Kampfkalb

Fürth am Berg - Neustadt bei Coburg / Meilschnitz (11 km)


Dieter ist ganz locker, als wir beim Frühstück sitzen und ich ihn frage, ob er wegen des heutigen etwas ungewissen Tages ein wenig nervös sei. Er zuckt nur die Schultern. "Ich habe ja auf alles keinen Einfluss. Ich kann ja nichts machen. Entweder ich erwische Züge, die in meine Richtung fahren, oder nicht. Wenn ich irgendwie aktiv sein könnte, planen müsste, reagieren müsste, wäre ich vielleicht jetzt nervös, aber so ..."


Das Taxi ist mehr als pünktlich. Wir steigen beide ein. Mich bringt es zurück zum Endpunkt von gestern, Fürth am Berg, Dieter zum Bahnhof nach Neustadt. Das liegt auf dem Weg. Als er aussteigt, kann ich ihm nur viel Glück wünschen und danke sagen für mehr als drei Wochen Gemeinsamkeit. Er wirft sich seinen Rucksack über und verschwindet ins Bahnhofsgebäude. Die Taxifahrerin gibt wieder Gas und zehn Minuten später lässt sie mich beim Pleite gegangenen Grenzgasthof in Fürth am Berg raus. Ich beginne, meinen Weg alleine zu gehen.


Es ist nicht mehr so warm und schwül wie gestern. Die Luft hat sich merklich abgekühlt und es ist ganz schön windig. Im schnellen Wechsel ziehen die Wolken über das Land und es ist fraglich, ob sie die Fracht, die sie transportieren, halten können. Wenn schon! Selbst wenn es regnen sollte, habe ich für alle Fälle meinen Schirm auf meinen kleinen Tagesrucksack gespannt. Ja, es ist wieder nur der Rucksack! Da ich nachher sowieso wieder in Meilschnitz ankomme, konnte ich meinen Wheelie ja bequem in meiner Unterkunft zurücklassen. Außerdem hat er auch mal einen Ruhetag verdient.


Heute wird es nur so eine Art Morgenspaziergang werden. Etwa zwölf Kilometer oder so. Also kann ich es langsam angehen lassen. Ein Falke flattert aufgeregt über einem Rapsfeld und ein Kuckuck ruft laut und vernehmlich, als wollten beide mir zurufen: "Heiiii, wo hast du denn deinen Kumpel gelassen??? Du hast doch immer einen dabei gehabt? Hast du den vergessen? Und wo ist dein Wheelie?" Was antwortet man diesen Tieren? Die verstehen einen doch nicht.


Auf kürzestem Weg ist jetzt wieder Grenzhüpfen angesagt. Zehn Minuten hinter dem bayerischen Fürth am Berg geht es kurz vor Muppberg wieder nach Thüringen hinüber. Der Ort selbst gibt sich weitgehend minderpulsierend, kein Mensch, kein Tier regt sich. Auf einer kleinen Brücke überquere ich die Steinach und gehe dann an ihr entlang. DDR-Grenzer haben den einst naturbelassenen Bach, der im Laufe der Jahrunderttausende die Landschaft hier zu einer ebenen Schwemmlandfläche (Linder Ebene) gestaltet hat, begradigt, was in Folge immer wieder zu Hochwasser führte. Unwillkürlich denke ich an weggeschwemmte Minen und blicke den Uferhang entlang. Natürlich entdecke ich nichts, erschrecke mich nur, als plötzlich eine Ente aus dem Wasser emporflattert und empört schnatternd sich beklagt, warum ich denn ihre Ruhe störe.


Wenige Meter danach verlasse ich für heute das Grüne Band, um direkt über Neustadt nach Meilschnitz zu gehen. Das Grüne Band berührt weder Neustadt noch Sonneberg. Genau zwischen beiden Städten verlief nämlich die Grenze und damit jetzt auch mein geliebter Kolonnenweg. Doch wo heute eine Straße beide Städte wieder verbindet, ist es nicht mehr "grün". Ich habe gelesen von Supermärkten, Autowaschanlagen und Fastfooddealern auf riesigen Parkplätzen, beflaggt von der üblichen Logoparade. Hier haben das thüringische Sonneberg und das bayerische Neustadt bei Coburg ihre ehemals grünen Wiesen zusammengeschmissen, auf dass alles, was Handel treibt, seine Zelte aufschlüge und riefe: Kommet herbei, schmecket und sehet und kaufet daraus, denn hier ist alles bereitet zu eurer Erfüllung und der eurer Kofferräume. Tatsächlich ist dort wohl die Grenze überwunden, dort ist zusammengewachsen, was uns wahrhaftig vereint; hier tun wir in Gemeinschaft das, was unser nun gemeinsames Land am Laufen hält. Dort sind wir vorbildliche Einheitsvollstrecker, vereint im Zeichen des Konsums, dort sind wir einig Vaterland. - Und dazu habe ich heute keine Lust!


Wo die Karte bei dem geplanten Abzweig einen rot markierten Wanderweg zeigt, zeigt sich mir nur eine große Wiese. Ich gebe zu, eine wunderschöne, satte, grüne Wiese, übersät mit Löwenzahnteppichen, ab und zu jungen Birken und eingerahmt von Fichtenwald. Kaum zu sehen, eher zu erahnen, nehme ich dort, wo eigentlich der Weg sein müsste, eine Treckerspur wahr. Irgendwann, vielleicht gestern, muss er hier hergefahren sein und weist mir jetzt den Weg. Doch das Gras ist schon recht hoch und immer noch nass und ich verwandle mich mal wieder in einen Storch, um meine Schuhe nicht total zu durchnässen. Und ich bin ein langsamer Storch, ich habe ja Zeit. Ich stakse die Treckerspur entlang, komme an mehreren kleinen Teichen vorbei, in denen die Frösche um die Wette quaken, biege um eine Waldecke, um auf eine weitere Wiese zu wechseln - und stehe vor einem Hund.


Der Hund an sich mag der beste Freund des Menschen sein, der beste Freund des Wanderers ist er nicht unbedingt immer. Wildschweine oder Rehe sind da irgendwie diskretere Tiere. Die Hundehalter unter den Menschen vergessen gerne, dass es noch andere Menschen gibt, auf die ihre Hunde treffen könnten, und lassen ihre angeblich nur spielwilligen Vierbeiner mächtig von der Leine. Ein Kampfkalb, Schulterhöhe 1,20 m, steht vor mir. Ich sehe keine Leine. Ich habe meine Füße fest in die Wiese gerammt. Der Hund seine auch. Man wittert. Ich höre ein Frauenstimmchen. Der Hund will es nicht hören. Das Stimmchen wieder. Der Hund pellt sich ein Ei drauf und nähert sich mir Schritt für Schritt. Das Stimmchen kommt nun auch um die Ecke geschlichen, ein Frauchen mit zwei Krücken. Und die will jetzt ihre Killermaschine an die Leine nehmen? Nach gefühlten zwei Stunden hat sie die Bestie doch mit fortwährendem Säuseln herbeigelockt und am Halsband gepackt. Ich fliege vorbei. "Das ist ja nur, weil er Sie nicht kennt!" höre ich das Frauchen hinter mir. Jau!


Das Thema beschäftigt mich noch bis nach Neustadt hinein und ich kann mich erst dann davon lösen, als ich bei Sonnenschein in Neustadt am Marktplatz vor einem kleinen Café sitze und einen starken Kaffee in mich hineinschlürfe. Auf dem Platz ist Blumenmarkt. Man/frau kauft Pflanzen für Balkon, Terrasse und Garten, es ist bunt, es duftet. Metallkörbchen auf Fahrradgepäckträgern werden mit Pflänzchen gefüllt, palettenweise Grün-Bunt wird in den nahebei parkenden Autokofferräumen verstaut. Die Glocken von St. Georg läuten zum High Noon, alles in allem ein stimmiges Bild.


Ich mache mich auf die letzte Stunde Fußmarsch. Ohne einmal links oder rechts abzubiegen, laufe ich schnurstracks durch Neustadt. Hinter einer Spielzeugfabrik mit Weihnachtskugelnabteilung verlasse ich das Städtchen und strebe endgültig Meilschnitz zu, immer an der Straße entlang, die ich in entgegengesetzer Richtung heute Morgen auch schon mit dem Taxi genommen habe. Macht nichts, trotzdem schön! 


Ich zähle meine Schritte pro Minute. Sie sind der Motor meines Gehens und sowas wie der Herzschlag meiner Wanderung. Es ist großartig, dieses Zusammenspiel von Bewegungsapparat, Atmungsorganen und Herz. Nichts wehrt sich, alles spielt zusammen wie bei einem großen Orchester. Inzwischen ist das Wetter besser geworden. Die vorbeiziehenden Wolkenformationen mit den großen Sonnenlöchern zaubern wunderschöne Stimmungsbilder und betonen dadurch noch die Schönheit der Landschaft. 


Bald sehe ich Meilschnitz vor mir, aber auch die recht ordentlichen Höhen, die sich hinter dem kleinen Ort auftun. Da muss ich morgen rauf.


Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Lore (Donnerstag, 07 Mai 2015 21:38)

    Hallo Reinhard,
    in den gefühlten 2 Stunden hättest Du doch genug Zeit gehabt, für uns ein Foto von dem Ungeheuer zu machen ;-)
    Der vermutlich größte Hund Deutschlands misst 1,14 m Schulterhöhe und heißt Wölfi, sein Frauchen heißt Iris. Das sagte mir Frau Google.
    Wenn es DER war - der ist harmlos!

    Liebe Grüße
    Lore

  • #2

    Der kronprinz (Dienstag, 12 Mai 2015 10:26)

    Vielleicht kannst du ja einfach den Rest der Wanderung auf dem Hund reiten...?

  • #3

    Die Pilgertochter (Dienstag, 12 Mai 2015 16:20)

    Na, da läufst du so eine schöne Treckerspur und hast deinen Wheelie nicht dabei. Warst du bestimmt traurig drum! Und mit dem Riesenkalb von Hund: Hach ja, ich erinnere mich nur wenig wehmütig an diese Momente, die seinerzeit nicht immer glimpflich ausgingen... Chaka, du schaffst das!