Kolonnenweglos

Zimmerau - Irmelshausen (20 km)


In meiner Unterkunft "Landgasthof zur Linde" in Irmelshausen habe ich mich zum Schreiben ins "Raucherzimmer" zurückgezogen. Allen, die sich jetzt darüber bei mir als fanatischen Nichtraucher wundern, sei gesagt: Das "Raucherzimmer" ist der große Balkon im 1. Obergeschoss, gleich neben meinem Zimmer. Das einzige, was ans Rauchen erinnert, ist der eine Aschenbecher, der sauber geputzt auf einem Tisch steht. Da der Landgasthof heute eigentlich Ruhetag hat und ich der einzige Übernachtungsgast bin, kann kein Stinker hier auftauchen. Die Luft ist noch warm, ich höre die wenigen Geräusche des Dorfes, die Schwalben fliegen tief (morgen soll es gewittern!), eine Monsterhornisse kreist herum, die Kirchturmglocke schlägt, eine Katze ist gerade aus dem Fenster des Nachbarhauses gesprungen und findet ihren Weg über ein Wellblechdach zu mir auf den Balkon. Jetzt sitzt sie auf dem Balkon neben mir auf meiner Bank und beginnt zu schnurren.


Der Morgen fängt fantastisch an: Im Berggasthof Bayernturm raffe ich die Gardine beiseite und trete - noch in sportlicher Funktionsunterhose - auf den kleinen Balkon. Frische Morgenluft umgaukelt mich, samtweich, vom nahegelegenen Wald aromatisiert. Tief geht mein Blick hinunter auf Zimmerau und die wellige Grenzlandschaft, die seinerzeit schon die Grenz-Kucker so begeistert hat. Der Himmel ist blau, durchkreuzt von jeder Menge Kondenzstreifen. Ich kann es nicht lassen und schicke ein lautes "Moiiiin!!!" in die Welt. Der Tag kann beginnen. Mich juckt's in den Füßen, ich will los.


Eine halbe Stunde später bereits ziehe ich mein Wheelie über einen Waldweg. Wie sich herausstellen wird, werden dies die ersten und die letzten Meter auf einem Waldweg sein, der Rest sind asphaltierte Feldwege, Landstraßen oder betonierte, ehemalig westdeutsche Zollwege. Falls jemand bei dieser Aufzählung meinen geliebten Kolonnenweg vermisst, vermisst zu Recht. Ich bleibe heute den ganzen Tag über auf bayerischem Hoheitsgebiet. Entschuldigung, auf fränkischem! Das ist in dieser Gegend ein großer Unterschied. 


Der Kolonnenweg schlägt hier in der Gegend wiedermal tolle Kapriolen, zieht dabei in die Berge der sogenannten Schlechtsarter Schweiz hoch, würde unverhältnismäßig Kraft kosten. Dabei geht es auch anders. Das Image eines lupenreinen Grenzgängers habe ich sowieso schon abgelegt, also was soll's. Zur Selbstkasteiung bin ich nicht angetreten, sondern zur Erkundung der ehemaligen deutsch-deutschen Grenzregion, auf und (ich ergänze) in unmittelbarer Nachbarschaft zum Grünen Band. Und das ist mehr als stupide Lochplatten-Tappserei!


Erster kleiner Halt ist die Quellfassung der Fränkischen Saale, nicht zu verwechseln mit der Saale, die Dieter und mir schon bei Hirschberg, Blankenberg oder Blankenstein im Thüringer Schiefergebirge begegnet ist. Über 135 Kilometer fließt sie von dieser Quelle über Bad Königshofen und Bad Kissingen bis nach Gemünden und mündet dort in den Main. Mein Weg ist länger als deiner, liebe Fränkische Saale! 


Rast machen will ich hier noch nicht, obwohl die stabile hölzerne Sitzgruppe förmlich dazu einlädt. Wäre ja auch noch schöner, nach einer Dreiviertelstunde! Die Temperaturen klettern langsam, und als ich durch die (wiedermal) schier unendlichen Rapsfelder auf Markt Trappstadt zugehe, gratuliere ich mir dazu, dass ich gerade dabei bin, die Höhen der Schlechtsarter Schweiz rechts von mir liegenzulassen. Die Kübelwagen der Grenzer mussten die dortigen steilen Auf- und Abstiege bewältigen, ich nicht. Ich hab's bequem, genieße weite Ausblicke und lasse den lieben Gott einen netten Mann sein.


Markt Trappstadt betrete ich durch ein interessantes Fachwerk-Stadttor, an dem mich nur das Riesenbanner des örtlichen "Grenzcafés" stört, auch wenn dies mich damit zu einer Rast einladen möchte. Werbung für sich kann man auch anders machen, als damit solch ein historisches Bauwerk zu verschandeln. Schon aus Protest ziehe ich 100 m weiter an dem Café vorbei, auch wenn gerade drei junge Frauen an einem kleinen Tisch davor in der Sonne sitzen und Cappuccino trinken. Na ja, soviel Protest ist nun nicht, ich brauche einfach noch keine Pause. Es rollt!


Und so rolle ich denn vom Ortsausgang an eine Landstraße entlang, auf der mir irgendwann der Gedanke kommt, ob ich eventuell hier eine Vollsperrung übersehen habe. Es fährt nicht ein einziges Auto, weder in die eine, noch in die andere Richtung. Ich, der alleinige König der Landstraße! Meine Karte sagt mir, dass sich gleich der Kolonnenweg der Straße annähern und sie dann für einige Zeit begleiten wird. Richtig, da ist er auch schon! Vollkommen unscheinbar zieht er durch die Feldflur, nur einige junge Birken markieren seinen Verlauf. Bei genauerem Hinsehen erst erkenne ich auch die davor verlaufende Vertiefung, die Kfz-Sperre. Früher fuhren die Reisebusse mit den Grenz-Kuckern hier langsamer, heutzutage wissen vielleicht nicht mehr viele, wenn sie hier entlangfahren, dass dort, vielleicht 50 m entfernt, eine Todeszone verlief. Ich schaue nach "drüben", nach Thüringen hinein, zum Großen und Kleinen Gleichberg, und bin ehrlich froh, dass dieser Sch... vorbei ist.


In Breitensee ist es dann endlich so weit - Rast. Der Ort ist gut gewählt: Etwas abseits der Kirche, auf dem Dorfplatz neben dem ehemaligen kleinen Feuerwehrhäuschen, steht eine Holz-Sitzgruppe. Wheelie abgestellt, Tagesrucksack abgeworfen, Bauchgurt und Fototasche daneben, Schuhe aus, hinsetzen, abstöhnen, lächeln - zwei Drittel des Tagespensums sind schon geschafft und es ist erst 12.30 Uhr. 


Ich sitze gerade, da hält ein kleiner Bus neben mir, offensichtlich der Grundschulbus. Ein kleines Mädchen steigt aus, schultert umständlich seinen Ranzen, schaut sich etwas grimmig um. "Huhuuu, Franziska, hier bin ich!" Eine Stimme ertönt vom naheliegenden Spielplatz. Die Oma mit dem kleinen Bruder. Das grimmige Gesicht des Mädchens hellt sich auf und sie stürmt Oma und Brüderchen entgegen. Die Mühen des Schultages sind vergessen, jetzt wird erstmal, unter den fürsorglichen Augen der Oma, gespielt. Vorzugsweise Rutschen. Brüderchen Simon klettert immer brav die Rutschenleiter hoch, Franziska nimmt die Rutsche selbst zum Aufstieg und versperrt damit dem Brüderchen konsequent den Weg abwärts. Brüderchen schreit. Ein sehr schönes Spiel. Oma versucht beständig, pädagogisch wertvoll einzugreifen, scheitert aber. Als sie mein hilfreiches Grinsen bemerkt, lässt sie die Kleinen alleine "spielen" und kommt zu mir hinübergeschlendert.


"Naaa, und Sie machen hier bei uns in Breitensee Rast?!" Was folgt, sind Ausführungen über die Kinder heutzutage im Allgemeinen und das sorglose Aufwachsen der Kinder in Breitensee im Speziellen. Da ich über Fragen der Kindererziehung allgemein und speziell im ländlichen Raum eigentlich ganz gut informiert bin, versuche ich ihr Mitteilungsbedürfnis in eine Richtung zu lenken, die mich hier besonders interessiert. Wie hat man hier im Grenzgebiet, wenn auch auf westlicher Seite, zu Zeiten der deutschen Teilung gelebt?


"Wir waren ja im Halbkreis von diesem Zaun umgeben, haben immer davorgekuckt. Nur wir konnten hintenraus überall hin, die drüben ja nicht. Wir haben oft die Minen gehört, wenn sie hochgegangen sind. Da liegen bestimmt heute noch Minen, nur keiner weiß wo. Wir lassen heute noch unsere Kinder da nicht alleine hin. Dahinten im Wald haben sie immer sieben bis acht Hunde rumlaufen lassen, da hatte keiner, der rüberkommen wollte, eine Chance. Wenn wir auf der Straße, die Sie wohl gerade auch gekommen sind, mit dem Fahrrad nach Trappstadt gefahren sind, haben wir immer wieder die Grenzposten entlangziehen sehen. Manche haben sogar gewinkt. Die, die nicht gewunken haben, waren bestimmt von der Stasi. Wenn einer von denen mitbekommen hat, dass einer winkt, wurde der sofort von der Grenze zurückgezogen und weit ins Hinterland verfrachtet. Als dann die Grenze geöffnet wurde, war das unbeschreiblich. Das war solch ein Jubel. Ich hatte Verwandte drüben in Eicha, jahrzehntelang konnten wir uns nur schreiben, Bilder von uns hin und her schicken. Manche Briefe kamen gar nicht erst an, die wurden ja alle gefilzt. Und dann haben wir uns wiedergesehen ..., Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das war." Als sie das sagt, stehen ihr Tränen in den Augen. "Unmittelbar nach der Grenzöffnung sind sie aus Eicha und Milz mit Blasmusik zu uns rübergekommen, an Silvester haben wir mit Tschingderassabumm unseren Gegenbesuch gemacht. Es waren so wundervolle Tage ..."


Auf dem Spielplatz droht die "Geschwisterliebe" zu eskalieren. Oma ist gefragt. Mit einem Seufzer verabschiedet sie sich von mir. "Na ja, wir waren früher ja auch nicht besser. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Weg und grüßen Sie die Ostsee von mir!" 


Lächelnd mache ich mich an mein letztes Drittel. Nochmal asphaltierte Wege durch riesige Felder, ein schöner lichter Wald mit Tausenden von Maiglöckchen am Wegesrand, dann im weiten Bogen auf Irmelshausen zu, meinem Tagesziel. Der Himmel ist nicht mehr so strahlend blau, Schleierwolken ziehen immer mehr auf. Die Sonne umgibt sich mit einer großen Corona und der Wind, der morgens noch für etwas Abkühlung sorgte, legt sich völlig. Es wird drückender, meine Wasserflasche schnell leerer. Das Gewitter morgen kündigt sich schon an. 


Die Katze neben mir hat inzwischen ihren Kopf auf meine Oberschenkel gelegt. Dabei schnurrt sie so intensiv, dass ich nahezu mitvibriere. Wenn ich jetzt meine Sachen packe und zum Abendessen gehe, ist sie bestimmt beleidigt.


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Kommentare: 2
  • #1

    Lore (Dienstag, 12 Mai 2015 20:58)

    Na, gut, dass Katzen keine Hunde sind und gut, dass Du die Oma getroffen hast, und gut, dass Du ihr Mitteilungsbedürfnis aufgrund Deiner Moderator-Fähigkeiten in die von Dir gewünschte Richtung lenken konntest. So haben auch wir was davon.

  • #2

    Der kronprinz (Montag, 18 Mai 2015 17:31)

    Oh hah!!! Da liest man mal ein paar Tage nicht den Blog, da stehst du schon in der unterbuchse aufm Balkon und grüßt in regional unkorrekter Form...?! Tztztz...