Ab in den Himmel

Probstzella - Tettau (21 km)


Heute wird es regnen! Im Laufe des Vormittags soll er einsetzen. Regen ist nicht so schlimm, unter unseren großen Schirmen können wir das grundsätzlich ganz gut aushalten. Nur bei einem anstrengenden Aufstieg muss das nicht sein. Dann brauche ich beide Hände, um meinen Wheelie "bei den Hörnern zu packen" und ihn so den Berg hochzuziehen. Ich habe aber nur zwei Hände, und mit einer zu ziehen, während die andere den Schirm hält, ist schwierig. Der Berg kommt direkt hinter Probstzella, also sollte der Regen bitte warten, bis wir oben sind.


Um 8.30 Uhr traben wir los, zehn Minuten später stehen wir am Fuße des Kolonnenweges, der einst die Grenzer aus der Kaserne von Probstzella in ihren Kübelwagen hoch an die Grenze brachte. Damit hatten sie es damals einfacher als wir jetzt. Es geht sofort recht brutal bergauf, sozusagen ein Start von Null auf Hundert. Wir hecheln, die Lungenflügel flattern, erster Schweiß treibt durch die Poren. Nur wiederholte Blicke ins Tal entschädigen etwas für die Mühen. Immer tiefer bleibt Probstzella unter uns zurück, deutlich beherrscht vom "Haus des Volkes", dessen Größe von hier aus erst recht deutlich wird. Daneben der unrühmliche Bahnhofsbereich.


Doch weiter hoch! Immer weiter! Hinter einer Biegung sehen wir unvermittelt einen Menschen mit zwei Stöcken und Rucksack sich ebenfalls den Berg hochschleppen - Hanni. Sie ist noch langsamer als wir, und das will schon was heißen. Nur langsam, gaaanz langsam schließen wir zu ihr auf. Das heißt, im Endeffekt wartet sie auf uns an einer Bank, bis wir auch da sind. Sie schaut etwas verzweifelt drein, die Steigung gereicht ihr ebenfalls wahrlich nicht zur Freude. "Darf ich mich euch wieder anschließen, das hat gestern mit euch Spaß gemacht und ich glaube, alleine schaffe ich das heute nicht." Natürlich haben wir kein Problem damit, außerdem glaube ich, dass sie Angst davor hat, den Weg wegen der stellenweise nicht gerade optimalen Markierung aus den Augen zu verlieren. Während des weiteren Anstiegs bestätigt sie mir genau das, während sie sich dabei mühsam mit ihren Stöcken den Berg hochzustemmen versucht. Sie beichtet mir, dass sie sogar darüber nachdenkt aufzuhören, so sehr scheint sie von der Markierung frustriert zu sein. Die Höhenmeter der letzten Tage und jetzt gerade im Moment und die Notwendigkeit, auf dem Kolonnenweg durchgehend äußerst konzentriert sein zu müssen, verstärken wahrscheinlich noch ihren Frust. Ich versuche, ihr gut zuzureden, sie zu motivieren, ihr klarzumachen, dass die nächsten Tage einfacher sein sollen und auch die Markierung sich verbessern soll. So schnell aufzugeben, ist vielleicht doch etwas verfrüht, zumal sie körperlich keine Beschwerden hat. Wir werden sehen, wie sie sich entscheidet.


Es geht immer weiter hoch, Probstzella wird kleiner und kleiner, aber verschwindet nicht. Eine weit ausholende Serpentine macht den Weg zwar ein wenig weniger steil, aber Probstzella bleibt lange noch sichtbar, mal zur linken Hand, dann zur rechten. Erst nach fast zwei Stunden scheinen wir es geschafft zu haben, der Weg wird flacher, geht dann sogar leicht bergab. Inzwischen sind wir so hoch, dass wir die tief hängenden Wolken erreicht haben, es fängt an zu nieseln. Doch der Regenschirmeinsatz lohnt sich noch nicht, da muss es schon noch schlimmer kommen.


Auf der Höhe queren wir die Landesgrenze, von Thüringen geht es nach Bayern. Als wir aus dem Wald herauskommen, sehen wir Burg Lauenstein etwas weiter unten auf einer Kuppe über dem Loquitztal thronen, zu weit weg, um einen Abstecher dorthin zu machen. Man kann nicht alles haben. Unser erstes Zwischenziel ist die Thüringer Warte. Weit kann er nicht mehr entfernt sein, aber er versteckt sich im Wald, oben auf dem Ratzenberg. Doch wir rücken ihm zu Leibe, irgendwann blitzt seine Spitze aus dem Birkenwäldchen hervor. 


Die Thüringer Warte ist ein bayeriischer Aussichtsturm, 678 m hoch gelegen, hart an der Grenze zu Thüringen. Am 17. Juni 1963, also am Tag der deutschen Einheit, wurde er vom damaligen Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Dr. Rainer Barzel, vor 6000 Gästen seiner Bestimmung übergeben. In den folgenden 26 Jahren der deutschen Teilung ist nahezu eine Millionen Menschen auf dem "Leuchtturm des Westens" gestiegen, neben Einheimischen und Touristen viele ehemalige Thüringer. Die einen schauten neugierig nach"Drüben", die anderen warfen einen wehmütigen Blick in ihre ehemalige Heimat. Doch seit der Wiedervereinigung sind die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen. Seit 1990 ist die Thüringer Warte nur noch ein ganz normaler Aussichtsturm.


Auch als wir ihn erreichen, sind wir alleine hier oben. Inzwischen ist der Nieselregen stärker geworden und wir begeben uns in sein Inneres. Holzstufen führen nach oben, an den Wänden Tafeln, die über den Grenzaufbau informieren, über Grenzzwischenfälle, Schicksale, illustriert mit Schwarz-Weiß-Fotos, Zeitungsausschnitten und Kopien von Einsatzberichten der Grenztruppen und Stasi-Akten. Während ich mir das alles ansehe, sitzen Hanni und Dieter auf den untersten Stufen der Holztreppe und betreiben gepflegte Erholung. Ich kämpfe etwas mit mir, entschließe mich aber dann, den Turm zu erklimmen. Von der Aussichtsplattform soll hervorragend zu erkennen sein, wo sich Grenzzaun und Spurenstreifen einst durch den Wald wanden. Eine hellgrüne Narbe in einem dunkelgrünen Fichtenmeer. 


Als ich recht willig die ersten Stufenabschnitte ersteige, schaue ich wiederholt aus kleinen Seitenfenstern und sehe schnell - dass ich nichts sehe. Nur grau, grau, grau. Vielleicht erreicht der Blick die nächsten zehn Baumreihen, aber von Thüringen erkenne ich nichts. Also warum weiter hochsteigen? Ich drehe um und gehe wieder runter. Fünf Minuten später lassen wir den Turm hinter uns.


Bald darauf sind wir wieder "im Thüringischen" und biegen sofort hinter den Grenzsteinen wieder auf unseren geliebten Kolonnenweg ein. Prompt nervt er uns wieder gewaltig. Unsere Hoffnung, die heutigen Steigungen hinter uns zu haben, erweisen sich als trügerisch. Es geht wieder aufwärts, nein, es geht in den Himmel. Wie haben diese Kübelwagen mitsamt Grenzer das nur geschafft? Die müssen doch irgendwann hier rückwärts wieder runtergerollt sein. Immer wenn wir einen Himmel endlich erreicht haben, gilt es nach 20 m etwas abgeflachter Strecke, den nächsten Himmel zu erobern. Doch ich muss mir immer wieder klarmachen: Grenzer überwachten hier einst den Eisernen Vorhang. Lückemlos und gnadenlos. Dass ich jetzt hier gefahrlos, und ohne Angst vor Todesschützen, mit meinem Wheelie entlangziehen kann, ist ein Geschenk, auch wenn ich im Moment schwitze und stöhne.


Und dann geht es abwärts, richtig abwärts! Über eine weite Feldflur hinweg streben wir Lichtenhain entgegen. Der Nieselregen ist mittlerweile kein Nieselregen mehr, er wird stärker, genauso wie der Wind. Zusammen mit einer vom Bergaufsteigen durchgeschwitzten Kleidung keine gute Mischung. In Lichtenhain soll es eine kleine Kneipe geben, hoffentlich hat sie auf...


Sie hat! Ein Segen! Wir brauchen Erholung, etwas Wärme, eine Kleinigkeit zu essen, Dieter sein Schwarzbier. Mit der Wärme hapert es etwas. Ab Mai heizt man hier wohl nicht mehr so gerne, aber alles andere klappt. Hanni und ich teilen uns eine Portion Rouladen mit Klößen und Rotkohl, Dieter ersetzt die Rouladen mit einem Stück Gans. Was anderes hätte es heute übrigens nicht gegeben. Sonntags kocht die Wirtin nur diese beiden Gerichte. Fertig! Sohn und Ehemann sitzen ebenfalls mit uns am großen runden Stammtisch, die anderen Tische sind bereits für eine Gesellschaft am Nachmittag eingedeckt. Während des Essens beschließt Hanni, für heute ihre Wanderung zu beenden. Ihre Unterkunft liegt noch gute 15 km entfernt, abseits des Grünen Bandes, sie ist aber jetzt schon k.o. Mit fraulich holländischem Charme bringt sie den Sohn des Hauses dazu, sie zu ihrer Unterkunft zu fahren. Von da an schmecken ihr die Rouladen nochmal so gut. Beim Essen kommen wir natürlich wieder mit der Wirtsfamilie in Gespräch. Aus dem Fenster heraus zeigen sie uns, wo der Grenzzaun verlief, nicht nur der eine, der eigentliche Grenzzaun, auch der andere, der Hinterlandzaun. "Wir waren eingeschlossen, von beiden Zäunen. Wir lagen ja unmittelbar in der 500 m - Schutzzone. Gleich hinter unserem Hof verlief der Hinterlandzaun." Er führt mich hinaus auf den Flur zu einer Luftbildaufnahme von Lichtenhain und der Gefangenschaft zwischen den Zäunen. Deutlich ist zu erkennen, wie nah der Zaun an das Grundstück des Gasthauses heranreichte. Wie ertrug man das? Ist die oft gehörte Antwort "Wir kannten es halt nicht anders" wirklich so einfach? Der Vater kommt mit dazu. Als der Sohn auf ein großes Gebäude zeigt und sagt: "Das da ist die Grenzkaserne, die steht heute noch da. Mein Vater hat da auch als Grenzer gedient", dreht der Vater sich um und geht langsam zurück in den Gastraum. Ist diese Aussage seines Sohnes ihm unangenehm? Die Mutter kommt in den Flur und ruft lachend: "Nun kommen Sie mal, kalte Klöße schmecken doch nicht!" Recht hat sie ja, aber die Klöße sind immer noch gut warm und schmecken hervorragend.


Dieter und ich brechen wieder auf, Hanni ist glücklich, gefahren zu werden. Ob wir uns nochmal wiedersehen, wissen wir nicht. Wird sie morgen Abend schon wieder zu Hause sein? 


Dort, wo direkt hinter dem Kneipengrundstück der Hinterlandzaun verlief, zieht jetzt eine schmale Straße einen Hügel hoch. Sie ist noch nichtmal auf meiner Karte verzeichnet und ist von nun an für zwei Kilometer unser Weg. Komisches Gefühl, genau hier jetzt herzulaufen, genau "auf dem Zaun". Wir treten ihn mit Füßen. 


Dann zweieinhalb Kilometer schnurgerade Landstraße bis zur "Kalten Küche", einem kleinen Imbiss, wo wir wieder auf den Rennsteig stoßen - und ihn sofort auch wieder verlassen. Die letzten Kilometer Kolonnenweg bei Tettau warten auf uns. Wenn der Regen nicht wäre, könnte es für heute ein schöner Abschluss sein. Der Grenzstreifen ist breit, links und rechts begrenzt von Nadelwäldern und sieht aus wie eine Heide, Ergebnis der regelmäßigen Beweidung durch Schafe und Rinder. Ein großes Schild sorgt sehr schnell wieder für Ernüchterung. Wir lesen mal wieder von einem schlimmen Flüchtlingsschicksal an dieser Stelle. Fritz Zapf wurde am 7. Juli 1964 "beim Versuch, die Staatsgrenze Richtung WD zu durchbrechen, durch Anwendung der Schusswaffe tödlich verletzt". Gemäß der Tagesmeldung des Grenztruppen-Kommandos "gab der Renzposten 6 Warn- und 31 Zielschüsse ab, wobei der Z. einen Kopf- und einen Lungenschuss erhielt". Die beiden Grenzsoldaten erhielten dafür das Leistungsabzeichen der Grenztruppen. Sie hätten sich ausgezeichnet verhalten, weil sie den Grenzverletzer "mit gezieltem Feuer vernichtet" hätten.


Etwa einen Kilometer von dieser Stelle entfernt wechseln wir wieder nach Bayern hinüber, unserer Unterkunft wegen. Der Wildberghof wurde in den 1970er-Jahren von Frankfurter Kommunarden gekauft, die auf diesem grenznahen Einödshof ein autarkes Leben führten. Sie produzierten Bio-Käse und engagierten sich in der Betreuung sozial benachteiligter Menschen. Dietrich und Angelika Schütze., Kommunarden der ersten Stunde und inzwischen weit über 70 Jahre alt, leiten bis heute die Geschicke des Hofes, und die junge Steffi kümmert sich um das Wildberg-Café, das immer sonntags geöffnet hat. 


Wir könnten hier im Heu schlafen, sind aber froh, dass es auch eine Ferienwohnung gibt. Dietrich Schütze kommt gerade aus der Tür, als wir den Hof betreten. "Ich habe gerade gedacht, guck doch mal, ob die beiden Wanderer nicht kommen. Und da seid Ihr! Herzlich willkommen!"


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Kommentare: 1
  • #1

    Der kronprinz (Dienstag, 05 Mai 2015 08:51)

    Ich glaube, das alles so hart und grau in grau zu erleben, ist auch eine nachhaltige Erfahrung...