Darf ich vorstellen? Der Kolonnenweg!

Eisfeld - Bad Rodach (21 km)


Bianca und ich frühstücken früh um 7 Uhr gemeinsam. Tino ist schon zur Frühschicht. Um 8 Uhr verabschieden wir uns voneinander und es drängt mich, ihr zu sagen, wie wohl ich mich bei ihnen im Haus gefühlt habe.


Es scheint ein weiterer sonniger Tag zu werden, wie in den letzten Tagen auch schon. Der Weg heute läuft im Wanderführer unter der Kategorie "einfach", auf die ganze Strecke gesehen ohne nennenswerte Steigungen. Das erste Örtchen nach Unterquerung der Autobahn ist Herbartswind. Nicht viel los, besser gesagt gar nichts. Ein paar Gartenzwerge in den Vorgärten, eine alte Frau führt ihren Pinscher Gassi und ein Opa steht mit einer dicken Zigarre hinter seinem Gartenzaun und schaut mir verwundert hinterher. Früher sind die Wanderer noch mit einem Rucksack unterwegs gewesen und nicht mit solch einer Karre. Es ist eben alles nicht mehr so, wie es mal war.


Hinter Herbartswind soll ich bald wieder auf den Kolonnenweg stoßen. Es geht von der Straße einen Wirtschaftsweg links aufwärts, dann biege ich rechts ab - auf den vermeintlichen Kolonnenweg. Aha, denke ich mir, netterweise haben sie ja hier die Lochbetonplatten weggenommen, geht doch gleich viel besser!  Natürlich habe ich den falschen Abzweig genommen, der breite Weg führt nach einiger Zeit wieder auf die Straße zurück. Na prima! Jetzt sehe ich auf der Karte auch, wo ich den Fehler gemacht habe.  Wer sich auf rote Wanderwegmarkierungen konzentriert, übersieht schon mal die einfach dargestellten Wege und biegt verkehrt ab. Zurück gibt's nicht! Also die Straße weiter und bei passender Gelegenheit wieder links ab. Die Gelegenheit kommt nach etwa zwei Kilometer,  aber steil den Berg hoch über einen weichen, ausgewaschenen Waldpfad. Wieder ist Keuchen und Schwitzen angesagt, das war für heute eigentlich nicht vorgesehen. Doch dann bin ich oben am Grenzstreifen, am Kolonnenweg.


Ab jetzt wird es tatsächlich eine schöne Wanderung: Der Kolonnenweg bestimmt für Kilometer die nächsten Stunden,  er schwingt sich nur in einem leichten Auf und Ab durch die offene Feldflur, und wenn man schon anfangen möchte, ein wenig zu schnaufen, hat man den kleinen Hügel auch schon geschafft und es geht wieder sanft bergab. Der Blick gleitet weit über die Felder, auf dem Grenzstreifen blüht der Löwenzahn und manch anderes mehr, Jägeransitze stehen neben dem Plattenweg anstelle der früheren Wachtürme, es ist still, nur das Zwitschern der Vögel und Zirpen der Grillen. Der Kolonnenweg lullt einen auf solchen Abschnitten fast ein - und das könnte gefährlich werden.


Seine Platten nötigen einen zu ständiger Auseinandersetzung: Selten gibt es Passagen, wo die Füße ihren Weg unbeschadet ganz alleine fänden. Die Lochbetonlöcher sind in der Regel nicht groß genug, um mit einem Wanderschuh normaler Größe komplett hineinzurutschen. Dennoch zieht der Wanderer es vor, zwischen den Plattenbahnen zu laufen,  was aber oft genug nicht geht: zu uneben, zu hoch bewachsen, zu nass.


Muss ich das vielleicht nochmal in Ruhe erklären? - Mein Grenzweg ist meist der Kolonnenweg, auch Plattenweg genannt, auf dem die DDR-Grenztruppen patrouillierten, kontrollierten, observierten: ein Band - eigentlich zwei Bänder - ausgelegter Betonplatten unterschiedlicher Ausführung. Diese Platten sind drei Meter lang, einen Meter breit und 15 cm dick. Sie haben entweder eine Art Lochgitterstruktur in sieben Quer- und vier Längsreihen, weisen also - so es sich um Lochbetonplatten handelt - jeweils 28 Löcher auf. Es gibt aber auch Passagen mit Platten aus lochlosem Beton, die allenfalls an den Stirnseiten, dort, wo sie aneinandergelegt werden, entweder eine oder zwei lochähnliche Vertiefungen mit Eisenringen haben, die zur Erleichterung der Transport- und Verlegeabläufe angebracht sind. Der K-Weg verläuft üblicherweise völlig parallel zum Grenzverlauf und orientiert sich entsprechend nicht am Gelände -  sondern nimmt in starken Neigungen Berg und Tal. Manchmal - in Kurven oder an besonders steilen Abschnitten, aber auch dort keinesfalls regelmäßig - werden die Platten auch mit der Längsseite direkt aneinander, also quer verlegt, so dass es keinen Grünstreifen zwischen den Plattenbahnen gibt. In seltenen Fällen, zum Beispiel in tiefen Taleinschnitten, oder dort, wo der Grenzverlauf in kurzen Abschnitten extrem gezackt ist, wo man deshalb die Abfolge der einzelnen Kontroll-, Schutz-, Sicherheitsstreifen gar nicht mehr unterbringen konnte, weil die gesamte Grenzbefestigungsanlage sonst breiter wäre als das zur Verfügung stehende Staatsgebiet, nimmt der K-Weg auch schon einmal eine Abkürzung. Ich hoffe, ich habe mich insgesamt klar ausgedrückt.


Nach kurzer Zeit auf einem fast "idyllischen" Kolonnenweg werde ich in die damalige Grenzrealität zurückgeholt. Im Grenzstreifen stehen Kreuze, drei hölzerne, das vierte aus Stahlrohren. Im Gras liegen welke Blumensträuße und ein kleiner verdorrter Kranz. Am 19.12.75 erschoss hier der fahnenflüchtige NVA-Soldat Werner Weinhold die beiden Grenzsoldaten Seidel und Lange, bevor er um 2.40 Uhr in der Nacht über das hartgefrorene Minenfeld flüchtete. Der Geflüchtete tauchte bei Verwandten im westfälischen  Marl unter. Nach bundesweiter Fahndung wurde er im März 1976 an der deutsch-niederländischen Grenze festgenommen und vor Gericht gestellt. Im ersten Prozess mangels Beweisen freigesprochen, verurteilte ihn die nächste Instanz zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis. Die Stasi entwarf danach verschiedene Mordpläne, um ihn zur Strecke zu bringen. Umgesetzt wurde keiner.


Nachdenklich gehe ich weiter. Immer noch riesige Felder, grün vom heranwachsenden Korn oder gelb vom blühenden Raps, ein Hase jagt über ein Feld, etwas später ist es ein Fuchs. Ab und zu kreuzt eine kleine, erst nach der Wende angelegte Straße den Kolonnenweg. Früher war hier Schluss. Ab und zu quert ein Auto den ehemaligen Todesstreifen. Ob der Fahrer, der dort im Auto sitzt, weiß, wo er sich just in diesem Moment befindet. Kennt er noch die Grenzsituation von damals oder gehört er zu der Generation, für die das alles schon lange vergessen ist?


Es ist Pausenzeit. Eine Bank gibt es nicht, aber eine große Ruhe ringsherum. Das Gras neben dem K-Weg ist trocken, nicht wie in den letzten Tagen meist tau- oder regennass. Ich lege mich hinein und strecke mich aus. Während ich ein Brötchen kaue, schaue ich mich in der Gegend um. Ein schöner Moment. Ein Windböe lässt das schon recht hohe Gras auf dem Grenzstreifen tanzen.  Der Himmel ein betäubendes Blau. Nur im Westen hat jemand Schäfchenwolken auf die Leinwand getuscht. Ein Zitronenfalter setzt sich auf meinen ausgezogenen Schuh, ich schließe die Augen, höre noch diverse Insekten an meinem Ohr vorbeisummen, verschiedenste Vogelstimmen - dann höre ich gar nichts mehr. Als ich die Augen wieder öffne und zur Uhr schaue, ist der große Zeiger schon eine halbe Stunde weitergerannt.


Nach etwa zehn Kilometern Kolonnenweg ist es genug. Ich schenke mir eine große Schleife Grenzverlauf und gehe über Heldritt direkt auf mein Tagesziel Bad Rodach zu. Die "Kurwürde" für Rodach wurde noch während der deutschen Teilung gelegt. Anfang der siebziger Jahre begann man mit der Suche nach einer Thermalquelle. Bei einer Bohrtiefe von 652 m wurde man fündig. Eine 34° warme Quelle wurde erschlossen, und bald konnten Touristen und Einheimische in dem warmen Wasser baden. Ein Kurpark entstand, Jahre nach der Wende weihte man ein Klinikum ein. Seit 1999 heißt der Ort offiziell Bad Rodach.


Ich muss den gesamten Kurort durchqueren und noch einen weiteren Kilometer hinter dem Kurzentrum erreiche ich endlich mein Ziel, die Pension Hirschmühle, ein alter, romantisch dreinschauender Dreiseitenhof. Die Chefin des Hauses ist gerade draußen bei der Gartenarbeit. Als ich um die Hausecke biege, kommt sie mir freudestrahlend entgegen und reicht mir ihre schmutzige Hand zum Gruß.



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Kommentare: 2
  • #1

    Lore (Samstag, 09 Mai 2015 17:04)

    Reif füs Guinnessbuch
    Gratuliere! Du bist der erste Mensch, der im Schlaf ein Selfie machen kann!
    Hast aber vergessen, den Unterkiefer runterfallen zu lassen, ätsch!
    Doch nix mit Guinnessbuch!!!

    LG
    Lore

  • #2

    Der Kronprinz (Dienstag, 12 Mai 2015 17:20)

    Also die Bilder sind ja echt ein Träumchen!!!