Filmkulisse

Bad Rodach - Lindenau (20 km)


Der Start am Morgen geht schnell. Ich kann in meinem Zimmer alles stehen und liegen lassen, sogar mein Wheelie. In meinem heutigen Zielort soll es keine Übernachtungsmöglichkeit mehr geben, daher bleibe ich zwei Nächte in der Hirschmühle. Was mich etwas mehr bekümmert, ist die Tatsache, dass es zwischen Lindenau und Bad Rodach keinen Busverkehr gibt. Das bedeutet für mich wieder kräftige Taxikosten. Aber was soll ich machen?


Am Holztor der Hirschmühle verabschiedet mich der hofeigene Irische Setter, ein bereits etwas ältlicher Herr. Er sabbert mir einmal über die hingehaltene Hand, das soll wohl "Tschüss, bis nachher!" heißen. Auf den ersten hundert Metern fliege ich förmlich die Straße entlang und ich frage mich, woran das liegt. Dann wird mir klar, dass ja mein Wheelie nicht hinter mir herrollt. Schon komisch und ungewohnt ...


Ich schenke mir den Aufstieg zur Henneberger Warte, dem Aussichtsturm auf dem Georgenberg, sondern umgehe ihn auf einem Radweg der wenig befahrenen Straße nach Heldburg. Ich werde sowieso den Verdacht nicht los, dass die Wegführung hier bewusst so gelegt ist, damit die dortige Ausflugsgaststätte Kundschaft erhält. Nach knapp drei Kilometern kann ich die Straße hinter mir lassen und auf einem breiten Waldweg einen wunderschönen Mischwald genießen. Die Sonne scheint durch die Zweige bis auf den bemoosten Waldboden, es riecht schwer erdig-waldig und der Kuckuck begrüßt mich in seinem Revier. Aus dem breiten Waldweg biege ich bald in einen schmalen Pfad durch einen reinen Eichenwald ein, treffe auf dicke alte Grenzsteine mit den eingeschlagenen drei Buchstaben "HSC" für "Herzogtum Sachsen-Coburg" und weiß nun, dass ich mich an der bayerisch-thüringischen Grenze befinde. Lange Zeit war sie eine problemlose Grenze, dann wurde sie zum Eisernen Vorhang. Zwischen zwei Büschen sehe ich auch plötzlich den Kolonnenweg hindurchblitzen, wie er sich mal wieder einen Steilhang empormüht. Minuten später wendet sich der Pfad nach rechts, ich verlasse den Hochwald und gehe durch relativ junges Gehölz. Sofort merke ich: Jetzt überquerst du gerade den Grenzstreifen, der Wald hat nur damit begonnen, ihn wieder in Besitz zu nehmen. Dann der Kolonnenweg - da isser widder!


Zwei Kilometer beschäftigt er mich heute nur, ist wieder auf Schmusekurs. Wie eine kleine Kinderachterbahn schlängelt er sich über harmlose Höhen, die mir aber auch deshalb noch einfacher als in den letzten Tagen vorkommen, da ich keinen Wheelie hochziehen muss. In den Löchern wachsen immer öfter schöne Wiesenblumen, so als wollten sie mich mit diesem Weg versöhnen. Heute ist der Kolonnenweg also nett, irgendwann wird er mich wieder mehr ärgern.


Nah bei der Grenze, keine 500 m entfernt, liegt Billmuthausen, d.h. lag Billmuthausen. Wie z.B. Liebau lag das kleine Dorf der DDR-Regierung zu dicht an der Grenze. Einige Familien setzten sich bereits 1952 nach Bayern ab. 1961 wurden 50 Bürger im Zuge der "Aktion Kornblume" zwangsausgesiedelt. Eine der Begründungen lautete: "Durch Übergriffe aus dem nahen Bayern gefährdet!" Denen, die blieben, wurde Mitte der 70er-Jahre nahegelegt, sich andere Bleiben zu suchen. Da war die Dorfkirche bereits abgerissen. Es folgten die Mühle und 1978 dann der Rest. Das Gelände wurde komplett mit Muttererde überdeckt. Im Arbeitsbericht hieß es hinterher: "Gewinnung von einem Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche ..." Aus dem Friedhof wäre wahrscheinlich auch Acker geworden, hätten sich die Hinterbliebenen nicht geweigert, ihre Begrabenen exhumieren zu lassen. Wenigstens vor den Toten zeigten die Behörden Respekt. An das Dorf erinnern nur noch der kleine, gepflegte Friedhof mit einer Gedenkkapelle und ein schlankes Trafohäuschen, das man hat stehen lassen, wie so oft bei den geschleiften Dörfern, um die Grenzer mit Strom zu versorgen. Den Dorfresten gegenüber steht noch auf einem Hügel ein alter Grenzturm, besetzt von Vögeln, Fledermäusen und anderem Getier. Der Turm gehört jetzt den Naturschützern.


In einem kleinen Holzpavillon warte ich eine Regenschauer ab, die zu keinem günstigeren Zeitpunkt hätte kommen können. Eine Rast wollte ich hier sowieso machen. Als Petrus den Hahn wieder zudreht, gehe ich weiter, auf Bad Colberg zu. Eine kleine Straße führt mich hin, kaum gegenverkehrstauglich, deshalb begegnen mir auch kaum Autos. Aber schön ist es hier. Die Rodach fließt in weiten Schwingungen durch satte Wiesen und Raps und Löwenzahnteppiche verpassen dem Tal mehr Gelb als üblich. 


Ich komme nach Bad Colberg. Gekurt wird hier seit 1910. Auf der Suche nach Kalisalz wurde damals in 470 m Tiefe zufällig eine Thermalquelle angebohrt, 36° Grad warm. Später wurden noch drei weitere Quellen erschlossen. In der DDR, dem Arbeiter- und Bauernstaat, in dem angeblich alles dem Volk gehörte, durften nur ausgesuchte linientreue Patienten von den Heißwassern profitieren. Der Ort lag im Sperrgebiet. Die Klinik unterstand dem Ministerium des Innern. In den Kurlisten des DDR-Gesundheitswesens tauchte sie gar nicht erst auf. Insider nannten Bad Colberg auch "das Stasibad". Eigentlich ist der Ort zweigeteilt. Außerhalb liegen die Kureinrichtungen, irgendwie überwältigend groß. Jugendstil-Trinkhalle mit Wandelhalle, Kurpark, modernes Rehabilitationszentrum, Terrassen-Therme. Das alte Colberg, durch das mein Weg führt, ist klitzeklein, etwa 150 Einwohner soll es geben. Eine Kirche, um die sich ein paar ehemalige Bauernhäuser scharen, das ist alles.


Von Bad Colberg ist es nur ein Katzensprung bis Ummerstadt, der zweitkleinsten Stadt Deutschlands mit ca. 350 Einwohnern, ein umwerfend schönes Städtchen. Herrliche Fachwerkhäuser prägen das Bild, keines ist heruntergekommen. Wenn auch nicht ein Museumsdorf, das von Touristen überschwemmt wird. Hier wird ein ganz normaler Alltag gelebt. Doch damals lag Ummerstadt mitten im Grenzgebiet, in der Sperrzone. Der Ort war so von der Außenwelt abgeschnitten, dass die Leute von der Wende erst "auf der Arbeit" erfuhren. 


Ich schlendere über den Marktplatz, ab und zu rattert ein Auto über das grob verlegte Pflaster. In der Mitte plätschert der Marktbrunnen, ein alter Mann füllt dort gerade einen Eimer mit Wasser. Spatzen suchen in den Pflasterritzen nach Krümeln. Ich setze mich draußen an die groben Biertische der Ratsschänke. "Bestellen Sie bitte an der Theke!" steht auf einer kleinen Schiefertafel. Drinnen in der Gaststube ist es warm, zu warm für jemanden, dessen Kreislauf vom Wandern noch reichlich in Wallung ist. Gerne würde ich jetzt eine Portion Spargel bestellen, alle essen hier gerade Spargel, es riecht köstlich. Aber ich bescheide mich, entscheide mich für etwas aus der Abteilung "Für den kleinen Hunger" und bin wieder draußen. 


Inzwischen sind dunkle Wolken herangezogen, sehr dunkle Wolken, es grollt am Firmament. Als die Kellnerin mir meine Apfelschorle bringt, spannt sie mir den großen Schirm auf. "Für alle Fälle!" meint sie. Die "Fälle" kommen schneller als gedacht. Innerhalb von Sekunden blitz, kracht und schüttet es wie aus Kannen - und ich sitze trocken unter dem Schirm und verspeise meinen gebackenen Camembert. Gerade als ich mir den Mund mit der Serviette abwische und den letzten Schluck aus dem Glas nehme, ist der Spuk auch schon wieder vorbei. Zweimal Regen, zweimal hervorragend ausgesessen. Ich bin sehr mit mir zufrieden.


Aus dem Tal der Rodach geht es nochmal etwas auf die Höhe in den Wald hinein, und jetzt wird es Zeit für mich, das Taxiunternehmen anzurufen. Frau Taxi und ich verabreden uns für exakt eine Dreiviertelstunde später an der Kirche in Lindenau. Beide halten wir die Zeit auf die Minute genau ein und es geht wieder zurück nach Bad Rodach. Als ich unterwegs auf den Taxometer schaue, wird mir doch etwas schlecht. Also ich finde, Bus- und Taxiunternehmen sollten ihre Kosten mal etwas angleichen. Jedenfalls lasse ich mich nicht an der Hirschmühle raussetzen, sondern bei REWE. Ich kaufe mir einen kleinen Eimer Joghurt. Abendessen im Restaurant fällt heute aus!


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Kommentare: 1
  • #1

    Der kronprinz (Freitag, 15 Mai 2015 13:01)

    Ääääh, du weißt aber schon, dass bei Gewitter ein Schirm nicht gerade den optimalen Schutz bietet, oder?!