Vereinigungsverlierer

Lindenau - Zimmerau (22 km)


Der alte Irische Setter steht schon am Tor der Hirschmühle, um mich zu verabschieden. Ich streichle ihn, er gibt mir unaufgefordert Pfötchen und trottet dann auf den Hof zurück. Ich bin gerührt. Das Taxi ist wiedermal auf die Minute pünktlich. Eine Viertelstunde später bin ich in Lindenau. Im Dorf ist noch nichts los, nur ein Hund und eine Katze wechseln partnerschaftlich die Straßenseite. Nur wenige Schritte und ich bin in der offenen Feldflur. 


Auf einmal donnern die Glocken der Lindenauer Kirche hinter mir her, stimmt, heute ist Sonntag, Gottesdienstzeit. Aber um 9 Uhr schon? Hat der Küster sich vertan? Die Glocken verstummen auch erstaunlich schnell wieder. Kolonnenweg ist erstmal nicht, kommt später an die Reihe. Ich werde schon meine tägliche Dosis bekommen. 


Auf Wirtschaftswegen und einer kleinen Landstraße komme ich nach Gleismuthhausen, auf der anderen Seite der Grenze, nach Bayern, das erste Dorf für heute mit einer Zwiebelturm-Kirche, weitere werden folgen. Es riecht nach Kuh im Dorf, kräftigst. In einem großen Stall spricht der Bauer mit seinen Kühen, liebevoll, besänftigend. Ich glaube, hier sind die Kühe glücklich. Eine Katze beleckt sich ihre Pfoten auf einem hohen Torpfosten und schaut mir dabei relativ uninteressiert nach, vier Tauben gurren auf dem Dach eines schönen Fachwerkhauses und in einem Haus schreit ein Baby. Irgendwie stimmt alles.


Dann wieder zurück auf Thüringer Seite, ich kreuze ein zweites Mal den Kolonnenweg, grüße ihn kurz, aber entkommen werde ich ihm auch heute nicht. Ich komme in den südlichsten thüringischen Zipfel, in den südlichsten Ort Thüringens und damit in den südlichsten Ort der ehemaligen DDR, Käßlitz. Richtig schmuck ist es hier: Schönes Fachwerk allerorten, gepflegte Gärten, ein altes Brauhaus, die alte Schmiede. Beim Ortsgasthaus sehe ich den ersten von ihnen, weitere werden folgen: An einem schweren Betonmast ist noch ein alter Lautsprecher installiert. Als der Wirt der Kneipe herauskommt, um seinen Hühnern auf der anderen Seite der Straße Essensreste in den Pferch zu werfen, frage ich ihn eher rhetorisch: "Die Dinger sind wohl noch aus alten Zeiten, oder?" Er grinst. "Ja, zu DDR-Zeiten hat unser Bürgermeister immer direkt aus seinem Bürgermeisteramt über diese Dinger Ansprachen und Ankündigungen an sein Volk gehalten. Die waren so laut, die konnte man nicht überhören. Babys, die schliefen, sind davon oft wach geworden." Einmal auf sie aufmerksam geworden, entdecke ich jetzt diese Lautsprecher etwa alle 20 Meter. Benutzt werden sie seit 25 Jahren nicht mehr, es hängt sie aber auch niemand ab.


Vom Wirt erfahre ich noch eine nette Geschichte: Ab dem Kriegsende gehörte Käßlitz zur sowjetisch besetzten Zone, ihr Nachbarort Dürrenried zur amerikanischen Zone. Die Käßlitzer Bauern benötigten dringend eine Dreschmaschine, konnten aber in der gesamten sowjetischen Zone keine auftreiben. Die Dürrenrieder Nachbarn kamen zu Hilfe. Aus dem Erlös des Holzeinschlages im Käßlitzer Wald, der auf bayerischem Gebiet lag, beschafften sie eine neue Dreschmaschine und fuhren sie im Schutz des Morgennebels in den Nachbarort. Dass sie dabei niemand bemerkte, lag vielleicht daran, dass die Grenzschützer am Abend zuvor zu einer ausgiebigen Feier eingeladen waren.


Hinter Käßlitz kommt jetzt der große tendenzielle Richtungswechsel meiner Grenzwanderung. Ging es bisher immer grob westwärts, geht es ab nun nach Norden, nach oben, hinab, aufs Meer zu, noch etwa 1.100 Kilometer.


Und jetzt schlägt auch wieder der Bestimmer dieser Tour zu, dem ich im wesentlichen zu folgen habe: der Kolonnenweg. Eine halbe Stunde nach Käßlitz biege ich wieder auf ihn ein. Ich balanciere wieder zwischen Lochreihe zwei und drei, damit die Wheelieräder zwischen den Reihen eins und zwei bzw. drei und vier materialschonend rollen können. Inzwischen ist das schon fast Routinesache. Der Blick bleibt aber auf die Löcher geheftet, umherschweifendes Schauen könnte sich rächen. 


Wer hat überhaupt diese vielhunderttausend Platten verlegt? Wer hat die Tausende Kilometer Zäune gezogen und Gräben ausgehoben? Wer hat Minen verlegt und Selbstschussanlagen montiert? Wie dachten diese Menschen? Bin nur ein Rädchen. Sind eben Befehle. Auch dieser Tag geht vorbei. Übliche Scheiße halt. Der Honecker wird es schon wissen. Für etwas müssen die Bonzen ja gut sein. Rückwärts nimmer. Dienst ist Dienst. 


Wenn der Blick beim Gehen nicht abgelenkt werden kann durch die Natur links und rechts, schießen die Gedanken ins Kraut: Wenn die Platten drei Meter lang sind und in zwei Reihen verlegt wurden, sind das pro Kilometer 666 Platten, sind das auf 1.394 Kilometer - halt, es gibt den K-Weg nicht auf jedem Meter Grenze, ab und zu kürzt er Zipfel ab. Dafür wurden die Platten manchmal auch quer verlegt, also eine Platte pro Meter. Und die ganzen Zu- und Abgänge, Querwege im Wald, von der Grenze zur Straße, zur Kaserne. Wer hat all die Platten gegossen? Und wo überhaupt? Wer hat sie transportiert? Zu wievielt haben sie die eine Platte von wo heruntergehoben? Wie wurde zuvor der Untergrund behandelt? Und hier eine Variante: nicht vier auf sieben Reihen Schlitze, sondern drei auf sechs. Zehn Schlitze weniger pro Platte. Irrtum oder Experiment? Hat sich offensichtlich nicht durchgesetzt. Oppositioneller oder fahrlässiger Fehlguss? Und dann noch die ungelöcherten, die blanken, der volle Beton, die geschlossene, die plane Platte. Nach welchen Kriterien wurde wo welche gewählt? Eine Frage von Herstellungsdistrikt oder Verlegungsbezirk? Es kann doch hier keine Zufälle geben? Was kann ich für meine Gedanken.


Endlich wird der K-Weg mal zerschnitten, von der Verbindungsstraße Hellingen (Thüringen) und Allertshausen (Bayern). Am 12.12.89 wurde hier die Grenze geöffnet. Menschen von beiden Seiten, zu denen sich die Öffnung wie ein Lauffeuer herumgesprochen hatte, kamen zusammen, fielen sich in die Arme. Verwandte, ehemalige Freunde, Fremde. Ein Gedenkstein am Straßenrand erinnert an diesen Tag, ein Foto auf einem Großplakat zeigt die Szene. Was ich sehe, lässt mich reflexhaft sentimental werden angesichts der Verbrüderungsbilder aus dieser frühen Wendezeit. Da waren die Glücksgefühle frisch und tief und sie steckten an. Es waren jeweils nur ein paar Minuten Weltgeschichte, aber sie waren groß.


Noch ein paar Kilometer K-Weg, dann verlasse ich ihn wieder, kürze etwas ab über Schweickershausen, dort gibt es ein Gasthaus. Nicht irgendein Gasthaus, sondern ein Schloss-Gasthaus. Schweickershausen ist wieder so ein Dorf, dass mir sofort ausnehmend gut gefällt. Fachwerk, kleines Brauhaus, kleines Backhaus, bunte Gärten, Zwiebelturm-Kirche auf dem Dorfhügel - und direkt in Nachbarschaft dazu das ehemalige kleine Schloss. Bis in die 70er-Jahre war es noch Kaserne, bevor die Truppe woanders hin verlegt wurde. Ab 1974 war das Schloss ein Krankenhaus. Nach der Wende wurde es zunächst als Schullandheim genutzt und dann zum Schlosshotel ausgebaut. Für den Zeitraum von gerade mal 40 Jahren eine ganz schön bewegte Geschichte. 


Draußen auf der Schlosswiese sind Tische und Stühle aufgebaut, es sitzen aber kaum Leute dort in der Sonne. Ich parke mein Wheelie und gehe in die Gaststätte, um mir eine Suppe zu bestellen. Drinnen ist es voll mit Menschen. Sonntag - Muttertag - Ausflugswetter. Es herrscht dicke Luft, riecht essensschwanger. Hätte ich größeren Hunger, wäre ich jetzt schon vom Geruch halbsatt. Wirt und Kellnerin haben Stress, nehmen aber freundlich meine Bestellung entgegen. Nur Minuten später löffel ich zufrieden eine äußerst schmackhafte Spargelcremesuppe


Dann geht es auf den Endspurt für heute. An den alten LPG-Gebäuden vorbei, durch weite Felder, nochmal zwei Kilometer K-Weg, dann ein breiter Weg durch einen wunderschönen Wald. Hochstämmige Fichten, gesprenkelt vom Sonnenlicht. Ich atme tief die Luft ein. Inhaliere. Höre Vögel, höre den Wind, sonst nichts. Macht mich ganz ruhig. Naturtherapie.


Als ich aus ihm heraustrete, sehe ich Zimmerau vor mir, und den Bayernturm, und den Berggasthof, meine Unterkunft. Aber es sind noch fast drei Kilometer. Ich arbeite mich ran.


Es war in den Sechzigern. Der Bürgermeister von Zimmerau hat zusammen mit seinem Kollegen aus dem Nachbardorf Sternberg und dem damaligen Landrat das Ding ausbaldowert: Wir bauen einen Turm. Dann kommen alle zu uns, zahlen eine Mark, klettern hoch, kucken runter und haben einen schönen Blick auf die Grenze und darüber hinweg, in die Zone, also hinein ins Thüringische. Und so geschah es. Sie bauten ein Treppenhaus auf eine Höhe von 40 m, setzten oben eine Plattform drauf, verschalten alles mit Eternit-Wellplatten und nannte es - obwohl in Franken! - Bayernturm, um ein paar Fördergelder aus München zu bekommen. Dann stellten sie am Wochenende eine Bratwurstbude davor und Männer mit Uniformmützen, die die Autos auf Parkplätze einwiesen. Die Bratwurstbude wurde größer, scharte Biertische um sich, wurde ein Gasthof, wuchs zur Pension heran, bekam einen Anbau mit weiteren Zimmern für ganze Busladungen von Turmbesteigern und DDR-Kuckern. Der Bürgermeister hatte seine kleine Brauerei längst aufgegeben und war Wirt geworden - und seine Frau die Jodler-Wirtin. Ihre Single behauptet bis auf den heutigen Tag den zentralen Platz in der Musikbox des Berggasthofs Bayernturm, neben Marianne und Michael und den Flippers.


Viel Volk strömte nach Zimmerau, die deutsch-deutsche Grenze war eine Attraktion. Man sah den Turm von weitem und machte Pause: mit fränkischer Brotzeit in schöner Gegend, mit kommunistischem Grenz-Grusel aus sicherer Entfernung und mit der jodelnden Wirtin. Alles lief gut. Bis 1989. Als alles anders wurde. Na ja, nicht ganz. Es lief noch fünf Jahre länger: bis alle Ossis, die den Turm ja auch vom Sehen kannten, den Fernblick zu sich nachgeholt hatten. Schließlich noch ein paar Reisegruppen von Holländern, denen die Berge schon hoch genug waren und die Biere billig. 


Das alles erzählt mir der heutige Wirt, der Sohn des damaligen Bürgermeisters, und fügt mit süß-saurem Gesichtsausdruck hinzu: "Es muss auch Verlierer der Wende geben." 


Als ich beim Turm ankomme, stehen drei Autos und zwei Motorräder auf dem Parkplatz. Der Wind greift unter die losen Eternitplatten und rüttelt an ihnen. Ich besteige ihn nicht, die Aussicht ist von hier oben auch so gut. Der TÜV scheint in Franken sehr großzügig zu sein.


In den Berggasthof scheint der Bürgermeistersohn dennoch nochmal etwas investiert zu haben. Die Außenwände sehen frisch gestrichen aus, mein Zimmer ist gepflegt und sauber und mit einem Blick vom Balkon bis weit nach Thüringen hinein. Das Abendessen in einem der drei hintereinanderliegenden Gasträume, in dem außer mir noch sechs weitere Personen sitzen, schmeckt vorzüglich und dazu klingt Oldie-Musik. Irgendwann geht der Wirt zur Musikbox, wirft ein Geldstück ein, drückt einen Knopf - und dann erklingt die jodelnde Wirtin, Gott hab sie selig. Einmal am Tag muss das wohl sein, ein Kult, der gepflegt wird.


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Kommentare: 1
  • #1

    Lore (Montag, 11 Mai 2015 21:17)

    Reinhard, Deine Fotos sind sehr schön und eine Bereicherung Deiner Erzählungen.
    Vom Husten lesen wir nichts mehr. Gut so. Weiterhin interessante Begegnungen und einen erträglichen Kolonnenweg!
    Lieben Gruß
    Lore