Hab Erbarmen, Kolonnenweg!

Tettau - Neuhaus-Schierschnitz (22 km)


Heute morgen müssen wir uns das Frühstück selbst bereiten. In der Ferienwohnung von Diedrich und Angelika Schütze, den alten Kommunarden, wird nichts serviert. Der Kühlschrank hat alles Notwendige zu bieten. Ich backe Brötchen auf und decke den Tisch, während Dieter Kaffee kocht und sechs Eier für eine Rühreimahlzeit in die Pfanne kloppt. Nach solcher Art Frühstück und dem Spülen machen wir uns wieder auf den Weg. Diedrich, draußen schon bei der Arbeit, geht mit uns bis an seine Hofgrenze und zeigt uns, wo es langgeht, während eine seiner beiden Ziegen sich an seiner Hüfte schubbert. Als wir losziehen, ruft er uns ein "Macht's gut!" hinterher und stolziert mit seinen schweren Gummistiefeln zu seinem Hof zurück. 


Wir bleiben zunächst auf der bayerischen Seite, können den Grenzstreifen nicht nach Thüringen hinüber und zum Kolonnenweg kreuzen, da er mit (wahrscheinlich Strom führenden) Drahtzäunen eingefasst ist. Schafe und Rinder beweiden hier den Grenzstreifen. Ein Hohlweg bringt uns schließlich zum Weiler Sattelpass. Die wenigen Häuser hier, an denen wir nun auf der ordentlich ansteigenden Straße vorbeiziehen, haben viel erlebt. Der gleichnamige Pass ist nicht ein Übergang über den Kamm eines Berges, sondern eine Engstelle im Verlauf einer einstigen Heer- und Handelsstraße, auf der Nürnberger Kaufleute früher zur Messe nach Leipzig fuhren. Da mit Kaufleuten gute Geschäfte zu machen waren, siedelten sich hier tatkräftige Menschen an. Doch nicht nur friedliche Kaufleute zogen durch, auch Wallenstein und Napoleon mit ihren Truppen, ungebetene und unangenehme "Gäste". Ab 1920 verlief am Sattelpass die Grenze zwischen Bayern und Thüringen. Über den Pass zog sich 1945 - 1949 zwischen der amerikanisch und der sowjetisch besetzten Zone die Demarkationslinie, die ab 1949 die Staatsgrenze West der DDR wurde. Alle Häuser der Siedlung Sattelpass lagen auf dem Territorium der DDR. Es dauerte nicht lange und die ersten Häuser wurden abgerissen, vor den übriggebliebenen verliefen die Grenzzäune.


Jetzt beginnt der angenehme Teil des Tages. Die Regenwolken verziehen sich immer mehr und geben der Sonne Platz, wir erreichen einen schönen Mischwald mit kräftigem Harzaroma und Vogelgezwitscher - und es geht bergab, kilometerweit auf schönen Waldwegen sanft bergab, durch den Klettnitzgrund 200 Höhenmeter hinunter an den Fuß des Schiefergebirges. Doch damit ist der angenehme Teil noch nicht zu Ende. Weitere Kilometer auf einem Radweg durch das breite Tettautal schließen sich an. Hier unten ist es merklich wärmer als vorher auf den Höhen und wir kämpfen etwas mit der Entscheidung, unsere Jacken auszuziehen und im T-Shirt weiter zu wandern. Da der Weg uns aber keine körperlichen Anstrengungen abverlangt, bleiben wir vernünftig und behalten die Jacken an.


Durchs gesamte Tal hindurch begleitet uns die alte Trasse der Bahnlinie Tettau- Pressig, durch Doppelreihen von Fichten und Birken eindeutig markiert, aber auch als Damm, der mehr oder weniger gradlinig durch die Wiesen führt, erkenntlich. Die Bahnlinie hatte für die Porzellan- und Glasindustrie eine große Bedeutung. 15-20 mit Rohstoffen beladene Waggons fuhren täglich zum 620 m hoch gelegenen Tettau. Im Gegenzug liefen 10-12 mit Porzellan und Gläsern beladene Waggons von Tettau hinunter ins 377 m hoch gelegene Pressig. Auch Personenverkehr gab es, täglich 3-4 Zugpaare. Die Endpunkte Tettau und Pressig liegen in Bayern, der dazwischenliegende Streckenabschnitt Heinersdorf - Schauberg in Thüringen. Bis ins Frühjahr 1945 war das kein Problem, doch nach Ende des Krieges fuhren die Züge über mehrere Kilometer durch die sowjetisch besetzte Zone. Insgesamt 14-mal kreuzte die Strecke die Grenze der Besatzungszonen. Das führte zu Schikanen. In Heinersdorf führten die Sowjets Fahrgastkontrollen durch. Der Zug wurde oft stundenlang festgehalten. Nicht selten wurde der Zug sogar auf offener Strecke angehalten, die Reisenden abgeführt und auf der Kommandantur zum Kartoffelschälen gezwungen. Im Mai 1952 endete der Zugverkehr von einem Tag auf den anderen. Die DDR ließ keinen Zug mehr passieren. Noch im gleichen Jahr begann man auf DDR-Gebiet mit dem Abbau der Gleise.


Nach drei Stunden erreichen wir Heinersdorf. Das erste Gebäude steht leer, nur noch Fensterhöhlen, mehrstöckig, viel zu klotzig für das Dorf, eine Ruine fast: die Kaserne der Grenztruppen. Wieder einmal eine. Überall entlang der ehemaligen Grenze stehen sie am Rande der Ortschaften, heruntergekommen, ruinös, meist asbestverseucht, für eine Renovierung viel zu teuer, für die Erinnerung ein Dorn im Fleisch.


Das Dorf zieht sich. Irgendwann bei einer Straßenecke ein kleiner Spielplatz mit Wippe, Mini-Sandkasten und einer Bank. Wir machen Pause. Jacken und Schuhe aus, Proviant raus, Füße auf den Wheelie und entspannen. Dann weiter, im T-Shirt, es ist richtig warm geworden. Am anderen Ende des Dorfes eine Gedenkstätte: ein Findlingsdenkmal "zum Gedenken an die friedlich erzwungene Grenzöffnung". Daneben ein Findlingsdenkmal "den Opfern der innerdeutschen Grenze". Daneben eine erhaltene Originalflusssperre über die Tettau, damit auch nachts und bei Hochwasser keiner abhaute, schwimmend, tauchend oder mit dem Faltboot, daneben ein Stück Originalmauer.


Auch hier in Heinersdorf wurden die Menschen 1952 auf ihre "Zuverlässigkeit" überprüft. Im Rahmen der Aktion "Ungeziefer" sollten Familien und Einzelpersonen, die auf irgendeine Weise auffällig waren, sei es, dass sie Westkontakte hatten, die Polizei kritisierten oder des Schmuggels verdächtigt wurden, zwangsweise evakuiert werden. Missliebige Personen wurden in aller Herrgottsfrühe von der Volkspolizei geweckt und mussten rasch ihre Siebensachen packen. Dann wurden sie mitsamt ihrem Gepäck auf LKW und in Güterwaggons ins Innere der DDR verfrachtet. 130 Heinersdorfer flohen damals in den Westen. Da half auch die Abriegelung der Grenze durch die Volkspolizei nichts. Dann allerdings kamen die Stacheldrahtzäune, später der doppelreihige Streckmetallzaun und schließlich die Mauer.


Exakt wo früher diese Mauer stand, steht heute ein großes Werksgelände und ein riesiger Solarpark. Wir umgehen beide und beginnen einen Aufstieg. Erst hinter dem vor uns liegenden Berg liegt Neuhaus-Schierschnitz, also müssen wir da rüber. Und es wird eine Plackerei! Steiler und steiler schnürt der Kolonnenweg den Berg hoch. Wir stapfen mit großer Überwindung immer etwa 20 m voran, dann müssen wir wieder anhalten, gierig nach Luft schnappen, uns den Schweiß abwischen. Es hört und hört wieder nicht auf. Rauf, rauf, höher, höher, gleich sind wir oben, neiiiin!!!, der verdammte Kolonnenweg geht immer noch höher, hat kein Mitleid mit uns, mindestens 30 % Steigung sind es mal in einem Abschnitt, das ist doch sittenwidrig. 20 m - Stopp - 20 m - Stopp. Es hört nie auf!


Doch, es hört auf! Auch so etwas geht irgendwann zu Ende. Und dann wird es leicht, wunderbar leicht, kurz vor dem Schweben. Wir sind nur einen kurzen Moment richtig "oben", dann fällt der Weg, von nun an ohne Kolonnenplatten, förmlich ins nächste Tal hinab. Das ist nun auch wieder nicht so einfach. Teilweise ist es rutschig, die Knie jublieren. Trotzdem besser als diese Himmelsleitern! 


Unten angekommen verlässt uns mal wieder die Markierung oder die vorherigen Anstrengungen haben unsere Augen benebelt. Wir fragen zwei Jungen auf ihren Fahrrädern nach dem Weg und bekommen eine ausführliche Beschreibung. Mehr noch, wir bekommen eine Eskorte. Sie wollen wohl sichergehen, dass die zwei alten, bemitleidenswerten Männer auch wirklich in Neuhaus-Schierschnitz ankommen. Als wir uns trennen, bekommen die beiden Steppkes von mir einen Euro zugesteckt, Hilfsbereitschaft muss belohnt werden.


Eine halbe Stunde später stehen wir am Ortsanfang vor unserem kleinen Hotel - und Hanni winkt uns schon entgegen. Sie hat mit dem Bus überbrückt und will das auch in den nächsten Tagen so fortführen.


Seit zwei Tagen gibt es Nachrichten, die den weiteren Ablauf von Dieters und meiner gemeinsamen Wanderung durcheinander bringen. Ab morgen Nachmittag streiken mal wieder die Lokomotivführer, Dieter wollte aber am Mittwoch seine Heimreise antreten. Seit Stunden geht ihm dieses Problem im Kopf herum. An der Rezeption unseres Hotels beraten nun der Hotelier, Hanni und Dieter die noch vorhandenen Möglichkeiten. Ergebnis: Dieter fährt schon morgen früh, um dem Streik zuvorzukommen. Das kommt jetzt plötzlich, ist aber wohl am vernünftigsten.


Um 18 Uhr treffen sich Hanni, Dieter und ich in der dem Hotel angegliederten Pizzeria und essen lecker zusammen. Dieter bezahlt - zum Abschied. Danke, mein Freund, es waren schöne Tage mit dir!


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Kommentare: 1
  • #1

    Lore (Dienstag, 05 Mai 2015 21:06)

    Hallo Reinhard,
    es war wieder so schön zu lesen heute. Peter hatte mich schon neugierig gemacht, er hat mehr Zeit und liest meist früher als ich.
    Liebe Grüße und fröhliches Weiterwandern!
    Lore