"Meyer, Deutschland!"

Meilschnitz - Eisfeld (23 km)


Ich hatte es schonmal so: Im Zimmer komplett angezogen, d.h. inclusive Anorak, vor der Tür dann die Erkenntnis, dass es  draußen dafür eigentlich jetzt schon, trotz der relativ frühen Abmarschzeit, viel zu warm ist. Also vor der Tür Anorak wieder aus! So auch heute früh wieder vor dem "Gästehaus Monika" in Meilschnitz. Die "Marscherleichterung" hat umso mehr ihre Berechtigung, da es ja vom Ortsende an direkt wieder bergauf geht. Erträglich zwar, da nicht direkt wieder der Kolonnenweg ansteht, sondern die wenig befahrene Landstraße, aber immerhin. Der Kreislauf kommt direkt wieder ordentlich in Gang, ich puste und schwitze. Meine schweißsaugende Funktionsunterwäsche kriegt gut zu tun. Nur die Mücken verderben mir den Spaß ein wenig und winzig kleine Fliegen, die unbedingt in meinem Gesicht landen müssen, ertrinken in meinen Schweißperlen.


Oben angekommen erwartet mich eigentlich schon wieder der Kolonnenweg und freut sich diebisch auf meinen genervten Gesichtsausdruck. Aber ich huste ihm was. Nur wenige Meter Umweg sind es, die mich auf den "Schaumberger Panoramaweg" bringen, und damit auf eine Wegalternative, die mich weit komfortabler die nächsten Kilometer absolvieren lässt. 


In Rückerswind, diesem kleinen thüringischen Ort nur einen Steinwurf entfernt von der ehemaligen Grenze, ist um diese Zeit um kurz vor 9 Uhr nur das Plätschern der kleinen Fontäne im Dorfteich zu hören, ansonsten ist alles still. Die örtliche Feuerwehr hat ihre Schläuche fein säuberlich neben dem Teich zum Trocknen ausgelegt, penibel einen neben dem anderen. Am Anschlagbrett wird zum "Männertag" an Himmelfahrt eingeladen. Getränke gäbe es reichlich. Außerdem steht noch der nächste Blutspendetermin an. Glücklicherweise nicht am folgenden Tag.


Dann geht es abwärts, steil hinab ins Effelder Bachtal. Meine Wheeliebremse tut mal wieder tapfer ihre Dienste und ich möchte diese kleine Straße nicht in umgekehrter Richtung gehen müssen. Wenig später stehe ich am Ufer des Froschgrundsees. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein schöner Natursee, ist aber keiner. Schnell fällt einem die Staumauer ins Auge. Den See würde es ohne die achtzig Kilometer lange Ilz nicht geben. Hier wird ihr Wasser aufgestaut. Der See ist ein Wasserrückhaltebecken, bereits vor der Wiedervereinigung gebaut, um die Stadt Coburg vor Hochwasser zu schützen. Zu oft hatte die Stadt zur Zeit der Schneeschmelze im Thüringer Wald und bei sommerlichen Starkregenperioden unter Hochwasser zu leiden. Doch weniger der See, sondern mehr noch die den See überspannende Brücke der ICE-Neubaustrecke Erfurt - Nürnberg wird wohl den vorbeiziehenden Menschen beeindrucken. Ein 270 Meter langer Betonbogen spannt sich über den See, um eine 798 m lange und 65 m hohe Brücke zu tragen, Deutschlands weitest gespannte Betonbogenbrücke halt. Doch sie ist nur eine der Brücken für die neue ICE-Trasse, die dafür sorgt, dass Zugreisende in vier Stunden von Berlin nach München reisen können. Für Kritiker allerdings ist damit das schöne Tal des Froschgrundsees regierungsgenehmigt verschandelt.


Ich gehe über die Staumauerkrone, wandere am westlichen Ufer des Sees entlang, durchquere den hübschen Ort Weißenbrunn, dessen Bemühungen um eine Dorfverschönerung schon wiederholt mit Auszeichnungen beim Wettbewerb "Unser Dorf hat Zukunft" belohnt wurden, und keuche dann wieder hinauf auf die Höhe von Emstadt. 


Eine "Stadt" ist Emstadt weiß Gott nicht, nur ein hoch gelegenes Dorf im oberen Lautertal, hineingeduckt in eine sackartige Ausbuchtung der DDR, auf drei Seiten von Bayern umgeben. Kein Wunder also, dass die Emstädter seit jeher enge Beziehungen zu den Nachbargemeinde im (bayerischen) Coburger Land pflegten. Hierhin war man verschwistert und verschwägert. Im Sommer 1952 bekamen die Bürger des Ortes Wind von der Planung der "Aktion Ungeziefer", die vor allem auf die so genannten Grenzgänger abzielte, also auf Menschen mit engen Kontakten nach "Drüben". Vier Familien entschlossen sich daraufhin, den Räumungskommandos zuvorzukommen. Sie packten ihre Sachen auf einen Wagen und zogen über die damals noch offene Grenze hinunter ins Coburger Land, wo sie bei Verwandten unterkamen. Die Gehöfte der Flüchtlinge verfielen. 1976 wurden sie auf Anweisung von oben dem Erdboden gleichgemacht. 


Hinter Emstadt darf mich dann endlich wieder der Kolonnenweg begrüßen, der von hier aus sich in langer Linie entlangstreckt bis Görsdorf. Ich weiß, ich habe bisher nahezu über alle Kolonnenwegabschnitte gemeckert. Doch dieser hier ist anders. Auf der Höhe schwingt er sich in leichtem Auf und Ab an einem ehemaligen Grenzstreifen entlang, der so harmlos und friedlich aussieht wie selten einer zuvor. Wo damals bewusst eingesetzte Pestizide verhinderten, dass auch nur ein Grashalm wuchs, steht heute das Heidekraut, die Schmetterlinge gaukeln hin und her, die Vögel tirilieren links und rechts im Wald - eigentlich macht es direkt Spaß, hier zu wandern. Doch darf es "Spaß machen", hier zu wandern? Wo ein Regime alles daran setzte, Menschen die Freiheit zu nehmen? Noch ein junges Menschenleben zurück, vor 26 Jahren, lauerte auch in dieser Gegend der nahezu sichere Tod auf jeden, der sich herwagte. Die Gedanken kommen bei mir immer wieder an diesen Punkt. Die Schritte auf den Betonplatten des Kolonnenwegs lenken auch den Kopf. Und doch wäre es gelogen, nicht zuzugeben, dass ich auch mal gut gelaunt und leise singend hier entlanggehen kann, ohne ständig die historische Tiefe wie einen doppelt so schweren Wheelie hinter mir herzuziehen.


In Görsdorf mach ich Pause. Zum einen wird es dazu jetzt mal Zeit, zum andern ist die Bank neben dem plätschernden Dorfbrunnen einfach zu einladend. Kaum habe ich mich auf ihr breitgemacht, kommt aus dem Haus direkt gegenüber ein alter Mann auf mich zumarschiert. Mein Wheelie erweist sich mal wieder als hervorragender Gesprächs-Opener und nach dem ersten Woher und Wohin, ist der nette Herr nicht mehr zu halten. Stellmacher war er hier im Dorf, genau wie sein Vater auch schon. Ein Parteifunktionär habe diesen mal mit "Genosse Meyer" angesprochen, darauf der Vater: "Nix Genosse! - Meyer, Deutschland!" Auch der Versuch des Funktionärs, dem Vater doch mindestens ein "Meyer, DDR" abzuringen, erwies sich als Fehlschlag. Den Ruf des für die Partei unbequemen Patrons hat der Vater dann an seinen Sohn Reinhold, der jetzt immerhin auch schon um die 80 sein müsste, weitergegeben. Reinhold weigerte sich, der Partei beizutreten, und wollte auch den Kontakt zu seiner im Coburger Land lebenden Verwandschaft nicht abbrechen. "Es war äußerst schwierig, hier in der Sperrzone Besuch zu empfangen. Wenn überhaupt, dann nur Verwandte ersten Grades. Mindestens vier Wochen vorher musste man den Antrag stellen. Und ob er dann genehmigt wurde, war immer noch sehr fraglich." Möglicherweise ist er der Zwangsaussiedlung nur entkommen, weil er ein qualifizierter Handwerker war, dessen Dienste auch die Grenztruppen öfter in Anspruch nehmen mussten. Außerdem war er Wehrführer der örtlichen Feuerwehr, in seiner Handwerksinnung in führender Position - und Dirigent des Gesangsvereins. Kein Wunder, dass Reinhold Meyer nach der Wende Bürgermeister des kleinen Grenzortes wurde. Ihm ist es auch zu verdanken, dass ein kleines Stück der Grenzmauer, die seinerzeit als Sichtschutz auf der Höhe oberhalb von Görsdorf errichtet worden ist, als Mahnmal erhalten blieb. "Ich habe kürzlich mal wieder Anzeige gegen Unbekannt erstattet. An der Mauer sind wieder die verdammten Mauerspechte dran".


Weiter geht der Kolonnenweg bis nach Eisfeld. Hier steht meine Unterkunft für heute Nacht. Bianca und Tino empfangen mich überaus herzlich auf ihrem "Volkseigenen Gut", weit oberhalb von Eisfeld, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer ehemaligen Grenzer-Kaserne. Ihr Haus mit seinen Anbauten lässt nicht mehr erkennen (außer am Namen), dass dies mal eine LPG war, die hier in diesem Gebäude eine wenig erfolgreiche Champignonzucht betrieb. Nach der Wende hatTino das Gebäude von der Treuhand gekauft und funktioniert es nun, zusammen mit seiner Lebenspartnerin Bianca, nach und nach in einen kleinen Fremdenzimmerbetrieb um. "Heute haben wir sogar die Baugenehmigung zum Ausbau weiterer Räume zu einem kleinen Café bekommen." Es geht immer weiter.


Mein Bett bekomme ich in einem Gästezimmer in ihrem Privatbereich, wir essen gemeinsam zu Abend und unterhalten uns auf zwei Bierlängen im Wohnzimmer über so vieles, das hier gar nicht alles niedergeschrieben werden kann. Doch eins muss ich einfach sagen: Die selbstverständliche große Gastfreundschaft und Herzlichkeit von Tino und Bianca haben mich tief beeindruckt. Und ich kann nur empfehlen: Grenzwanderer, kommst du nach Eisfeld, so halte ein am "Volkseigenen Gut" und genieße deinen Aufenthalt! Sei es zur Übernachtung oder vielleicht bald zu einer Rast in einem netten Café.


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Kommentare: 2
  • #1

    Peter aus Lohmar (Freitag, 08 Mai 2015 20:54)

    Hallo Reinhard, das ist ja wieder eine tolle Zeit die wir per Blog mit dir auf dem grünen Band
    mitwandern dürfen. Herzlichen Dank dafür .Ich wünsche dir eine gute Zeit auf dem
    Kolonnenweg und freue mich auf unserem gemeinsamen Heidschnucken Weg im Sommer.
    Bis dahin, Peter aus Lohmar

  • #2

    Der kronprinz (Dienstag, 12 Mai 2015 10:36)

    Wie mir vom örtlichen Geschäftsführer mitgeteilt wurde, hat Helpenstell immerhin den dritten Platz bei unser Dorf hat Zukunft erreicht.