Grenzkunst

Eußenhausen - Fladungen (27 km)


Frau Euring hat um eine frühe Frühstückszeit gebeten. 7 Uhr, wenn möglich. "Ich mache mit meiner Seniorengruppe einen Ausflug nach Bad Mergentheim. Da geht es früh los!" Na, da bin ich doch voll mit einverstanden! Wenn es nach mir ginge, wäre das jeden Morgen meine Zeit, nur viele Beherbergungsbetriebe spielen da nicht immer mit. Von wegen der Brötchen, die ja dann noch nicht frisch vom Bäcker da wären. In Pensionen und bei Privatvermietern klappt das schon eher, da sie oft Monteure als Gäste haben, und die müssen früh raus.


Gestern Abend zog ein schweres Gewitter vorbei, aber eben nur vorbei. Zumindest der Regen war mehr als dürftig. Die Region jammert wegen der andauernden Trockenheit. Ich beobachte auch schon seit Tagen die aufgerissenen Böden an den Rändern der Äcker. Ich persönlich beklage mich natürlich nicht. Es hat schon was, jeden Morgen aus dem Fenster einen blauen Himmel zu sehen, der sich dann auch noch mehr oder weniger den ganzen Tag so zeigt.


Der Gewitterregen von gestern Abend, der dann doch irgendwo in der Region heruntergekommen sein muss, hat jedenfalls die drückende Hitze verdrängt und es ist recht frisch, als ich losgehe. So frisch, dass ich meinen Atem sehe, als ich von Eußenhausen aus die Landstraße hochziehe. "Hochkeuche" muss ich eigentlich treffender sagen, denn es geht flott bergauf. Die Straße ist recht gut befahren, denn es ist Berufsverkehr. Manche Autos düsen so knapp an mir vorbei, dass ich mir überlege, ob ich eventuell unsichtbar geworden bin. Andere entgegenkommende Autos erschrecken sich andererseits offensichtlich vor mir, denn sie fahren bis auf die andere Straßenseite hinüber. Das halte ich nun auch wieder für etwas übertrieben.


Nach einer Stunde bin ich oben auf der Alten Schanze, einer Wasserscheide zwischen Main und Weser, ein Grenzübergang seit altersher. Ein mannshoher, mit dem Wappen des Herzogtums Sachsen-Meiningen verzierter Stein markiert heute die Landesgrenze zwischen Bayern und Thüringen. 1973 wurde hier die deutsch-deutsche Grenze ein klein wenig durchlässiger. Nach langwierigen Verhandlungen wurde an diesem Grenzübergang Henneberg-Eußenhausen der "kleine Grenzverkehr" eingerichtet und damit ein Übergang in Hektargröße, den man heute nur noch erahnen kann. Das Sperrgebiet hatte ein kleines offizielles Loch bekommen. DDR-Bürger aus grenznahen Landkreisen durften hier in den Westen, um Verwandte zu besuchen, umgekehrt auch. Auf dem Papier. In der Umsetzung geriet es zu einer recht einseitigen Angelegenheit. 96 Prozent der Grenzüberquerer kamen aus der Bundesrepublik. Von den wenigen DDR-Bürgern, die in den Westen reisen durften, waren das zu 97 Prozent Rentner, Menschen, die nicht mehr für den Sozialismus rackerten, den Staat nur noch kosteten. Man dachte wohl, wenn die vielleicht drüben bleiben, kosten sie uns hier keine DDR-Rente.


Von der Grenzübergangsstelle ist nichts geblieben außer einer großen geteerten Fläche, einem im Verfall begriffenen Grenzturm, stark abblätternd, von wo das gesamte Areal überwacht wurde, und einem unvollendeten Backsteinbau, der als Grenzkaserne geplant war. Für sie kam wohl der 9. November 1989 dazwischen. Hundert Meter Richtung Eußenhausen, auf dem ehemaligen bayerischen Grenzparkplatz, fallen mir eine rot-weiß gestrichene Schranke und eine Ampel auf. Hier wurde ein Teil der Grenzübergangssperranlagen wieder aufgebaut: Schranken, ein Postenwachhäuschen, Grenzzäune, ein tonnenschwerer Rammbock, den man zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen über die Straße schieben konnte. Unglaublich, welche Mühe sich die DDR mit der Sicherung eines Grenzübergangs gemacht hat, an dem de facto vom "Osten" her nur Rentner passieren durften.


Ins Auge fällt hier oben auf der Alten Schanze etwas anderes. Mitten auf dem ehemaligen Grenzstreifen steht Kunst, jede Menge davon, frei zugänglich: der "Skulpturenpark Deutsche Einheit". Das gesamte Areal ist reich an Symbolen und Botschaften. Die größte Skulptur, wenn man sie so bezeichnen will, soll eine Brücke darstellen, die zwei alte Grenzsteine überspannt. Eine Hälfte steht auf bayerischem Boden, die andere auf thüringischem. Von der Bauart erinnert sie mich etwas an ein Element aus einem Kinderbaukasten. Kaiser Barbarossa und sein Knappe, übermannsgroß und im durchscheinenden Buntglas, deren Symbolik sich mir im Zusammenhang mit der wiedergewonnenen Einheit der Deutschen nicht sofort erschließt, ein buntes "Feld der Fahnen" von Gymnasiasten beiderseits der Grenze. Die für mich eindringlichste Skulptur benötigt kein Wort der Erklärung: " Auf der Flucht erschossen". Die stählerne Nachbildung eines Menschen, der, vor Schmerz schreiend, auf die Knie sackt. In seiner linken Brust klafft ein Loch. Mich schaudert es, als ich aus einer gewissen Perspektive durch dieses Loch im Hintergrund das Gerippe des alten Grenzturms ausmache.


Am Skulpturenpark beginnt der Friedensweg, der von nun an über vierzig Kilometer entlang der ehemaligen Grenze bis nach Birx führt, meinem morgendlichen Tagesziel. Auf vielen aufgestellten Tafeln, vierzig sollen es sein, erfährt der Grenzwanderer so einiges, was in diesem Grenzabschnitt damals passierte. Zum Beispiel über einen der letzten DDR-Flüchtlinge (ein 62jähriger aus Meiningen, der Ende Mai 1989 die Grenzübergangsstelle mit einem Kehrfahrzeug säubern sollte, einfach Gas gab, bis er auf bayerischem Boden ankam), über den Stützpunkt des Geheimdienstes der US-Armee auf einer nahen Bergkuppe oder über einen DDR-Grenzer, der im Oktober 1985 desertierte. So werden Einzelschicksale mit Ort und Zeit und Drama an der Geschichte festgemacht. Das beeindruckt. Andererseits glaube ich, wenn ich morgen alle 40 Tafeln "durchhabe", hinterlässt diese Serie auf die Dauer das Sättigungsgefühl von zu vielen Anekdoten: Mannomann, hier ging es ja wild zu. Fluchten nach Schießereien nach Feten mit Alkohol und Frauen im Spiel, Abenteuergeschichten, ein bisschen Billy the Kid. So war der Wilde Osten. Bin ich zu mäkelig?


Steil führt der Friedensweg von der Alten Schanze wieder abwärts, als schmaler Trampelpfad durch den Wald hinunter, der aber immer wieder auch einen Blick auf die sich nun mehrenden Rhönhöhen erlaubt. Unten angekommen "durchwate" ich mal wieder ein Rapsmeer, und mitten aus dem Raps heraus erhebt sich die Anhöhe des Dachsbergs. Auf ihm der nächste Wachturm - und das Weltfriedenskreuz. Acht Meter hoch ist das Holzkreuz, eines von sechs Weltfriedenskreuzen, die der Leiter der singenden Heerscharen, Gottfried Fischer, seit 1980 in fünf Kontinenten hat aufstellen lassen. Durch den Zoom meiner Kamera lese ich die Inschrift auf dem Querbalken: "Frieden sei dieser Welt beschieden". Ein frommer Wunsch. Der Friedensweg führt direkt am Fischer-Kreuz, oh, Entschuldigung!, am Weltfriedenskreuz, vorbei, wäre aber ein Umweg. Schenke ich mir, geht auch einfacher.


Dann wieder das Unvermeidliche - der Kolonnenweg. Mittlerweile muss ich fast lachen, wenn er sich ankündigt. Ich habe meinen Frieden mit ihm gemacht. Ich weiß, wie ich ihn zu gehen habe. Ich weiß, dass auch der steilste Anstieg mal sein Ende hat, ich muss mir nur Zeit lassen. In der Ruhe liegt die Kraft. Steil geht es auch jetzt wieder hoch, doch sein Umfeld ist herrlich. Bunte Blumenwiesen dort, wo einst das Minenfeld war, würziger, lichter Kiefernwald auf beiden Seiten. Ein Milan landet auf einer Kiefernspitze und ein großer Fuchs kreuzt, keine zwanzig Meter vor mir, in aller Ruhe die Lochplatten. Für den Milan bin ich mit meiner Kamera schnell genug, für den Fuchs nicht.


Betroffenheit bei mir dann wieder bei der Wüstung eines Dorfes, Schmerbach hieß es. An einer kleinen Straße, inmitten einer riesigen Feldflur, nur 250 m vom Kolonnenweg entfernt, steht unter einer kleinen Birke ein Gedenkstein: " Über 300 Jahre stand hier das Dorf Schmerbach". Ursprünglich war Schmerbach ein Gutsdorf nebst Ziegelei. 1945 wurde der Gutsbesitzer enteignet und das Land an die Arbeiter und Neusiedler (meist Flüchtlinge) verteilt. "Bodenreform" hieß das damals. Jede Familie erhielt 8,5 Hektar und ein Häuschen. Doch das Glück vom freien Bauerntum war nicht von langer Dauer. 1974 machten die Grenztruppen das Gutsdorf dem Erdboden gleich. Nur die Trafostation und der Friedhof blieben erhalten. Sie stehen mitten im weiten Acker, kein Weg führt zu ihnen hin. Die Menschen, die man 19 Jahre zuvor mit eigenem Grund beglückt hatte, wurden zwangsweise umgesiedelt.


Die Sonne strahlt auf dies alles hinab. Alles sieht so freundlich, so heiter, so naturschön aus. Und dann diese Geschichte. Passt hierzu nicht besser Regen, Nebel, Sturm eher als Sonne und blauer Himmel? 


Dann endlich kommt, jenseits von Kontrollweg, Kfz-Sperrgraben und mittlerweile überwachsenem Grenzstreifen, Weimarschmieden. Ein kleiner Ort, am Ortseingang stolz beschrieben als das nördlichste Dorf Bayerns. Ein Foto zeigt auf einem kleinen Anschlagbrett den Moment, an dem eine Menschenschlange aus dem thüringischen Nachbarort Gerthausen an einem der euphorischen Tage unmittelbar nach der Grenzöffnung den Grenzstreifen überquert, um Weimarschmieden einen ersten Besuch nach 40 Jahren abzustatten. Unter den machtlosen Blicken eines Grenzers. Die Blicke der Menschen sind gespannt, fast ängstlich, als fürchteten sie doch noch ein Eingreifen des Uniformierten. "Richtig Angst hatten sie, als sie da kamen", sagt ein alter Mann, der auf einmal neben mir steht. " Erst als sie an dem Grenzer vorbei waren und nichts passierte, waren sie nicht mehr zu halten. Losgerannt sind sie, geschrien haben sie, gejubelt, sie sind uns in die Arme gelaufen. Sie glauben ja nicht, was wir hier für ein Fest gefeiert haben."


Vorm "Gasthof zur Weimarschmiede" mache ich nun endlich Rast, wurde auch Zeit. Die Füße glühen nach fünf Stunden Durchmarsch. Im Gasthof wollte ich eigentlich übernachten, aber schon bei meiner Anfrage im Januar wurde mir negativ beschieden. An der Tür hängt jetzt auch ein großes Pappschild: "Wegen einer privaten Sache haben wir heute nicht geöffnet. Wir freuen uns morgen wieder auf Ihren Besuch!"


Eine halbe Stunde gönne ich mir, dann geht es an den Rest für heute. Und die haben es in sich. Sechs Kilometer Landstraße, in knalliger Sonne, bis Fladungen. Sie ziehen sich gnadenlos hin, doch irgendwann habe ich auch das geschafft. Ich kämpfe mich noch durch die kleine Altstadt, dann bin ich am Ziel: "Pension Sonne". Der Herr des Hauses sitzt auf einer kleinen Bank im Schatten vor der Tür und lächelt mir entgegen. "Haben Sie's geschafft für heute?" - "Ich hab's geschafft und ich bin geschafft!", fällt mir als Antwort nur ein und ich spanne mich aus meinem Wheelie-Geschirr.


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Kommentare: 2
  • #1

    Die Pilgertochter (Donnerstag, 14 Mai 2015 21:40)

    Gänsehaut... einfach nur immer wieder Gänsehaut...

  • #2

    Guido (Freitag, 15 Mai 2015 17:25)

    So, sitze mal wieder in der Bahn und folge deinen Ausführungen ganz gespannt! Manchmal schmunzelnd, manchmal auch sehr nachdenklich, was sich entlang Deines Wanderweges so alles zugetragen hat. Freue mich auf die nächsten Kapitel!!! Lass es Dir gutgehen!