Ein Haus für das Volk

Lehesten - Probstzella (16 km)


Das Frühstück heute Morgen fällt im Gasthof "Glück auf" mal wieder so aus, wie man es für so einen kleinen Beherbergungsbetrieb nicht unbedingt erwartet: mehr als üppig. Für unterwegs brauchen wir uns nichts zubereiten, denn wir schleppen noch unseren Proviant von gestern mit uns herum. Wir sollten mal die Reste verarbeiten. 


Seit zwei Tagen erzählt mir Dieter was von drohendem Dauerregen oder ergiebigen Schauern, die über uns ergehen sollen, aber als wir vor die Tür treten, scheint mal wieder die Sonne. Munter und ohne große Nachwirkungen nach der gestrigen langen Strecke ziehen wir zum Städele hinaus. 


Nach etwa einer halben Stunde sehen wir vor uns in einiger Entfernung eine Person auf dem Weg. Dem Körperbau und dem Gang nach zu urteilen schätze ich sie als Frau ein, Dieter tippt auf einen Mann. Die Person wandert, zweifellos. Rucksack, zwei Wanderstöcke. Als wir näher kommen, wird es eindeutig. Eine Frau, Kurzhaarschnitt. Sofort schwant mir, dass das nur die Holländerin sein kann, die ebenfalls auf dem Grünen Band unterwegs ist, ebenfalls mit dem Ziel Ostsee. Herr Windecker von unserer Unterkunft in Bad Elster und genauso Frau Weitermann in Hirschberg hatten uns von ihr, die sie bei ihnen übernachtet hatte, erzählt. Ich dachte mir schon, dass wir recht bald zu ihr auflaufen würden. Die Frage war nur, wo und wann. 


An einer Stelle, wo offensichtlich eine Markierung oder irgendein Hinweis auf den weiteren Wegverlauf fehlt, hält sie an, schaut sich suchend um und entdeckt dabei uns. Sie zuckt mit den Schultern und schaut uns fragend an. Mir ist sofort klar, das ist die Holländerin! "Sind Sie aus Holland?", frage ich sie direkt und sie guckt mich verblüfft an. "Ja, sieht man mir das an? Woher wissen Sie das?" Ich erzähle von Herrn Windecker und Frau Weitermann - und schon sind wir mitten im Gespräch. Hanni kommt aus Enschede, lebt aber in Deutschland, ist seit kurzer Zeit Rentnerin, hat zu Hause die Tür abgeschlossen, die Nachbarin gebeten, aufs Haus aufzupassen. Sie möchte unterwegs darüber nachdenken, wie es nun in ihrer Lebensgestaltung weitergehen soll. Nur warum sie sich dafür das Grüne Band ausgesucht hat, weiß sie auch nicht so genau. "Ich habe doch eigentlich mit Deutschland oder der ehemaligen DDR gar nichts zu tun, auch nicht mit dieser Grenze. Also was mache ich hier?" Diese Frage können Dieter und ich ihr natürlich auch nicht beantworten. Nur ihrer Frage, ob sie sich für heute uns anschließen könne, stimmen wir gerne zu.


Hanni ist im Besitz der gleichen Wegebeschreibung wie ich. Nur führt sie diese nicht als Buch mit, sondern als kopierte Seiten, die sie nach Gebrauch der Reihe nach entsorgt. Ein probates Mittel, Gewicht zu sparen. Allerdings beschwert sie sich heftig über die doch relativ allgemein gehaltene und dadurch nicht sehr genaue Beschreibung sowie über die recht mangelhaft vorgenommene Markierung mit einem einheitlichen Wegesymbol. "Wenn ich nicht mein GPS-Gerät dabei hätte und es nicht andauernd zu Rate ziehen würde, wäre ich schon einigemale verloren gewesen." Ich kann ihr da weitgehend zustimmen. Bisher nur konnte ich mich immer schnell wieder Anhand meiner Kartenausschnitte orientieren. Karten für das gesamte Grüne Band sind zwar ein Kostenfaktor und haben auch ihr Gewicht. Wenn man aber den engeren Bereich des Wegeverlaufs aus der Gesamtkarte ausschneidet und nur diesen Ausschnitt mit sich führt, hält sich das zusätzliche Gewicht auch in Grenzen. Und sie geben Sicherheit. Man weiß immer (oder meist), wo man sich befindet, kann mal sinnvolle Abkürzungen vornehmen oder nach einem Irrweg auf den rechten Weg zurückfinden. Auf meinem Handy kann ich zwar auch eine Navigation aktivieren, was ich manchmal sogar in großen Zweifelsfällen auch tue, dennoch möchte ich auf Karten nicht verzichten.


Gemeinsam steuern wir die nahe Lehesten gelegene KZ-Gedenkstätte "Laura" an. Doch wir finden kein Zeichen, keinen Hinweis, der uns den Weg dorthin weist. Jetzt kommt es zum Teamwork: Mit Hannis GPS ermitteln wir schnell unseren Standort, ich finde ihn auf meiner Karte und zehn Minuten später, am Rand eines großen Schiefersteinbruchs, treffen wir auf die Gedenkstätte.


Der Oertelsbruch ist neben dem Staatsbruch, den wir gestern gesehen haben, der zweite der beiden großen Schieferbrüche bei Lehesten. "Fröhliches Tal" heißt das Tal, in dem der Oertelsbruch liegt. Doch fröhlich ging es dort nie zu, selbst nicht in der Blütezeit des Schieferbruchs, Ende des 19. Jahrhunderts. Zwar gab es Arbeit, aber die war gefährlich und mühsam. Gegen Ende des II. Weltkrieges wurde der Oertelsbruch und mit ihm das "Fröhliche Tal" zur Hölle. Von September 1943 bis April 1945 lebten, arbeiteten und starben hier Häftlinge des KZs Buchenwald. Die SS hatte den Oertelsbruch beschlagnahmt und zum Außenkommando von Buchenwald umfunktioniert - Tarnname "Laura". In "Laura" wurden die Triebwerke der V2-Raketen getestet, Hitlers "Wunderwaffe", mit denen der Wahnsinnige glaubte, doch noch den "Endsieg" erringen zu können. Dass man die bei Nordhausen, am Südrand des Harzes, gebauten Triebwerke zum Test hierher brachte, hatte folgenden Grund: Ein Triebwerkstest lässt sich nicht unter Tage durchführen. Die beim Test entstehende Hitze und die Verbrennungsgase müssen entweichen können. In einer Schiefergrube, in der Sprengungen zum Arbeitsablauf gehören, sollten solche Tests weniger auffallen und nicht von den Luftaufklärern der Aliierten entdeckt werden. Für den Triebwerkstest wurden große Mengen an flüssigem Sauerstoff benötigt, der vor Ort unter Tage produziert wurde, um nicht aufzufallen. Stollen und Kavernen mussten dazu in das Gestein getrieben werden. Hierzu und für die Verlegung der Gleise, auf denen die Triebwerksköpfe zu den Testrampen transportiert wurden, missbrauchte man die Buchenwald-Häftlinge. Sie waren in einer großen Scheune untergebracht, auf zwei Etagen übereinander, in Holzverschlägen. Kranke und gesunde Häftlinge lagen auf engstem Raum zusammen. Häftlinge starben an den unmenschlichen Arbeitsbedingungen oder an Krankheiten aufgrund der katastrophalen hygienischen Verhältnisse. In der 19 Monate andauernden Lagerzeit lebten in "Laura" über 2.500 Häftlinge, meist Ausländer, vor allem aus Frankreich, Belgien, Polen, Italien und der Sowjetunion. Bis Kriegsende waren fast 600 Lagerinsassen gestorben.


Nach Verlassen der Gedenkstätte tauschen Hanni, Dieter und ich uns über das soeben Gesehene aus und fragen uns, wie Menschen so etwas tun, zulassen oder ertragen und überleben konnten. Gleichzeitig wissen wir, dass es seitdem in vielen Ländern der Welt solche Geschehnisse trotzdem erneut gab oder es immer noch gibt. Der Mensch lernt nicht aus seinen Fehlern. Bei diesen Gedanken und gemeinsamen Gesprächen sind wir unaufmerksam und stellen prompt irgendwann fest, dass wir nicht auf dem richtigen Weg sind. Wieder treten Hannis GPS und meine Karte in Aktion und schnell stellen wir fest: Wir sind nicht richtig, aber auch nicht falsch. Der Weg ist zwar ein anderer, aber sogar der ein wenig kürzere - und kein Kolonnenweg. Auf einer kleinen und praktisch unbefahrenen Landstraße ziehen wir munter über die Höhe, genießen die weiten Ausblicke über die thüringisch-fränkischen Berge und steigen dann steil ins Steinbachtal hinab, zurück zur ehemaligen streng bewachten Grenze. 


Der Steinbach war genau die Grenze, auf unserer Seite Thüringen, jenseits des Baches Bayern. Der Grenzzaun lief auf halber Höhe am thüringer Hang entlang, deshalb bleiben wir hier unten, unmittelbar am Bachufer, vom Kolonnenweg verschont. Hinter einer Biegung taucht plötzlich ein Hof auf, auf der anderen Seite des Baches, also in Bayern. Alles wirkt wie ausgestorben, keine Menschen, kein Auto, keine Geräusche, außer denen der Vögel und des plätschernden Baches. Die Karte sagt mir, dass es die alte Steinbachsmühle sein muss. Obwohl ich gelesen habe, dass sie verlassen ist, steht sie mit ihren Gebäudeteilen noch recht passabel da. Ich bin neugierig, gehe zum Wohnhaus, stelle mich auf die Zehenspitzen und schaue durch ein Fenster. Was ich sehe, lassen meine Nackenhaare sich leicht kräuseln. Geranien stehen innen auf dem Fensterbrett (wahrscheinlich künstliche), Möbel wie aus Großmutters Zeiten, Teller stehen noch auf dem Tisch, Kissen liegen auf dem kleinen Sofa, alles genauso, als wohne hier noch jemand und wäre nur mal kurz außer Haus. Aber hier lebt niemand mehr, ich spüre das. Aber wann, wie, unter welchen Umständen ist dieser Hof verlassen worden? Welche Geschichte hat er zu erzählen? Als wir weitergehen, schaue ich mich mehrmals um, ob nicht doch das Fenster aufgeht und eine alte Frau mir vielleicht hinterherwinkt.


Eine halbe Stunde später sind wir in Probstzella. Seit 1952 gehörte Probstzella zur Fünf-Kilometer-Sperrzone. Drei Jahre zuvor war der Bahnhof des Ortes zum Grenzbahnhof für Interzonenzüge und für die Transit-Züge Berlin - München avanciert. Für viele Menschen, die früher aus Richtung München mit dem Zug nach Berlin reisen wollten, ist die hiesige Grenzübergangsstelle vielleicht noch ein Begriff. Was Helmstedt-Marienborn für den Autoreisenden war, war Probstzella für den Zugreisenden. Unfreundlichkeit, Gefühlskälte, Unnahbarkeit, Machtgehabe der Diensthabenden bei der langen Personen-, Gepäck- und Zugwaggonkontrolle, Angst, Wut, aber auch Ohnmacht bei den Reisenden. Eine ältere Frau, der wir vor dem alten Bahnhof begegnen und die uns mitteilt , dass das Grenzbahnhofsmuseum leider noch wegen Umbauarbeiten geschlossen habe, erzählt uns von Fluchtversuchen. Sie selbst, als Mitarbeiterin des Zugpersonals, hätte beobachten können, wie ein junger Mann bei Anfahrt eines Zuges versuchte aufzuspringen. "Aus allen Richtungen wurde auf ihn geschossen. Wir sind gelaufen wie die Hasen, um uns vor den Kugeln in Sicherheit zu bringen."


Nur weniger Meter nach dem alten Bahnhof hat Hanni ihr Ziel für heute erreicht. Sie hat im "Haus des Volkes" ihr Einzelzimmer gebucht. Es ist ein besonderes Haus. Von der Bahnhofstraße aus gesehen steht es hinter anderen niedrigen Häusern in der zweiten Reihe, aber dennoch thront es förmlich über seiner Umgebung. Für seine Umfeld, ja für den ganzen Ort scheint es zu groß geraten, absolut überdimensioniert. Ein massiger Zweck-Baukörper mit Stummelturm in der Mitte des Walmdaches. Von außen vielleicht nicht wirklich schön, es wirkt fast etwas monströs, fast schon großkotzig.


Der Mann, der das Haus des Volkes 1927 erbauen ließ, wird heute noch - oder besser: heute wieder - in Probstzella verehrt: Franz Itting. Er war ein Industriepionier, der mit der Gründung von Elektrizitätswerken die Gegend bestromte und in ursozialdemokratischer Überzeugung sich "seinen" Arbeitern verpflichtet sah. Deren Arbeit sollte sinnvoll sein, der Lohn gerecht, der Feierabend schön. Mit seinem Haus wollte er der Bevölkerung Probstzellas Gutes tun, zum Feiern, Lernen, Sich-Versammeln. Das hat er auch getan und ein Kulturzentrum gebaut mit Hotel- und Gaststättenbetrieb, Kegelbahn, Bädern, Tanzsaal, Kino, Turnhalle. Von einem Bauhaus-Baumeister wurde ein einzigartiges Baudenkmal für das Bauhaus, eine Urzelle der modernen Architektur, errichtet. Itting wurde von den Nazis als "Roter" mehrfach verhaftet und ins KZ verbracht, von den SED-Funktionären als "Kapitalist" ins Gefängnis gesteckt und nach einem Schauprozess enteignet. Letztendlich gelang ihm die Flucht in den Westen. Das Gebäude ließ man verfallen. Erst vor einigen Jahren konnte das "Haus des Volkes" dank einer privaten Initiative gerettet werden.


Zusammen mit Hanni gehen Dieter und ich in dieses besondere Haus. Während Hanni eincheckt und Dieter unmittelbar das Restaurant zwecks Aufnahme von Füssignahrung aufsucht, streife ich ein wenig durchs Haus. Blauer Saal, Roter Saal mit Bühne, Kegelbahn. Im Blauen Saal ist für eine heute Nachmittag stattfindende Jugendweihe eingedeckt. Wir setzen uns an einen ganz zwanglos bereitgestellten Tisch, essen Himbeersahnetorte und trinken Kaffee. Mehr als eine Stunde verbringen wir in diesem so besonderen "Haus des Volkes", erst dann laufen Dieter und ich ein paar hundert Meter weiter und beziehen unser deutlich bescheideneres Pensionszimmer beim Gasthaus Stapel in der Marktstraße. Auch hier ist Jugendweihe angesagt.


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Kommentare: 2
  • #1

    Ein Grenzwanderer (Sonntag, 03 Mai 2015 22:17)

    Hallo Reinhard !
    Danke für den eindrucksvollen und nachdenklichen Bericht vom heutigen Tag. Auch wenn man die beschriebenen Orte bereits kennt, ist es interessant, darüber etwas zu lesen.
    Auch 2012 blühten schon die Geranien hinter den Fensterscheiben der Steinbachsmühle.
    Eine schöne weitere Wanderung !

  • #2

    Die Pilgertochter (Montag, 11 Mai 2015 16:27)

    Genau! Schööön die Vorräte aufessen! Nicht, dass der Camembert wieder "Pfötchen gibt" wie auf dem Jakobsweg...