Relaxen im Garten

Irmelshausen - Eußenhausen (24 km)


Dieser Mensch ist mir schon gestern Abend beim Abendessen in der gemütlichen Gaststube auf den Nerv gegangen. Jemand, der sich selbst so gerne reden hört, ohne Punkt und Komma schwätzt. Einer der vorgibt, von allem eine Ahnung zu haben, im Berufsleben ganz wichtig und wirklich maß-gebend war und der beste Jäger unter Deutschlands Hubertusjüngern ist, über alles ein Buch schreibt, für den regionalen Touristik-Verband mal eben den hiesigen Keltenweg kontrollieren muss und jetzt t-e-l-l-e-r-g-r-o-ß-e Blasen unter den Füßen hat, weil diese Deppen hier den Weg nicht richtig auszeichenen können. Ich bleibe konsequent bei meinen "Aha", "Is ja 'n Ding!" oder ""Da kann man mal sehen!", höre aber irgendwann überhaupt nicht mehr zu. Beim Frühstück dann dasselbe Spiel. Er tut mir auch nicht den Gefallen, eine halbe Stunde später zu erscheinen. Ich habe selten so schnell meine Brötchen verputzt. Gottseidank ist er auf dem Keltenweg und nicht auf dem Grünen Band unterwegs, sonst hätte er sich wohlmöglich noch an mich gehängt und mir unterwegs Knöpfe an die Backe gelabert.


Beim Abmarsch aus Irmelshausen ist es schon richtig warm, morgens um halb neun. Das kann ja heiter werden. Keine zwei Kilometer hinter dem Ort bin ich schon wieder am Grenzstreifen. Der Kolonnenweg lockt, doch für ein Weilchen kann ich ihn austricksen. Ich nehme den Zollweg auf der Westseite. Galgenfrist - doch dann ist es soweit. Und wie! Steil geht's mal wieder rauf. So steil, dass ich mir vorkomme, wie auf den letzten Metern einer Gipfelbesteigung in den Alpen. Zehn Meter Stapfen, dann Stopp, nach Atem ringen, weiter, zehn Meter Stapfen, Stopp ... Glücklicherweise liegt hier die "volle Platte" und nicht die üblichere Variante mit Lochgittermuster. So brauche ich mich "nur" auf die Steigungsprozente und auf meinen Körper konzentrieren, und damit habe ich schon genug zu tun.


Hier im Grabfeld habe ich mit solchen Steigungen nicht unbedingt gerechnet, eigentlich soll es doch nur ein heiteres Hügelland sein. Als ich das erste Mal etwas vom Grabfeld hörte, dachte ich: Was für ein schauriger Name. Hat das mit Tod und Finsternis zu tun? Doch das fränkisch-thüringische Grabfeld ist alles andere als düster. Gestern und heute, wo ich das Grabfeld einmal komplett über knapp 50 Kilometer durchquere, erlebe ich es als eine freundliche Gegend mit weiten Feldfluren und lichten Wäldern, in denen vor allem Eichen und Hainbuchen wachsen. "Grab" ist in den slawischen Sprachen das Wort für Hainbuche und da im Mittelalter slawische Stämme bis weit nach Franken vordrangen, erklärt dies vielleicht den Namen des Landstrichs.


Nach zwei heftigsten Kolonnenweg-Anstiegen ist es dann aber auch schon wieder vorbei. Wahrscheinlich wollte sich mein treuer Grüne-Band-Begleiter nur mal in Erinnerung bringen, nachdem ich ihn ja gestern komplett ignoriert habe. Ich muss ihn zwar für ein paar Kilometer weiterhin abtrampeln, aber in "gemütlichem Terrain". Ich weiß nur nicht, ob das Wild in dieser Gegend das genauso sieht. Schon gestern ist mir das aufgefallen und heute setzt sich das fort. Die Jagdsitze hier nehmen nahezu inflatorische Ausmaße an. Nirgends auf der Strecke bisher war die Jagdsitz-Dichte so hoch. Hat sich da nach der Wende entlang des ehemaligen Todesstreifens ein neues Eldorado für die deutsche Jägerschaft aufgetan? Der Slogan "Vom Todesstreifen zur Lebenslinie" kann für das hiesige Wild wohl nur eine böse Ironie bedeuten. Muss gerade in diesem so sensiblen Bereich in diesem so offensichtlichen Ausmaß herumgeballert werden? 


Schon von weitem sehe ich in Verlängerung des Kolonnenwegs einen Wachturm, Exemplar "Führungsturm". Ich komme zum "Deutsch-Deutschen Freilandmuseum Behrungen". Außer dem Turm sehe ich beim Näherkommen noch einen in Tarnfarben gestrichenen kleinen Beobachtungsbunker, etwa hundert Meter Grenzzaun hinter dem Kfz-Sperrgraben. Alles steht irgendwie harmlos da in der Landschaft. Rechts vor einem Zauntor hat man Panzersperren aufgebaut. Vor dem rostenden Metall blühen Blumen. Über eine Zaunlücke gelange ich auf das ehemalige Minenfeld. Hier stoße ich auf eine kleine Gedenkplatte, mit der an die Begebenheit erinnert wird, dass hier im März 2001 ein zehnjähriger Junge eine noch aktive Mine gefunden hat und dank seines besonnenen Verhaltens und dessen der anwesenden Erwachsenen eine menschliche Katastrophe verhindert werden konnte. Die eigentliche Grenzlinie markiert heute wie damals ein schwarz-rot-goldener Grenzpfahl. Dahinter, an einer Waldecke, taucht der weiß-blaue Schlagbaum der Bayern auf. Und auch der Westzoll hat einen Grenzpfahl aufgestellt, der weiß-blau und nicht etwa schwarz-rot-gold gestrichen ist. Gegen dem Verbleib von Turm und Grenzzaunresten hatte es nach der Wende große Vorbehalte gegeben. Man wollte in Behrungen alles, was mit Grenze zu tun hatte, nicht mehr sehen. Doch es gab auch Menschen, die die Erinnerung erhalten wollten. 1994 fasste das Gemeindeparlament - nicht einstimmig aber mehrheitlich - den Beschluss, dass ein Ensemble aus Wachturm und Sperranlagen unter Denkmalschutz gestellt werden sollte, und das Thüringer Landesamt für Denkmalpflege entsprach dem Mehrheitswillen der Behrunger. Hinten am Beobachtungsbunker toben mittlerweile Kinder einer Schulklasse herum. Der Beobachtungsbunker als Kletter-Spielzeug. Recht so, Kinder! 


Die alte Grenzerkaserne am Ortseingang von Behrungen ist nicht, wie viele andere, dem Verfall anheimgegeben. Anscheinend ist ja doch bei der einen oder anderen noch was zu retten. Diese wird heute - grundsaniert und modernisiert - als "Senioren-Oase" geführt. Mich stört nur der Hartgitter-Zaun, der das komplette Anwesen umgibt. Hatten die alten Menschen nicht Zaun genug?


Hinter Behrungen geht es leicht aufwärts auf Berkach zu. Jenseits der A 71 treffe ich auf ein heckenumstandenes Geviert am Feldrand. Ein kleiner Friedhof, ein paar Schritte ab vom Weg. Alte Gräber, keine frischen Blumen, bemooste Grabsteine, auf manchen liegen kleine Kieselsteine. Verzierungen mit Sternen, Davidssternen. Ich zähle knapp 150 Grabsteine. Sie sind hebräisch beschriftet. Auf der zugewandten Seite. Auf der anderen haben sie deutsche Inschriften. Ich fühle mich wie ein Eindringling auf diesem Friedhof, als stünde mir nicht zu, hier zu sein, als störte ich durch bloßes Da-sein die Totenruhe. Das ist wohl ewiges Vermächtnis unserer Geschichte: jüdisches Deutsches als Exotisches zu empfinden.


In Berkach treffe ich auf eine Synagoge. Ein großes, schlichtes Gebäude, in Grau- und Grüntönen vor nicht allzu langer Zeit gestrichen, mit großen rundbogigen Glasfenstern, die über zwei, drei Etagen reichen. Hinein kann ich nicht. Die Tür ist abgeschlossen. Im Internet habe ich gerade gelesen: Seit 1700 gab es eine jüdische Gemeinde in Berkach. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren etwa ein Drittel der knapp 500 Einwohner jüdische Gemeindemitglieder. In den 1870er Jahren, dann am Anfang des 20. Jahrhunderts und in den 1930er Jahren ging die Zahl der jüdischen Berkacher zunächst durch Aus- und Abwanderung, dann zunehmend durch Verfolgung stark zurück. Im Novemberprogrom 1938 wurde die Synagoge zwar nicht zerstört, musste aber auf Druck an die politische Gemeinde Berkach "verkauft" werden, die das Gebäude an den Sparkassen- und Darlehensverein weiterveräußerte. Zur DDR-Zeit wurde die ehemalige Synagoge durch die LPG als Lagerraum und Schmiede benutzt. Seit 1989/90 wurden auf Initiative der Denkmalbehörde mit der Jüdischen Landesgemeinde Thüringens die jüdischen Kulturstätten in Berkach restauriert: die Synagoge, der Friedhof, ein kleines Badehaus.


Am Ortsausgang von Berkach öffnet sich im zweiten Stockwerk des letzten Hauses ein Fenster und eine Frau mittleren Alters lacht mir entgegen. "Aber wir haben doch noch gar nicht Donnerstag!" Erst muss ich kurz nachdenken, dann dämmert es mir. Donnerstag ist Christi Himmelfahrt, "Vatertag". Schon in der "Linde" in Irmelshausen hatte ich gehört, dass hier die Väter (oder die, die es noch werden wollen) an diesem Tag noch mächtig unterwegs sind, und vielleicht hält die Frau mich mit meinem Wheelie ja für sowas wie eine Vorhut. Vielleicht sind die Männer hier manchmal auch mit so einem Gefährt unterwegs, nur transportiert dies dann nicht das Gepäck eines Wandersmanns, sondern ein Fässchen Bier. Ich kläre das auf und die nette Frau lacht nur, wünscht mir noch einen guten Weg und schließt wieder das Fenster.


Schon seit gestern lese ich an den Ortseingangsschildern, dass ich mich inzwischen im Landkreis Grabfeld-Rhön befinde. Doch nicht nur daran erkenne ich, dass ich mich immer mehr der Rhön nähere. Auch ganz hinten am Horizont tauchen ihre Höhen im dunkelblauen Dunst auf und ich mag mir gar nicht so gerne ausmalen, wie ich mich dort die Kolonnenwege empormühen werde. Doch ich merke jetzt schon: Meine Form wird immer besser, und wenn ich dort angekommen bin, werde ich die Kolonnenwege niederringen, ich werde sie auslachen ... glaube ich.


Noch eine Stunde ist es bis Eußenhausen, meinem Tagesziel. Die Temperaturen sind mittlerweile immer weiter angestiegen und ich denke, wir nähern uns der 30°C. Unter meinem Hut brutzelt es mir so langsam das Gehirn weg und ich bin froh, als ich die Kirchturmspitze und die ersten Hausdächer meines Übernachtungsortes vor mir erkenne. Ein Gewitter ist für die späten Nachmittagsstunden, für den Abend oder für die Nacht vorhergesagt. Ich bitte darum! Eine kleine Abkühlung wäre schon angesagt. Und wenn das alles außerhalb meiner Wanderzeit passiert - noch besser! 


Frau Euring öffnet mir strahlend die Pensionstür, führt mich auf mein Zimmer und offeriert mir als erstes "eine schöne, kalte Flasche fränkisches Schwarzbier, aus einer kleinen Brauerei hier aus der Nachbarschaft". Ich nicke nur begeistert und sie holt sie mir. Noch bevor wir alles bezüglich Abendessen ("Ich mach Ihnen leckere Rouladen mit selbstgemachten Nudeln und frischem Salat aus dem Garten!"), Frühstück und Internetanschluss geklärt haben, ist die Bierflasche leer. Ich war aber auch irgendwie ausgedörrt. "Ich denke, Sie wollen sich jetzt erstmal ein wenig ausruhen und schlafen (Woher weiß die Frau das?), und wenn Sie wieder wach sind, setzen Sie sich doch einfach hinten in meinen Garten." So soll es denn sein, liebe Frau Euring, und ich stimme begeistert zu.


Nach meiner - inzwischen obligatorischen - Siesta mache ich mich dann tatsächlich auf in Frau Eurings Garten - und bin baff. Ein kleines Paradies! Eine Wiese mit Obstbäumen, ein Teich mit üppigen Blumenstauden rundherum, Hochbeete, ein Gewächshaus, Blumen- und Gemüsebeete, ein kleiner Hühnerstall - und Frau Euring steht mittendrin und arbeitet. Eine weitere Frau hilft ihr dabei, ein Gast aus Hagen, der seit fast dreißig Jahren hierher kommt und zur Freundin geworden ist. Ich setze mich unter das Dach einer halboffenen Gartenlaube und beginne meinen Blog. Frau Euring geht in ihr Gewächshaus und pflückt Salat. "Für Ihr Abendessen gleich!"


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Kommentare: 4
  • #1

    Lore (Mittwoch, 13 Mai 2015 20:41)

    Bei den Sternzeichen bin ich Schütze, bei den Baumhoroskopen bin ich Grab, hahahaha.
    Übrigens ist die Hainbuche eine Birke.

  • #2

    Die Pilgertochter (Donnerstag, 14 Mai 2015 19:32)

    Oh nein! immer schön Hütchen tragen! Wäre ja blöd, wenn du dir dein kostbares Hirn wegbrutzelst!

  • #3

    Lore (Donnerstag, 14 Mai 2015 20:08)

    Übrigens musst Du Dich nicht wundern, dass der Kolonnenweg Dich immer mal in die Höhe treibt, schließlich musst Du während der Tour am Grünen Band 18.000 m in die Höhe steigen, .... wenn die Angabe im Internet stimmt.

  • #4

    Der kronprinz (Dienstag, 19 Mai 2015 13:07)

    Also wenn ich schon wieder diese Minen Kind Geschichte höre, wird mir direkt ganz anders. Pass bloß auf da...