, dass wir in ruhigere Gegenden kommen. Sie werden sogar recht einsam werden - zumindest zunächst mal recht feucht. Ab morgen soll das Wetter schlechter werden - endlich mal andere Bedingungen!

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Kommentare: 1
  • #1

    Der kronprinz (Mittwoch, 29 April 2015 09:58)

    Woher weißt du das alles?!