Start zum Grünen Band Deutschland

Ebmath - Ullitz (20 km)

Es regnet! Nicht nur ein wenig, sondern so richtig. Nach zwei Wochen Sonne jetzt mal verschärfte Bedingungen. Genau pünktlich zum Start zu meiner Grenzwegwanderung auf dem Grünen Band. Dieter wird mich dabei noch eine Woche begleiten. Momentan kann ich es mir mal wieder kaum vorstellen, wie weit tausendvierhundert Kilometer sind. Mit dem Auto, auf regulären Straßen, dürfte das ungefähr die Entfernung von München nach Barcelona oder von Köln nach Rom sein. Und ich will das wieder zu Fuß erledigen, quer durch die Botanik, viel auf kleinen Straßen, oft auf dem alten Kolonnenweg der DDR-Grenztruppen.

Die einstige Grenze birgt Erinnerungen an Mauerbau und Menschenrechtsverletzungen, an die völlige Hilflosigkeit eines staatlichen Systems, dem die Bürger davonliefen. Um der Fluchtbewegung einen Riegel vorzuschieben, richtete die DDR diesen Überwachungsstreifen ein. In der Folge des Mauerbaus in Berlin wurde die gesamte DDR eingezäunt durch den Ausbau des "antifaschistischen Schutzwalls". Das trat bei vielen Menschen im Westen im Laufe der Jahre etwas in den Hintergrund. Die Mauer von Berlin blieb dagegen präsenter, war viel "prominenter". Denn für jeden Berlinbesucher war es obligatorisch, mal von einem Besucherpodest über die Mauer zu schauen oder in die Nähe des Checkpoint Charley zu gehen.

Ich selbst war in jungen Jahren ganze viermal am sog. Eisernen Vorhang: Bei einem kleinen Urlaub mit meiner Frau und meinem Kronprinzen - damals kaum ein Jahr alt - im Raum Ratzeburg, bei einer Wanderung durch Hessen in der Rhön, während meiner Bundeswehrzeit in der Nähe von Lauenburg an der Elbe und im Rahmen einer Klassenfahrt mit einem 10. Schuljahr im Harz. Immer nur ein Mal-eben-gucken, ein Kopfschütteln. Die Grenze hatte für mich eine Art "Bestand auf ewig". Dass ich die Aufhebung der Teilung, die Abschaffung von Stacheldraht, die Entsorgung der Minenfelder, die Aufhebung der Sperrgebiete, die Überwindung von Willkür, Bespitzelung und Verschleppung, die Beendigung des Schleifens ganzer Dörfer noch in "jungen Jahren" - ich war gerade 40 Jahre alt - erleben würde, hatte ich nicht einkalkuliert.

Herr Windecker bringt uns mit seinem Wagen hinauf an den ehemaligen Grenzstreifen. Von Bad Elster fahren wir zuerst in den tschechischen Zipfel bei Hranice hinein, der hier nach Bayern hineinragt. Nach zehn Minuten ziemlich tristem Tschechien, geht es nach Sachsen hinüber. Am alten Zollgebäude des ehemaligen Grenzübergangs Hranice - Ebmath fährt uns Herr Windecker noch vorbei, entlässt uns dann aber am Ortseingang von den wenigen Häusern von Ebmath auf unseren Weg. 

Es ist nass, es ist kalt, es ist windig, es schneit mehr als es regnet, die Sicht geht keine 50 Meter. Ein bombiger Start! Wir stapfen los, hoffen, dass uns davon bald wärmer wird, aber der Wind ist echt biestig. Mit unseren Schirmen versuchen wir, uns vor dem Wind zu verstecken, aber es hilft nicht viel. Unsere bunten Schirme überziehen sich langsam mit einer dünnen weißen Decke - und mein Wheelie rollt. Links und rechts von uns mal kleine Wälder oder weite Wiesen. Da unten, wo die Baumreihe mit jungen Bäumen durch die Wiese entlangzieht, muss die Grenze zwischen Sachsen und der ehemaligen Tschechoslowakei gewesen sein. Ja, auch hier, im Gegensatz zur sonst offenen Grenze zwischen den beiden "Bruderländern", hatte die DDR auf dieser Strecke ihren Grenzsicherungsstreifen gezogen. Gerade nach der niedergeschlagenen Reformphase des "Prager Frühlings" 1968 traute die DDR ihrem Partner wohl nicht mehr, wollte sichergehen und hat "vorbeugende Amtshilfe" geleistet.

Wir kommen nach Pabstleithen, einer kleine Streusiedlung, die früher wesentlich größer war. Die Häuser reichten bis nahe an die tschechische Grenze, bis die DDR-Grenzorgane hier eine Räumung der im 500 m -Schutzstreifen befindlichen Anwesen angeordnet hatten und nach der Zwangsausweisung von 54 Familien im Jahre 1974 die Häuser abreißen ließen.

Immer noch fliegen uns schwere Schneeflocken um die Ohren, die Hand am Schirm wird so langsam immer kälter, das große Schwitzen will sich nicht einstellen. Der Weg ist hier noch nicht markiert, ich versuche, mich mit der Karte zu orientieren. Nur allzu oft will ich sie nicht zücken, der Schneeregen weicht sie auf. Ergebnis: Irgendwo kommen wir etwas vom Weg ab, sind nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Wir irren etwas durch die Gegend, stehen dann aber doch erstmalig auf dem alten Kolonnenweg, sehen daneben die Reste des ihn begleitenden Panzergrabens und stehen dann doch, fast unvermittelt, am Dreiländereck Tschechien - Bayern - Sachsen. Wir sehen die Grenzsteine: "DB" für Deutschland Bayern, "DS" für Deutschland Sachsen, "CS" für Tschechoslowakei. Das "S" ist allerdings weiß übermalt und "C" steht heute alleine für Tschechien. Genau hinter diesen Grenzsteinen lag im 19. Jahrhundert noch das gut besuchte Wirtshaus Hoffmannsmühle, eine urige böhmische Schenke mit Wein-, Bier- und Branntweinausschank. In der kleinen Gaststube trafen sich einst böhmische Viehhändler, sächsische Zollbeamte und bayerische Grenzaufseher. So mancher trug seinen Rausch nach Bayern und Sachsen hinüber. Wir hätten uns gerne in diesem Gasthaus mal aufgewärmt, aber es steht schon lange nicht mehr. Also weiter!

In Posseck zweigen wir mal wieder vom Kolonnenweg ab. Wir hoffen auf eine Kneipe, sie ist jedenfalls mit einem Symbol auf meiner Karte verzeichnet. In der Dorfmitte steht ein Metzgermobil und preist diverse Würste an. Immerhin, eine alte Frau kann der Metzger gerade als Kundin bedienen. Daneben steht eine überdachte Bushaltestelle. Ich frage dort eine weitere alte Dame, wo ich denn die Gaststätte finden könne. Sie lächelt nur mitleidig und schüttelt mit dem Kopf. "Die gibt es hier schon lange nicht mehr, und überall hier in den Dörfern auch nicht." Na prima! Aber eine Rast muss jetzt sein, hier sind wir wenigstens windgeschützt. 

Nach fünf Minuten kommt eine dritte alte Dame und wir kommen mit ihr kurz ins Gespräch. Ihre Familie ist von ihrem Bauernhof am Ortsrand vertrieben worden. Sie gehörten zu den Unliebsamen. Dem Vater wurde von einem Mitbürger gedroht: "Du kommst auch noch dran! Gestern war nur kein Platz mehr auf dem LKW, der die anderen weggebracht hat." Er antwortete nur: "Lebend bekommt ihr mich nicht von meinem Hof!" und zwei Wochen später hängte er sich in seiner Scheune auf, mit 46 Jahren. Die Schwester der alten Dame wurde samt ihrem Kleinkind "ins Ungewisse" verbracht, "irgendwohin bei Weimar". Wiedergesehen haben sie sich erst viele Jahre später. Sie erzählt noch von einer Bürgerversammlung vor bzw. mit den hiesigen Kontrollorganen. Dabei sei der Pfarrer aufgestanden und habe gesagt: "Ich will nicht lange drumherumreden. Wenn ich hier den Zaun sehe, fühle ich mich wie in einem KZ." Darauf habe sich ein anderer Mann erhoben und getönt: "Dieser Mann muss sofort aus unserem Dorf verschwinden!" Nach bereits einer Stunde wurde der Pfarrer abgeholt, zusammen mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern. "Wir konnten damals keinem im Dorf trauen. Es war fürchterlich!"

Sie empfiehlt uns, nicht weiter auf dem Kolonnenweg zu gehen und weist uns auf eine andere Route. Wir merken bald, dass diese in der Tat etwas einfacher zu gehen ist. Das Wandern auf dem Kolonnenweg ist mühsam. Die Löcher in den Platten sind äußerst tückisch, schnell knickt man darin um. Stellenweise wächst Moos auf dem Beton, dann wird es rutschig auf den leichten Abstiegen. Also folgen wir ihrem Rat und es geht zügiger voran.

Wir gehen auf schottrigen Wirtschaftswegen oder kleinen Landstraßen und sind schneller als gedacht an der Straße, die Hof mit Plauen verbindet. Hier liegt der kleine Ort Ullitz - und eine Bushaltestelle. Ullitz ist für heute das Ziel unseres Fußmarsches, aber noch nicht der Ort mit unserer Unterkunft. Hier gibt es nichts, wo man sein Haupt betten könnte, dazu müssen wir ins zwei Kilometer entfernte Hof hinunter. Dort habe ich uns ein Doppelzimmer gebucht. Schön wäre es jetzt, wenn es wenigstens in Ullitz eine Gaststätte zum Aufwärmen gäbe, denn der Bus kommt erst in ca. einer halben Stunde. Dieter will jetzt aber sitzen, und zwar möglichst bequem und windgeschützt. Er geht um ein Haus herum und bleibt verschwunden. Als ich nach ihm sehe, sitzt er völlig tiefenentspannt im Hof auf einem Plastikstuhl. Als ich mich zu ihm geselle, erscheint die Frau des Hauses in der Tür und sofort beginnt ein kleiner Plausch. Sie erzählt vom 12. November1989, dem Tag, als sich nur etwa hundert Meter entfernt an der Straße die Grenze zwischen Plauen (DDR) und Hof (BRD) um 10 Uhr öffnete. "Noch als es dunkel war, habe ich so komische Laute von der Grenze aus gehört, später auch Autos fahren, viel mehr als sonst. Dann ahnte ich was. Ich habe meinen Mann geweckt und ihm gesagt: Du, die machen die Grenze auf. Du spinnst, hat er gesagt, schlaf weiter. Um halb elf haben wir es dann gesehen: Eine einzige Schlange an Trabbis wälzte sich die Straße Richtung Hof hinunter, den ganzen Tag. Und abends wieder zurück. Ein paar Wochen lang ging das so. Die Nebenstraße hier über die Dörfer bis nach Hof musste irgendwann gesperrt werden. Wir kamen ja die 173 nicht mehr runter nach Hof zur Arbeit. Die Ossis fuhren also auf der 173 und wir auf der Nebenstrecke nach Hof - und genauso wieder zurück."

Als wir unten in Hof unser Hotel suchen, ist es dort viel ruhiger als am 12. November 1989.

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Kommentare: 4
  • #1

    Die Pilgertochter (Mittwoch, 29 April 2015 17:21)

    Da geht er wohl los, der Weg der Menschen mit Geschichten. Schön, dass du findest, was du finden wolltest!

  • #2

    Lore (Mittwoch, 29 April 2015 18:14)

    Hallo Reinhard,
    ja, ich hab mich auch auf die Geschichten mit und von den Menschen gefreut, und das war jetzt ja schonmal ein prima Anfang! -wenn auch mit traurigen, unbegreiflichen Begebenheiten.
    Liebe Grüße aus dem nicht verschneiten und nicht verregneten Lohmar
    Lore

  • #3

    J. Simon (Donnerstag, 30 April 2015 00:44)

    Hallo Reinhard,
    nur Mut für den weiteren Weg ! Ihr habt zwei herrliche Monate vor Euch. Mit dem Kolonnenweg kommt man nach etwas Eingewöhnung ganz gut zurecht, nur bei Nässe, da sind die Platten sehr rutschig. Ich wünsche Euch eine erfolgreiche Wanderung !
    Der Grenzwanderer J. Simon.

  • #4

    Kronprinz (Donnerstag, 30 April 2015 20:35)

    Oha! Dann Toitoitoi dass es bald besser wird...