Ausgesperrt

Birx - Tann (20 km)


Klopf, klopf ...! Klopf, klopf ...! - Hä? - Klopf, klopf ...! Ein Blick auf die Uhr: 1.45 Uhr. "Ja bitte?.." - "Kommen Sie bitte mal?" Ich frage mich, ob ich gemeint bin. "Bitte??" - "Kommen Sie mal bitte??!!" Ich rappel mich aus dem Bett und wanke schlaftrunken zur Tür. Davor steht der Mann aus dem Nachbarzimmer. "Ich komm nicht mehr in mein Zimmer! Ich war gerade zur Toilette und jetzt ist die Tür zu!" Fassungslos steht er da und rappelt an der Klinke. "Und da ist mein Hund drin!" Er sieht mich einigermaßen überrascht. "Auf der Toilette habe ich auch so ein 'Klick' von meiner Tür gehört. Was mach ich denn jetzt? Ich komm nicht mehr in mein Zimmer!" ????? Wie geht das bitte? Mann verlässt sein Zimmer, geht zur Toilette, kommt zurück, Tür zu, Hund drin. Einbrecher reingeschlüpft? "Glaub ich nicht, dann würde mein Murz (Ist das ein Hundename?) Randale machen." Ich schlage vor, erstmal ins Zimmer zu schauen. "Wie das denn?" Der Mann ist verwirrt. Toilette und Zimmer liegen ebenerdig nebeneinander. Ich hole meine Taschenlampe, klettere aus dem Toilettenfenster raus und schaue ins verschlossene Zimmer durchs Fenster rein. Der Hund liegt mit aufgestellten Ohren auf dem Fußboden, ein Einbrecher ist nicht drin, es sei denn, er ist unters Bett gekrochen. Und wird vom Hund bewacht, oder was? Das Fenster steht auf Kipp. Der Zimmernachbar, inzwischen auch aus dem Toilettenfenster geklettert, versucht mit Krakenarmen und natürlich vergebens das Fenster von Kipp auf Offen zu befördern. "Ich wecke jetzt Frau Hartmann", sagt er wildentschlossen. Ich vermute, beim Aufschließen hat der Gute den Schlüssel nicht ganz gedreht und dieser ist von selbst zurückgeschnackt. Ein saublöder Zufall, aber nur so kann es gewesen sein. Frau Hartmann kommt dazu, ist fassungslos. "Ja das ist ja noch nieeeee passiert! Was machen wir denn jetzt bloß?" Dietrich im Haus? Resignierendes Kopfschütteln. Einen festen Draht? Frau Hartmann geht auf die Suche. Das Festeste, was sie nach zehn Minuten anbieten kann, ist ein Stück dünnes Elektrokabel. Bringt natürlich nichts. Zimmernachbar drückt mit einem Schraubendreher den Schlüssel aus dem Schloss, dieser fällt ins Zimmer. Hund knurrt kurz. Was jetzt? "Ja ... weiß ich auch nicht. Andere Schlüssel probieren!" Ein passender Zweitschlüssel ist nicht aufzutreiben. Unter dem Türschlitz kommt man nicht durch, um eventuell den Schlüssel irgendwie rauszubugsieren. "Schlüsseldienst oder Schreiner im Dorf?" - "Schlüsseldienst nein, Schreiner ja, aber der liegt wohl besoffen vom Vatertagsausflug komatös im Bett." Na bravo! Mein Tipp: "Ich habe ja ein Doppelzimmer. Ein Bett ist also noch frei. Sie schlafen mit bei mir und morgen früh holt Frau Hartmann den Schreiner." So geschieht es. Endlich mal was los bei einer Übernachtung ...


Der Schreiner, von Frau Hartmann um sechs Uhr alarmiert, steht um 6.30 Uhr im Flur, um 6.32 Uhr ist das Schloss dank Dietrich geöffnet. Der Hund kommt schwanzwedelnd aus dem Zimmer und scheint gut ausgeschlafen zu sein. Allgemeines befreites Lachen und wir können gemeinsam zum Frühstück übergehen. Als der Schreiner das Haus verlässt, glaube ich bei ihm ein leichtes Grinsen und Kopfschütteln zu bemerken.


Frau Hartmann verabschiedet sich mit einem fetten Lachen von mir. "Sowas wie heute Nacht habe ich noch nicht erlebt, und Sie bestimmt doch auch nicht, oder?" Ich kann ihr das nur bestätigen und spanne mich wieder vor mein Wheelie. 


Wieder Sonne, wieder blauer Himmel, aber über die Bergwiesen der Rhönkuppen geht ein frischer Wind. Wieder Blicke zum blöde werden, auf der Landstraße von Birx nach Frankenheim ist kein Auto unterwegs, viele Menschen gönnen sich heute den Brückentag. Ich muss tatsächlich erstmal wieder nach Frankenheim zurück. Der Weg gestern nach Birx war eigentlich nur ein Ausflug in diesen besonders schönen thüringer Zipfel mit besonderer Grenzgeschichte, heute muss ich aus dem Zipfel wieder raus. Hinter Frankenheim geht es unkritisch weiter auf die Höhe. Ich überschreite die 800 Meter-Marke, folge dann dem Hochrhöner, dem wohl schönsten Premiumwanderweg der Rhön.


Links zweigt ein Weg zum Thüringer Rhönhaus ab. Es hat seine besondere Geschichte. Nachdem man in den 20er-Jahren an dieser Stelle zunächst eine Jugendherberge errichtet hatte, entstand dort 1930 ein Lager des Reichsarbeitsdienstes mit 14 Gebäuden und einem Appellplatz. Das deutsche Volk hatte damals angeblich nicht genug Raum und der Reichsarbeitsdienst suchte nach Betätigungsfeldern. Was lag da näher, als die Rhön "urbar" zu machen. Zwar hatten die Altvorderen die Wälder der Hochlagen schon vor Jahrhunderten gerodet und in Weideland umgewandelt, aber das Werk der Bauern konnte noch durch Entsteinung der Weiden gekrönt werden. Vor "nur" 25 Millionen Jahren wurde die Rhön durch regen Vulkanismus aufgewölbt. Vor Jahrtausenden griffen die Eiszeiten die Oberfläche der Rhön an: Basaltmassen wurden unter dem Spiel der Kräfte aufgebrochen und erschwerten in jüngerer Zeit auf den Wiesen den Bauern das Mähen. Mit Schaufeln, Kreuzhacken und Brechstangen gruben Freiwillige, die "am Spaten" ausgebildet waren, die Blöcke aus der Erde und transportierten sie mit Tragen und Schlitten ab. Ab 1935 wurde diese Arbeit von Dienstverpflichteten geleistet, in den vierziger Jahren kamen Kriegsgefangene hinzu. Die Steine wurden zu Findlingshaufen aufgetürmt oder in Reihen aufgeschichtet. Schon gestern sind mir diese Steinblöcke in Haufen oder Reihen im Bereich Frankenheim/Birx aufgefallen und ich wusste nicht, wie ich sie mir erklären sollte. Jetzt weiß ich es. 1945 lebten Flüchtlinge im Thüringer Rhönhaus, danach ein Förster. Zwischen 1947 und 1949 wurde eine Gastwirtschaft eingerichtet, in der für Ausflügler und Grenzer Bier ausgeschenkt und gekocht wurde. Später kam die Freie Deutsche Jugend (FDJ), die das Haus wieder als Jugendherberge nutzte. Doch bald wurde die Jugend vertrieben und die Grenzpolizei zog ein. Nach der Wende wurde das Haus wieder zum Gasthaus reaktiviert und renoviert.


Nach dem Abzweig stehe schneller als ich dachte auf dem Ellenbogen, mit 816 m Thüringens höchstem Rhönberg. Im Südwesten sehe ich die Wasserkuppe und die Milseburg, im Norden den Hohen Meißner, im Nordosten den Thüringer Wald mit dem Großen Inselsberg. Sagenhaft! 


Einen Steinwurf nur vom Ellenbogen entfernt steht das Eisenacher Haus, ein Berghotel mit bewegter Vergangenheit. Als ich in Anwesenheit einiger Frühstücksgäste drinnen Rast mache und einen Pott Kaffee dabei trinke, bringt mir der Chef des Hauses eine kleine Broschüre. "Während Sie hier sitzen, können Sie das lesen, dann sind Sie über das Eisenacher Haus informiert. "


Die im Jahre 1928 vom Rhönklub erbaute Berghütte hatte trotz Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit zunächst guten Zuspruch. Im Laufe des II. Weltkriegs wurde es auf dem Ellenbogen doch langsam still und mit dem Kriegsende kam das Aus. Zunächst nahmen die Sowjets das Haus in Beschlag, dann zogen die DDR-Grenztruppen ein. Das gesamte Gebiet um den Ellenbogen wurde Sperrgebiet. Die Stasi bezog es 1964 und stattete es zu ihrer westlichst gelegenen Abhöranlage aus. Auch sowjetische Nachrichteneinheiten siedelten sich in "Klein Sibirien" an. Beim Eisenacher Haus stand also eine der größten und streng geheimen Lausch- und Spähstationen des Warschauer Paktes in Richtung Westen. Bis zur Wende verschwand die thüringische Hochrhön aus den Wanderkarten. Als die Grenzer 1990 das Haus verließen, war das Gebäude völlig heruntergekommen. Doch bald erstrahlte es wieder in neuem Glanz. Heute brummt der Betrieb als Ausflugsgaststätte und Hotel.


Und wie es brummt, erfahre ich vom Chef persönlich. "Gestern (am Vatertag) waren etwa 1000 Leute hier. Das hat sich in den letzten Jahren immer mehr gesteigert. Das ist hier inzwischen Kult. Wanderer, Motorradfahrer, Ausflügler mit den Autos - am Vatertag sind sie alle hier. Von ihren geparkten Autos haben viele noch einen langen Anmarsch. Wir bauen immer ein großes Zelt beim Biergarten auf. Stellen Sie sich vor, es regnet und die Leute sind nicht geschützt. Aber gestern war es ja ideal ...!"


Hinter dem Eisenacher Haus geht es weiter: ein kleiner Wald, Bergwiesen, Ausblicke noch und nöcher. Ich erkläre die Rhön für mich zu einer der schönsten Wanderregionen, die ich kenne. Dazu zählt nicht nur die Landschaft, auch die Qualität der Wege, die Gastronomie, die Wegeauszeichnung, die Ruhestationen mit Bänken und Schutzhütten. Doch gerade hier hat der vergangene Vatertag seine Spuren hinterlassen. Essensreste verschmieren teilweise noch die Tische und leere Flaschen stehen zu Hauf herum. Sowas kann mich aufregen. Was man voll hierhergeschleppt hat, kann man doch auch leer wieder mitnehmen. Oder hinterlässt man sie als Zeichen des Triumphs? Ich war hier!!!???


Um nach Tann, meinem Tagesziel zu kommen, muss ich von den Höhen runter. In Unterweid bin ich praktisch unten und nehme mir auf dem Lutherplatz vor der Kirche und dem Gasthaus "Zum goldenen Ross" meine letzte Rast für heute. Dass ich mich noch in Thüringen befinde, merke ich am deutlichsten an den Lautsprechern, die immer noch an den Masten hängen. Diese habe ich jetzt schon in den verschiedensten kleinen Ortschaften noch gesehen, nur hier in Unterwied hängen auch neuere, kleinere. Einer davon am Lutherplatz, direkt neben einem kleinen Taubenschlag. Ich bemerke ihn, da dort die Tauben munter gurren und mir bei meiner Rast zusehen. Ich bin gerade vollkommen auf Rast-Entspannungsmodus, als es knistert und knackst. Ich schaue mich um. Was ist das? Dann knallt Musik los, in ohrenbetäubender Lautstärke. Fürchterlichster thüringischer Ethno-Schlager. Erschrocken geht mein Blick zum Lautsprecher. Eine Taube schlägt daneben in ihrem Käfig Salto, was wohl nicht eine Art von Ausdruckstanz darstellen soll, sondern pures Entsetzen und Panik. Was sagt der örtliche Tierschutzverein eigentlich dazu? Dann kommt's: "Achtung, Achtung für folgende Bekanntmachung! Am kommenden Samstag werden Hasen geimpft. Interessenten bitte anmelden! Außerdem ist ab Samstag der Grünschuttplatz wieder geöffnet. Ich wiederhole: Am kommenden Samstag ..." Ich schmeiß mich weg! Ich kann nicht mehr! Hasen werden geimpft!!! Eine alte Frau schaut mich im Vorübergehen etwas ratlos an, wie ich da so auf der Bank von Lachkrämpfen geschüttelt zusammensacke, und schlufft weiter.


Auf diese Art und Weise hochgradig in gute Laune versetzt, mache ich mich an die letzten Kilometer. Und kreuze den Kolonnenweg. Am 23.12.89 war hier Grenzöffnung, morgens um 9 Uhr. Abseits der Straße liegen Lochbetonplatten auf einem hohen Haufen, man hat sie aufgenommen, warum auch immer. Jetzt sehe ich erstmal, wie dick diese Dinger sind. Das erste Mal wechsel ich hier von Thüringen nach Hessen, Bayern ist out. Mein viertes Bundesland, das ich auf meinem Weg hoch zur Ostsee betrete. Es sollen noch einige dazukommen.


Am frühen Nachmittag bin ich in Tann. Meine Pension liegt etwas außerhalb. Den Ort werde ich mir morgen früh näher ansehen, wenn ich ihn sowieso durchqueren muss und noch bei frischen Kräften bin. Jetzt bin ich etwas müde, ich habe etwas Schlaf nachzuholen. Die letzte Nacht war zu kurz.


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Kommentare: 1
  • #1

    Die Pilgertochter (Samstag, 16 Mai 2015 13:53)

    Ich schmeiß mich weg! das mit dem Lautsprecher ist der Kracher! Wäre doch auch mal ein Highlight für Helpenstell!