Restrisiko

Neuhaus-Schierschnitz - Fürth am Berg (17 km)


Neue Erkenntnislage für Dieter: Fährt er heute schon mit einem Zug nach Hause, gilt seine bereits vor Wochen gekaufte Fahrkarte nicht. Also geht er heute doch nochmal mit und versucht sich ab morgen früh mit Zügen Richtung Heimat vorzuarbeiten, die trotz allgemeiner Streiklage eventuell doch fahren. So wird der Abschluss seines Abenteuers Grenzwanderung nochmal richtig spannend.


Mit Schwung wollen Dieter und ich um kurz vor 9 Uhr starten, als wir, kaum stehen wir vor dem Hotel auf der Straße, auch schon wieder anhalten. Wir freuen uns zwar über den Sonnenschein, aber die Luft hat nicht die schöne Frische, die uns sonst ermuntert hat, zügig loszumarschieren, um nicht zu frösteln. Jetzt sind es bestimmt schon mindestens 20°C und die Luft ist feucht-schwül, fast so, als würde man gerade ein Badezimmer betreten, in dem kurz vorher heiß geduscht worden ist. Wir rödeln wieder alles ab, reißen uns die Anoraks vom Leib und kommen selbst dabei schon wieder ins Schwitzen.


Hinter dem Gewerbegebiet von Neuhaus-Schierschnitz treffen wir wieder auf den Kolonnenweg. Doch heute begegnen wir ihm relativ entspannt. Die Karte und die vor uns liegende Landschaft deuten darauf hin, dass es die nächsten Kilometer nicht schlimm werden kann. Leicht hügelig sieht es vor uns aus, weite Felder mit neongelbem Raps. Mitten durch oder an ihren Rändern läuft der Kolonnenweg entlang, schwingt ein wenig auf und ab, aber bevor wir anfangen können zu japsen, sind wir auch schon über den nächsten Hügel rüber.


Irgendwann dann neben dem Kolonnenweg ein Hinweisschild mit dem Vermerk: "Erhöhtes Restrisiko von Minen. Betreten und Befahren auf eigene Gefahr!" Leicht stellen sich mir die Nackenhaare hoch. Muss ich mir Gedanken machen? Theoretisch dürften seit Mitte der 80er-Jahre keine mehr im Boden liegen. Damals hatte Erich Honecker der Bundesrepublik garantiert, die Selbstschussanlagen und Minenfelder an der Grenze abzubauen, um von bundesdeutschen Banken einen Millionenkredit zu bekommen, den die marode DDR-Wirtschaft dringend benötigte. Doch als nach dem Fall der Mauer der Grenzstreifen nach Minen abgesucht wurde, kamen noch eine Menge zum Vorschein. Spezialfirmen, die zum Teil von findigen ehemaligen NVA- und Grenztruppenleuten gegründet worden waren, durchkämmten mit schweren, speziellen Räumfahrzeugen die Minenfelder erneut und sprengten oder zerstörten immer noch vorhandene Minen. Die Wahrscheinlichkeit, heute noch eine Mine auszulösen, ist aber wohl absolut gering. Allerdings wurden im Laufe der Zeit Minen durch hochwasserführende Bäche weggeschwemmt, weshalb sie nicht mehr aufzufinden sind. Darin besteht das Restrisiko. Da mit deutscher Gründlichkeit sowohl über verlegte als auch über wiederaufgefundene Minen penibel Buch geführt wurde, gibt es Quellen, die von 3.000 bis 20.000 nicht aufgefundenen Minen sprechen. Ich werde mit Sicherheit kein Risiko eingehen und auf den (Kolonnen)wegen bleiben. Das verspreche ich!


In der Nähe von Mitwitz Markt (Bayern) verlassen wir das Grüne Band, unabsichtlich. Wiedermal ist die Markierung dermaßen unzureichend, dass eine Orientierung schwer ist. Wir tappen etwas ins Nebulöse hinein, und als ich auf der Karte endlich feststellen kann, wo wir sind, finden wir uns auch schon in Bayern wieder. Warum auch nicht? Der einmal eingeschlagene Weg ist eher eine Abkürzung und der Kolonnenweg kein Evangelium. Zur innerdeutschen Grenze und ihrer Geschichte gehören nicht nur der 500 m - Schutzstreifen der DDR und die martialische Grenzbefestigungsanlage, sondern auch die "andere Seite", das frühere sog. "Zonenrandgebiet", in Bayern, in Hessen, in Niedersachsen, in Schleswig-Holstein. Auch hier hatten die Menschen mit dieser Grenze zu leben, haben Menschen etwas zu erzählen.


Vor allen Dingen haben sie ein Gasthaus, am Rand des kleinen Örtchens Bächlein, auf das wir "auf der anderen Seite", in Thüringen, im Schatten des Kolonnenweges, gar nicht gestoßen wären. Und zwar genau zur richtigen Zeit! Zwei stramme Wanderstunden liegen bereits wieder hinter uns und die Schwüle nimmt zu. Selbst ich trinke ein großes Glas Radler, für mich ein Ausnahmefall. Alkohol vor dem Abendessen, wenn auch nur in dieser geringen Radler-Dosierung, geht bei mir eigentlich gar nicht! Ich komme dann kaum noch hoch! Würde meinen Kopf lieber auf den Tisch legen, um ein Ründchen zu schlafen, als weitere Kilometer zu wandern. Doch diesmal geht alle gut. Nach einer Dreiviertelstunde treffe ich mich tatsächlich auf dem Wanderweg wieder und es geht eigentlich ganz gut.


Nach einem angenehm kühlen Wald, dem schönen Ort Schwärzdorf mit seinen großen alten Hofanlagen entlang der Dorfstraße und weiten blühenden Rapsfelder, kommen wir, mitten in einem solchen Rapsfeld, zu der Gedenkstelle für das ehemalige Dorf Liebau. Wir setzen uns auf eine Bank gegenüber der beiden Granitblöcke mit einer Marmorplatte. "Hier stand das Dorf Liebau ..."


Liebau lag bis 1975 im "Liebauer Sack", einem nach Bayern hineinspringenden kleinen thüringischen Zipfel. Als die DDR 1952 die Grenze sperrte, Stacheldraht und einen 10 -Meter - Kontrollstreifen anlegte, war Liebau von der Welt so gut wie abgeschnitten. Am 5. Juni 1952 erhielt der Bürgermeister von Liebau einen vertraulichen Telefonanruf einer übergeordneten Person, mit der er befreundet war: "Wenn ihr es jetzt nicht macht, schafft ihr es nie mehr!" Das ganze Dorf sollte evakuiert werden. Der Bürgermeister informierte seine Mitbürger und die Dörfler packten alles zusammen, was sie transportieren konnten, nahmen auch Maschinen und Vieh mit und setzten sich, samt Bürgermeister, nach Bayern ab. Von einundsiebzig Einwohnern blieben nur fünf. Ein Bauer soll in seiner Verzweiflung Selbstmord begangen haben, ein anderer in der Nervenheilanstalt gelandet sein.


In den folgenden Jahren begann die DDR aus nie geklärten Gründen, den Ort wieder zu besiedeln, eine Zufahrtsstraße wurde gebaut, eine LPG gegründet. Ein regelrechtes Vorzeigedorf sollte entstehen. Dann wieder eine Kehrtwende: Schon 1961 drohten erneut Zwangsaussiedlungen. Wieder flohen Menschen nach Bayern, andere kehrten in ihre angestammten Orte zurück. 1975 wurden die letzten Einwohner umgesiedelt und das Dorf dem Erdboden gleich gemacht. Heute wächst hier nur noch der Raps.


Nachdenklich gehen Dieter und ich weiter. Dieter vielleicht auch, weil er sich nun endgültig auf die letzten beiden Kilometer seiner Wanderung macht. Fürth am Berg ist gleich das Ziel - unserer Wanderung heute, aber wiedermal nicht unser Übernachtungsort. Der "Grenzgasthof", bei dem wir 20 Minuten nach dem Gedenkort Liebau auch vorbeigehen, ist seit einigen Jahren bereits geschlossen. Eigentlich wollte ich hier meinen müden Körper für die Nacht lagern, aber dank Internet erfuhr, dass das nicht mehr möglich ist. Der Wirt hatte Ende der 80er-Jahre ein großes Gästehaus mit hundert Betten an seinen Gasthof gebaut. Für die vielen noch zu erwartenden Busladungen mit Grenz-Kuckern. Aber noch vor der Einweihung kam die Wende.  Da sind dann zwar tatsächlich Busse am Horizont erschienen, aber vorbeigefahren, vollgeladen mit Ossis auf dem Weg nach München, Tirol oder Venedig.


Von Fürth am Berg aus soll uns ein Bus nach Neustadt b. Coburg bringen, von da aus dann ein anderer ins nahegelegene Meilschnitz, wo dann doch Betten auf uns warten. Meilschnitz ist auch das Ziel für morgen. Heißt also, morgen früh muss ich - dann ohne Dieter -  mit einem fahrbaren Untersatz nach Fürth zurück und zu Fuß geht es  halt wieder retour. Es wird nichts ausgelassen! 


Um 14.57 Uhr soll unser Bus fahren. Wir kontrollieren das auf dem Fahrplan an der Bushaltestelle. Stimmt! Bleiben uns noch ca. eine Dreiviertelstunde in der Tankstelle gegenüber. Dort gibt es ein Schwarzbier für Dieter, ein Eis und einen Pott Kaffee für mich - und für uns beide die verblüffende Mitteilung, dass der Busverkehr nach Neustadt b. Coburg schon seit etwa einem Jahr eingestellt ist! Halloooo??? Und was ist mit den so ganz anders lautenden Informationen im Internet oder auf dem immer noch vorhandenen Fahrplan an der Bushaltestelle? "In Fürth gibt es auch ein Taxiunternehmen", sagt die Betreiberin der Tankstelle. Na prima, bleibt uns wohl nichts anderes übrig... 


Nach einer Viertelstunde steht das Taxi vor der Tanksäule und rauscht mit uns nach Meilschnitz, eine weitere Viertelstunde später stehen wir vor "Monikas Gästehaus". So schnell kann's gehen! Ich engagiere die liebe Taxifahrerin für morgen früh, dann kann sie mich wieder nach Fürth kutschieren.


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Kommentare: 2
  • #1

    Ein Grenzwanderer (Mittwoch, 06 Mai 2015 00:36)

    Hallo Reinhard !
    Grenzwandern ist ein einmaliges Erlebnis, Du hast den Tag wieder wunderbar beschrieben. Und es ist genau richtig so, mal Kolonne, mal Ost, mal West...
    Weiterhin alles Gute !

  • #2

    Der kronprinz (Mittwoch, 06 Mai 2015 11:10)

    Mach bloß keinen Scheiß da mit den Minen...!!!