Jede Menge Schiefer

Blankenstein - Lehesten (28 km)

 

In der Nacht muss es ordentlich geregnet haben. Draußen vor dem Hotel stehen große Pfützen, aber der Himmel ist blau. Es wird ein langer Tag werden, deshalb nehmen wir das Frühstück so früh wie möglich. Bei mancher Unterkunft ist das "So früh wie möglich" schon um 6.30 Uhr, bei anderen erst um 8 Uhr. Im Gasthof Blechschmidtenhammer gibt es die Brötchen ab 7.30 Uhr, für einen langen Wandertag so gerade noch akzeptabel. Eine Stunde später sind wir auf der Spur.


Wenige Meter nach dem Gasthof biegen wir ins Tal der Thüringischen Muschwitz, ein Tal mit einem munter dahinplätscherndem Bächlein. Idyllisch, Urnatur, einfach nur schön - heute! Während der DDR -Zeit verlief die Grenze in der Bachmitte, der Grenzzaun in unmittelbarer Nachbarschaft. Doch der Weg ist kein Kolonnenweg, sondern ein "Knüppeldamm". Unser Wanderschritt gleicht eher einem Storchengang oder - wie Dieter meint - einem 3000 m - Hindernislauf. Hunderte von Fichtenwurzeln liegen quer über dem Weg und wir müssen uns höllisch konzentrieren, nicht ins Stolpern zu geraten oder auf diesen glitschigen Exemplaren auszurutschen. Ich muss zusätzlich mein Wheelie darüber hinwegbringen, ein recht anstrengendes und zeitraubendes Unterfangen. Mein tapferer Lastenträger wird derart hin und her geschockelt, dass man von Glück sprechen kann, dass Wheelies nicht frühstücken. Ihm würde bestimmt jetzt höllisch schlecht.


Doch irgendwann ist auch das vorbei. Wir verlassen das Tal - und weichen vom Grünen Band ab. Während aus der Thüringischen die Fränkische Muschwitz wird und weiterhin die Begleiterin des puristischen Grüne-Band-Wanderers bleibt, nehmen wir nun Kurs auf den Rennsteig, der, über Höhen entlangziehend und Kolonnenweg vermeidend, bereits in Blankenstein begonnen hat und nun seinen Weg bis nach Hörschel an die Werra vollzieht. Bis nach Lehesten, unserem heutigen Tagesziel, erspart er uns ein paar Kilometer und führt uns sogar an gastronomischen Rastpunkten vorbei. Der strenge Grenzwegwanderer müsste darauf komplett verzichten.


Vom Grenztal geht es hinauf auf die Thüringer Höhen, immer hoch, hoch, hoch. Wir schnauben, schwitzen und stöhnen im Duett, aber es ist wohl nur ein Vorgeschmack auf das, was uns in den nächsten Tagen noch bevorsteht. Wir kommen nach Seibis hoch, wenig später nach Schlegel - dann ist Zeit für eine Pause. Die Herrenoberbekleidung ist nass geschwitzt, die Oberschenkel sind sauer und schreien nach Erholung. Mitten im Dorf, beim "Gasthof zum Rennsteig" (mit Stempelstelle), werfen wir uns mit einem Stöhnen auf eine Bank, schälen uns die dampfenden Schuhe von den Füßen, lehnen uns zurück und schauen in die Sonne. So ist's gut! Ein Mann des Dorfes kommt vorbei, ruft uns ein "Gut Runst!" zu, den Begrüßungs- und Aufmunterungsruf eines jeden Rennsteig-Wanderers, lacht dazu und geht seines Weges. Nach zwanzig Minuten schnüren wir die Schuhe wieder und laufen weiter.


Wenige Minuten hinter Schlegel, wo wir von der Straße in einen breiten Waldweg einbiegen müssen, erblicken wir hinter einem halb verfallenen Metallgitterzaun einen dreigeschossigen und mit dunklen Schieferplatten verkleideten Gebäudekasten. Die Fensterscheiben sind zum großen Teil zersplittert und schauen uns wie tote Augen an. Das Außengelände ist zum Teil zugewachsen und macht einen verwahrlosten Eindruck. Eine ehemalige Grenzerkaserne. Viele davon haben wir in den letzten Tagen schon gesehen, fast alle machen sie diesen Eindruck, den ein Graffity-Sprayer so treffend auf eine benachbarte Gebäudewand gesprüht hat: "Ganz schön gruselig hier!"


Auf langgezogenen Rennsteigwegen kommen wir ohne nennenswerte Höhenunterschiede zügig voran. Wanderer treffen wir nicht, dafür aber einige Mountainbiker, die mit Helmen und kleinen Rucksäcken an uns vorbeigeschossen kommen. Wenigstens kündigen sie sich vorher mit ihren Klingeln an. Da gibt es ja auch andere Problemfälle. Als wir in Rodacherbrunn ankommen, haben wir vier Stunden Wanderzeit und fast 16 Kilometer hinter uns - und Hunger. Eigentlich haben wir jeder etwas Proviant im Gepäck, aber wenn doch schonmal so ein netter kleiner Wanderimbiss am Wege liegt... 


Mareilles Wanderimbiss in Rodacherbrunn ist eine Institution, da MUSS man rein. Drinnen ist es so warm, dass Dieter und mir sofort die Brillengläser beschlagen. Die Wände sind nahezu tapeziert mit Bildern aus feuchtfröhlichen Hüttentagen, ein kleines Akkordeon liegt in einer Ecke auf dem Stuhl. Aber nur ein Gast sitzt an seinem Tisch bei einem Glas Bier, ein Mann aus dem Dorf, der sich bald verabschiedet. Wahrscheinlich gibt es zu Hause jetzt Mittagessen. Während ich meinen Gulasch mit Spätzle und Dieter seinen Wurstteller verdrücken, beklagt sich Mareille, dass es bisher in diesem Jahr so wenig Wanderer gäbe. "Von Jahr zu Jahr werden es weniger. Na ja, bis ich meine Rente durch habe, sitze ich hier noch meine Zeit ab und dann ist Schluss!" Schade eigentlich! Am liebsten würde ich die vier-fünf Wanderer, die ich gerade draußen vor dem Fenster vorbeiziehen sehe, hineinwinken und sie bitten, reichlich was zu verzehren. Natürlich tue ich es nicht. 


Vor 23 Jahren, also recht bald nach der Wende, hat Mareille versucht, sich mit diesem Imbiss und einer Zimmervermietung nebenan eine Existenz aufzubauen. Am Anfang, als das vereinigte Wander-Deutschland den guten, alten Rennsteig wiederentdeckte, lief es auch ganz gut, doch die Zeiten sind lange vorbei. Heute gibt es andere Top-Trails, Premiumwanderwege, und die führen nicht durch Rodacherbrunn. Schräg gegenüber von ihrem Haus steht ebenfalls ein altes Grenzergebäude. "Vor vielen Jahren lebte man noch ganz gut mit denen, dann wurde das auch viel schwieriger." Auf meine Frage hin, ob es hier auch Fluchtversuche gegeben habe, schmunzelt sie. "Ja, ein paar aus dem Dorf, und sie haben es alle geschafft."


Einen Steinwurf von Mareilles Gaststube entfernt steht die Napoleonslinde. Auf seinem Weg zur entscheidenden Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt hatte er in Rodacherbrunn in einem Gasthof Halt gemacht und diese jetzt sehr stattliche Linde gepflanzt. Auf dem Rückmarsch fällt diesem Menschen doch nichts anderes ein, als im Ort Häuser niederzubrennen und das Wirtshaus bis auf die Grundmauern vernichten zu lassen. Tut man denn sowas???


Inzwischen sind wir mittendrin im Naturpark Thüringisches Schiefergebirge. Wir sehen es in den Dörfern, in Rodacherbrunn, Gumbach, Brennersgrün. Blauschwarzer Schiefer herrscht hier vor, auf Dächern und an Hauswänden. Alle Häuser und auch die Kirchen sind eingepackt mit Schieferplatten. Manche Häuser sehen edel aus, viele aber auch nicht. Reichtum herrscht hier offensichtlich nicht. Im Wald hinter Brennersgrün blitzen auf einmal riesige Schieferabraumhalden zwischen den Bäumen hervor. Wir nähern uns dem gewaltigen ehemaligen Schiefer-Staatsbruch von Lehesten, das sich mit stolz "Schieferstadt Lehesten" nennt. Das "Blaue Gold" wurde hier einst im größten Schiefer-Tagebau Europas abgebaut und in den Westen verkauft. Bereits im Jahr 1300 hat man damit begonnen. Dachschiefer, Wandschiefer, Schultafelschiefer. Die Einheimischen mussten sich oft mit asbestverseuchtem Kunstschiefer begnügen.1990 war Schluss mit dem Schieferabbau. Heute ist der ehemalige Tagebaubetrieb ein "Technisches Denkmal".


Während ich mich hier umsehe, setzt sich Dieter auf eine Bank. Nach 27 km steht ihm nicht mehr der Sinn nach Schiefer. Ich gehe über den Zechenplatz bis zu einem Zaun vor - und dahinter bricht das Gelände fast 50 m senkrecht ab. Eindrucksvolle Wände sind das, mit Hammer und Stemmeisen von Menschenhand herausgehauen. Wo früher der tiefe Tagebaugrund war, liegt jetzt ein riesiger, blau schimmernder See. Grundwasser steigt auf, immer mehr. Keine Pumpen sind mehr im Einsatz, 2006 wurden sie abgeschaltet, der Tagebau säuft ab. Der Förderschacht mit der Göpelanlage steht noch, die Spalthütte, wo man das rohe Schiefergestein gespalten und zu Dach- und Wandschieferplatten geformt hat, weitere Gebäude, die Grubenbahnen. Auf einem Absatz auf halber Höhe der Grube stand das Dampfmaschinenhäuschen mit einem leicht windschiefen Schornstein. Inzwischen hat ihn das Grundwasser erreicht. Wie lange wird er noch zu sehen sein?


Auf Fotos in unser Unterkunft "Glück auf" am Marktplatz von Lehesten sehe ich, wie früher hier gearbeitet wurde. Kein schöner Arbeitsplatz!


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