Vatertag

Fladungen - Birx (13 km)


Beim Aufstehen gratuliere ich mir zu meinem "Ehrentag". Heute ist Vatertag! Mal sehen, wie die Rhöner Väter so drauf sind. Ziehen sie noch durch die Gegend oder gehen sie direkt in die Kneipe? Bleiben sie unter sich Testosteronträgern oder können sie sich auch mit einem Familienausflug anfreunden? Ich werde sehen.


Die Pension Sonne verlasse ich mit gemischten Gefühlen. Die letzten Tage hielten sich längere Anstiege sehr zurück, genauer, sie fanden überhaupt nicht statt. Das Rhönvorland ist eben nur ein Vorland, da geht es steigungsmäßig eher besinnlich zu. Heute mache ich erste Bekanntschaft mit den ersten Rhönbergen, dem Rhönkopf und dem Salkenberg, die schon hart an die 800 m heranreichen. Ich werde kräftig zu ziehen haben. Es werden aber kaum 15 km werden, ich habe also viel Zeit. Ich gehe mal wieder im T-Shirt los. Es scheint wieder warm zu werden. Mal sehen, wie sich blauer Himmel und Sonnenschein in der Höhe auswirken.


Zunächst ist es ganz harmlos. Leicht steigt die kleine Landstraße hinter Oberfladungen an, es windet leicht, ich komme kaum außer Atem, mein Wheelie rollt. Auch als der Friedensweg als Wirtschaftsweg rechts abbiegt, den ich eigentlich einschlagen soll, bleibe ich auf der unbefahrenen Straße. Sie geht als Serpentine weiter, der Wirtschaftsweg wäre steiler. Der Zeitaufwand ist vielleicht derselbe, aber ich spare Kraft. Doch dann ist "der Weg in den Himmel" unvermeidbar. Als schmaler Pfad windet er sich durch einen Wald hoch. Hoch, hoch, immer höher. Der Kolonnenweg einiger Abschnitte bekommt Konkurrenz, nur ohne Beton, ohne Löcher. Im Gegenteil, ich gehe auf einem Nadel- und Blätterteppich, was mir die Sache leicht macht. Ich steige langsam bergauf, bemühe mich, meinen Schritt zu bremsen, keine Sauerstoffschuld einzugehen. Und siehe da, es klappt. Natürlich schwitze ich, atme ich schwer, aber ich komme hoch, mit einer gewissen Leichtigkeit. 


Dann kommt der Waldrand - und ich sehe eine riesige Wiese vor mir. Ich bin auf dem Gipfel. Nur in der Rhön haben die Berge eigentlich keine Gipfel, sondern abgerundete Kuppen mit Bergwiesen und niedrigen Bäumen und Büschen. Es ist herrlich hier oben - aber auch frisch. Der Wind weht kräftig über die kahle Höhe und kühlt meinen Aufstiegsschweiß empfindlich schnell ab. Es wird Zeit, dass ich eine Pause einlege und mir den Anorak anziehe. Die Gelegenheit dazu kommt beim "Heimatblick".


Am Rand der Wiese steht eine bemerkenswerte Schutzhütte, die einer Hirtenunterkunft nachempfunden scheint. Aufeinandergeschichtete Basaltsteine wehren die Westwinde ab, starke Rundhölzer tragen ein mit Gras bewachsenes Dach. Im Innern ist eine Gedenktafel angebracht: "Wanderer, der du hier vorüberziehst, unten im Tal unsere Heimat siehst, verhalte im Schritt. Grüße sie Drüben und sage, dass wir ihr treu geblieben (1967)" Thüringer, die aus der gegenüberliegenden Grenzregion geflohen waren, haben hier diese Gedenkstätte errichtet. Der Ort dafür ist gut gewählt. Von einem steilen Wiesenhang, auf dem noch einige Bänke und Sitzgruppen stehen, blickt man weit hinein ins Thüringische, bis hinüber zum Inselsberg im Thüringer Wald.


Als ich nach einer Rast über die weite Hochfläche weitergehe, bleibt der Anorak an, zumal sich immer wieder kleine Wolken vor die Sonne verirren. Auch wenn ich jetzt über nahezu ebenes Gelände gehe, bin ich langsam unterwegs. Der Blick über diese so große, mit Blumen bestandene Wiese, mit anderen Rhönbergen im Hintergrund, faszinert mich und ich bleibe immer wieder stehen. Für den Rest meines heutigen Wandertages wird das so bleiben, morgen auch noch, und das bei diesem herrlichen Wetter, ich bin begeistert.


Und dann kommen sie: die ersten Vatertagsausflügler! Gegenüber treten sie im kleinen Rudel aus dem Wald heraus. Aber nicht nur Väter, sondern genauso viele Mütter. Kinder sind nicht dabei. Doch der Trupp ist in einem Alter, da sind die Kinder selbst als Väter oder Mütter unterwegs. Einer der Männer stemmt gerade ein Bierfässchen aus seinen Rucksack und stellt es auf einem großen Holzstapel ab. Aus den Taschen kramen alle ihre Gläser hervor und es wird eingefüllt. Als ich um ein Vatertagsfoto bitte, stellen sich alle in Positur. Kaum habe ich den Apparat wieder verpackt, habe ich ein gefülltes Schnapsglas in der Hand. Ein Bier hätte ich ja mit Vergnügen genommen, aber einen Schnaps ... ? Er schießt auch direkt voll durch. Anscheinend geht er nicht den Weg durch den Magen, sondern dockt direkt im Gehirn an. Ehe ich mich versehe ist das Pinnchen nochmal voll und alle prosten mir zu und lachen. Soll ich den Schnaps jetzt wegschütten? Geht auch nicht, also runter damit! Jetzt aber flüchten, sonst nimmt das ein böses Ende! Mit ungeplantem Alkoholgenuss habe ich auf meinen Wanderungen in den letzten Jahren schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn ich jetzt schon in meiner Unterkunft wäre, wäre ich ja einer gewissen Geselligkeit, die sich zwanglos ergibt, nicht abgeneigt. Aber um diese frühe Zeit schon? Ich habe ja jetzt bereits prompt ein leichtes Taubheitsgefühl im Gehirn. Noch ein Schnaps und ich laufe drei Stunden im Kreis!


Kaum habe ich mich von der ersten Vatertagsgesellschaft losgerissen, kommt die nächste Truppe aus dem Wald. Diese ist aber eindeutig als Familienausflug definiert. Zwei Väter ziehen einen mit Decken und Picknickutensilien bepackten Bollerwagen, andere junge Väter und Mütter folgen laut schnatternd (nur Milch haben die auch nicht getrunken!) und eine Schar Kinder rennt allen, mit Fußbällen ausgestattet, aufgeregt vorweg. Wahrscheinlich startet gleich beim "Heimatblick" ein Väter-Kinder-Fußballspiel, während die Mütter die Würste grillen und den selbstgemachten Nudelsalat auspacken. Ob die mir auch eine Wurst abgeben würden? Und etwas Mayonnaisensalat ...? Könnte meinem etwas verlorengegangenen Gleichgewicht wieder auf die Sprünge helfen. Aber vielleicht hilft strammes Wandern bei klarer, frischer Rhönluft auch. Also weiter!


Der Weg nach Frankenheim ist ein Traum! Leicht absteigend geht es weiter über Bergwiesen.Wie soll ich den Blick beschreiben? Atemberaubend schön? Überwältigend? Aber es geht nicht allein um den Blick, unzählige Blicke. Das hier oben hat auch sehr viel mit Gefühl zu tun, mit einer ganz besonderen Stimmung, die einen erfasst. Ich will nicht sagen, es wäre ein religiöser Moment, aber es geht schon sehr tief.


Jenseits eines kleinen Wäldchens treffe ich wieder auf den Kolonnenweg, kreuze ihn aber nur, "mache rüber" von Bayern nach Thüringen. Genauer gesagt, ich komme in einen schmalen thüringer Zipfel, der hier wie eine Speerspitze nach Bayern hineinragt. Frankenheim, der höchstgelegene Ort der Rhön, liegt am Anfang des Zipfels, Birx, mein Tagesziel, in der Spitze. Arm waren die Menschen hier zu früherer Zeit. So arm, dass sie in Gruppen durch die benachbarten Regionen zogen, um sich ihren Lebensunterhalt zusammenzubetteln.


Fünf Minuten vor dem Ortsbeginn sitzen zwei Frauen auf einer Bank am Wegesrand und schnattern und gibbeln vor sich hin. Zwischen sich eine Schachtel "Kleiner Feigling". Als sie meinen etwas irritierten Blick registrieren, lachen beide und eine ruft mir zu: "Da staunen Sie, junger Mann (!), wie? Unsere Männer sind unterwegs und wir machen es uns hier gemütlich! Und wie!" Ich gönne es ihnen von Herzen, lache mal kurz und mache, dass ich weiterkomme. Nicht dass die beiden auf die Idee kommen, mir noch einen "Feigling" anzubieten.


Von Frankenheim klingt Dicke-Backen-Musik zu mir herauf und je näher ich komme desto lauter. Menschen scheinen sich kräftigst zu amüsieren und es ist noch keine 12 Uhr. Jetzt heißt es, hohe Aufmerksamkeit an den Tag zu legen. Die Gefahrenzone muss umgangen werden! Nicht drei Kilometer vor dem Ziel versacken! Wie die Sirenen des Odysseus zieht mich die ausgelassene Fröhlichkeit an, doch ich muss widerstehen. Ich schaffe es, die Menschen in der Frankenheimer Hochrhönhalle müssen weiterhin ohne mich abfeiern.


Weiter gehe ich auf Brix zu. Eine nächste Vatertagstruppe kommt auf mich zu, allesamt junge Männer, wahrscheinlich noch kein einziger Vater darunter. Aber hochgradig fröhlich und auch sympathisch. Sie fragen nach dem Inhalt meines Wheelies, vermuten in mir vielleicht doch den einsamen Vatertagseinzelkämpfer, der sein ganz persönliches Bierfässchen in einer Karre hinter sich herzieht, möglicherweise mit direktem Schlauchanschluss. Als ich das aufkläre, fragen sie nach dem Gewicht meines Lastenträgers, woher ich komme, wohin ich noch will und überhaupt, warum ich das überhaupt mache. Und außerdem könnte ich jetzt auch eine Flasche Bier mit ihnen trinken, dann redet es sich doch besser. Sofort klingeln bei mir wieder die Alarmglocken, ich danke, wünsche den Jungs noch eine schöne Tour und bin auch schon weiter.


Eine halbe Stunde später klingel ich bei Frau Hartmann, meiner netten, alten Zimmerwirtin für die heutige Nacht. "Sie wollen sich jetzt bestimmt erstmal ausruhen und sich etwas hinlegen. (Hat sich das eigentlich inzwischen rumgesprochen?) Wenn Sie wieder bei Kräften sind, koche ich Ihnen einen schönen Kaffee!" So passiert's. In ihrer kleinen Stube sitzen wir fast eine Stunde zusammen und Frau Hartmann erzählt. 


Sie sei ja nicht von hier. Ihr Mann, der aus Birx stamme, sei noch vor dem Mauerbau geflüchtet und sie hätten sich im Westen kennengelernt. Dann habe er von seinem Onkel dies Haus hier geerbt und nach der Wende sei er mit ihr zurück. "Und da habe ich erst gemerkt, wie die Menschen hier gelitten haben müssen. Stellen Sie sich vor, von drei Seiten war das Dorf von einem Zaun umgeben, nur nach Osten, über Frankenheim, konnten sie raus. Da sie aber in der Sperrzone wohnten, war dies auch nur mit beantragten Passierscheinen möglich. Nach einer Geburtstagsfeier in Frankenheim zum Beispiel, musste man bis 22 Uhr wieder zurück sein oder man kam erst ab morgens sechs Uhr wieder rein. Nächtliche Ausgangssperre sozusagen. Als uns meine Schwägerin mal im Westen besuchen durfte, raffte sie sofort immer ihre kleine Tasche mit den Ausweispapieren unter den Arm, reflexartig. Sie war das so gewohnt. Immer den Ausweis parat haben, sobald man vor die Tür ging. Wenn nicht, wurde man erstmal "weggesteckt". Ich hatte Mühe, ihr begreiflich zu machen, dass das im Westen nicht nötig ist. Nach der Wende, als sie mittlerweile hier wohnten und manchmal mit anderen Birxern auf der Straße zusammenstanden und sich unterhielten, kam oft ein älterer, inzwischen wohl verwirrter Mann panisch auf sie zu und ermahnte sie, nicht so zusammenzustehen, das sei doch verboten. Stelllen Sie sich vor, die durften sich damals höchstens zu zweit auf der Straße unterhalten, zu dritt war schon verboten. Beim ersten Mal wurde man noch ermahnt, dann wurde man "weggesteckt". Noch heute merke ich ganz genau, wer damals "dazu" gehörte. Die haben eine ganz andere Sprache. Die Älteren sprechen heute nicht mehr über früher. Man hat sich arrangiert, aber es ist immer noch etwas zwischen ihnen. Bei den Jüngeren ist das mittlerweile anders, die wachsen mit dem Westen zusammen. Für die kam die Wende nochmal gerade früh genug." 


Das ist nur einiges von dem, was sie erzählt, ich kann unmöglich alles wiedergeben. Aber es beschäftigt mich. Immer noch wirkt viel nach in den Köpfen der Menschen. Nachdenklich gehe ich abends nebenan in den Gasthof und beginne meinen Blog.


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Kommentare: 3
  • #1

    Lore (Freitag, 15 Mai 2015 11:44)

    Deine Kinder werden stolz auf Dich sein, Vater! Trotz verlockender Angebote nicht versumpft, keinem auf die Füße getreten, eisernen Willen bekundet, neue Geschichten erfahren - den Tag also mit Bravour gemeistert.

  • #2

    Die Pilgertochter (Freitag, 15 Mai 2015 13:48)

    Wir sind stolz auf dich. Ham se dich an Vatertag also doch nicht verhauen!

  • #3

    Der Kronprinz (Dienstag, 19 Mai 2015 15:09)

    Die Fotos sind mal wieder ein Träumchen!