Farbiges Tann

Tann - Reinhards (15 km)


Frau Rommel, meine Pensionswirtin in Tann, erzählt mir beim Frühstück etwas, was ich noch nirgends während meiner Vorbereitung auf diese Wanderung gelesen habe. "Wissen Sie eigentlich, dass wir Tanner es nur der Liebe zu verdanken haben, dass wir damals nicht zur russischen Zone und später damit zur DDR gehörten?" Mein Blick fällt überrascht und wohl auch ein wenig skeptisch aus, deshalb schiebt Frau Rommel gleich hinterher: "Ja, Sie können mir ruhig glauben. Bei unserem Stadtjubiläum vor ein paar Jahren hat unser Bürgermeister das nochmal in seiner Rede erwähnt. Also: Tann befindet sich ja in einem regelrechten hessischen "Sack", der hier nach Thüringen hineinragt. Nachdem im Tausch gegen einen Teil Berlins (dem ehemaligen Westberlin) die bis hierher zu uns vorgerückten Amerikaner mit den Russen über diverse Gebietsaustausche verhandelten, stand auch Tann und sein näheres Umland zur Diskussion. Es war fast schon abgemachte Sache, dass Tann der sowjetischen Zone zugeschlagen wird. Aber ein hoher amerikanischer Offizier, der sich in ein Tanner Mädchen verliebt hatte, setzte aĺles daran, dass die kleine Stadt amerikanisch blieb und er damit auch weiterhin den Kontakt zu seiner Liebsten halten konnte. Die beiden haben dann auch geheiratet, und als die Dienstzeit von ihm hier vorbei war, ist sie ihm in die USA gefolgt. Sie war dann ab und zu nochmal hier zu Besuch, das letzte Mal im vorigen Jahr, als ihr Schwager beerdigt wurde." Eine rührende Grenzgeschichte, fast reif für ein Filmdrehbuch.


Als ich wenig später durch die Straßen Tanns streife, muss ich immer wieder an die Geschichte von Frau Rommel denken. Wie sähe es heute hier aus, wenn damals alles anders gekommen wäre? Wäre der Ort genauso schmuck, wie er sich mir heute zeigt? Was wäre z.B. aus dem Schloss der Freiherrn von der Tann geworden, vor dem ich jetzt stehe. Ständ es dann genauso in einer gewissen Pracht und Würde vor mir?


Die Geschichte des Schlosses geht auf Eberhard von der Tann zurück, der in Wittenberg studierte und dort Martin Luther kennenlernte. Die beiden freundeten sich an und Eberhard entwickelte sich zu einem entschiedenen Verfechter von Luthers Lehren. Beseelt von den Ideen führte Eberhard 1540 in der Stadt die Reformation ein, ein mutiges Werk in dem kreuzkatholischen Umland des heutigen Landkreises Fulda. Die Fuldaer versuchten natürlich, im Zuge der Gegenreformation die Schäflein wieder auf ihre Seite zu bringen, was auch teilweise gelang. Doch im Dreißigjährigen Krieg, als die Schweden durch die Rhön zogen, wurde Tann dann wieder evangelisch und blieb es bis auf den heutigen Tag. 


Die von der Tanns gibt es noch immer, und wohnen auch noch im Schloss. Nur in drei Linien haben sie sich verzweigt, in die gelbe, in die rote und in die blaue. Die Erklärung der Farbbezeichnung ist ganz einfach: Die von der Tanns waren so bedeutend, dass sich jeder Zweig der Familie ein eigenes Schloss leisten konnte, ein gelbes, ein rotes und ein blaues. Alle drei Schlösser sind in einem Geviert vereint. Das Rote und das Blaue Schloss sind Flügel des gelben Zentralbaus. Während beim Roten und Blauen Schloss nur die Fensterumrahmungen eine entsprechende Farbe haben, ist das Gelbe Schloss schließlich der Beherrscher des Platzes und erscheint vollständig in Gelb.


Als ich den Schlosshof durch einen großen Bogen betrete, steht ein älterer Herr dort und spricht mit zwei kleinen Jungen, die den Hof gerade mit ihren Fahrrädern unsicher machen. Als er mich sieht, streichelt er einem der Rangen über die Wange, grüßt mich freundlich und geht ins Haus, besser gesagt ins Rote Schloss. Die Kinder kommen auf mich zugeradelt und sagen mit einem entwaffnenden spitzbübischen Lächeln: "Zehn Cent Wegegeld bitte!" Ich gebe eine 50-Cent-Münze und mahne zum gerechten Teilen. "Kommt ihr aus der Stadt oder seid Ihr zu Besuch hier?" frage ich den ältesten von beiden. "Nee, wir haben ja ein paar Tage keine Schule und da sind wir hier bei meinem Opa zu Besuch, dem Freiherrn", antwortet er ganz ungezwungen. Aha, die Erbfolge der von der Tanns ist also gesichert.


Am Marktplatz mit seinen vielen netten Fachwerkhäusern und dem Rathaus vorbei gehe ich durchs alte Stadttor und dann neben der Stadtmauer her bis zur Brücke über die Ulster. Eine halbe Stunde geht es an ihrem Ufer entlang und dann wieder hinauf auf die Höhe. Eine Stunde Schwitzen und Schnaufen ist angesagt, jede Menge Kühe verfolgt grasend oder widerkeuend jeden meiner Schritte. Dann habe ich den Sattel zwischen dem Selesberg und dem Boxberg erreicht und setze mich auf eine wohlplatzierte Bank in die Sonne. Ich genieße den Blick über "das Land der weiten Fernen" und mir wird wiedermal bewusst, warum ich diese "Wanderei" eigentlich mache. 


Auch wenn es jetzt ein wenig pathetisch wird, versuche ich das mal zu beschreiben: Wandern - und besonders das "Fernwandern" und das "Pilgern" - bedeuten mir Zugang zur Natur als ganz besondere 'Nahrungsquelle'. Wandern ist mir gleichzeitig Erholung und gesunde Anstrengung, Grenzerfahrung, Stille und Rhythmus. Der innere Lärm verstummt, das komplexe Leben reduziert sich Schritt für Schritt auf ein einfaches Vorwärtsgehen auf einem Weg. Das Notwendige reduziert sich auf das Nötigste, wird auf dem Wheelie hinter mir hergezogen. Müdigkeit und Erschöpfung wechseln sich ab mit Leichtigkeit und Glücksgefühl. Sonne und Regen, Wind, Kälte und Hitze. Alte Wertungen verschwinden. Regen, Nebel, Feuchtigkeit enthüllen ihre Schönheiten. Meine Augen öffnen sich für Kleinigkeiten, nicht nur für die großen Horizonte, die farbigen Sonnenuntergänge und die prächtigen Aussichten, sondern auch für die unzähligen "unscheinbaren" Schönheiten am Weg.


Zehn Minuten nach dem Verlassen meiner Bank und einem weiteren kleinen Anstieg durch einen Wald sind die "prächtigen Aussichten" wieder da: Bergwiesen, kleine Dörfer, die Wasserkuppe, die Milseburg - herrlich! Ich gehe, wie schon gestern, auf dem Hochrhöner, und dieser hat die Qualifizierung zum Premiumweg wirklich verdient. Ab und zu treffe ich auf kleine Wandergruppen und komme mit ihnen ins Gespräch, wobei immer mein Wheelie der "Aufreißer" ist. Meist sind es Tageswanderer, die in der Umgebung ein festes Quartier haben und jeden Tag eine vorgeplante Schleife drehen. Keinem von ihnen ist bewusst, dass sie teilweise gleich mit dem Grünen Band gehen, die wenigsten wissen überhaupt, was das ist und dass sie sich hier unmittelbar an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze befinden. 


Allerdings ist der Hochrhöner auch ein Weichei. Nicht ein Mal lässt er in meinem heutigen Abschnitt seine Wanderer den Kolonnenweg begehen, nie Geschichte schmecken. Die wesentlich bequemeren Wege des bundesdeutschen Zolls oder des Bundesgrenzschutzes werden markiert und genutzt. Doch wenn sie zum großen Teil nur max. 50 m voneinander entfernt parallel durch Wald und Flur ziehen, so ist es schon eine weise Entscheidung, den Wanderer nicht über den Kolonnenweg stolpern zu lassen.


Heute ist es wieder nur eine kurze Etappe, am frühen Nachmittag ist der Reinhard schon in Reinhards. Einst das westlichste Dorf der DDR, mit knapp dreißig Einwohnern auch wohl eins der kleinsten. Hier lag nun wirklich der Hund begraben: auf drei Seiten vom Grenzzaun umgeben, die Sicht ins Hinterland von einem Berg versperrt. Mehr Abgeschiedenheit geht kaum.


Mein Quartier ist der Wassermannshof, ein Bauernhof im Nebenerwerb. Es ist ein stattlicher Dreiseithof mit Wohnhaus, Stallungen und dem "Auszugshaus", dem früheren Altenteil, wie mir Bauer Wassermann später erzählt. Im Auszugshaus ist eine Ferienwohnung untergebracht, in den Stallungen sind die Kühe, wenn sie nicht - wie jetzt - draußen auf den Weiden stehen, und im Wohnhaus leben vier Generationen: Bauer Wassermann mit seiner Frau, seine Mutter, Tochter und Enkelsohn Henry. An der Stallwand gurren einige Tauben in drei kleinen Taubenhäusern und eine Handvoll Katzen stromert über den Hof.


Ich habe kaum mein Zimmer bezogen und geduscht, kommt Herr Wassermann zu mir: "Willste was mitessen? Gibt nix Dolles, nur Nudeln mit Tomatensauce." Ich lehne natürlich nicht ab. Im Dorf gibt es keine Essensmöglichkeit, und wer weiß, wann ich wieder was bekomme. Die Nudeln sind von Oma selbst gemacht, die Sauce ist nicht einfach nur eine Tomatensauce, sondern köstlich mit Wursteinlage und Zwiebeln verfeinert. Natürlich essen wir nicht nur. Jeder möchte den anderen besser kennenlernen, man stellt Fragen, man bekommt Antworten. Unvermeidlich stelle ich dann auch Fragen zum Dorf, zu früher, zu jetzt. 


Die Nähe zur Grenze hat in Reinhards einen schweren Aderlass verursacht. Zur Zeit in den 50er-Jahren, als die Grenze noch offen war, flüchtete ein Teil der Einwohner in den nahen Landkreis Hünfeld nach Hessen. Drei der sechs großen Höfe wurden daraufhin niedergerissen. Lange gab es Gerüchte, dass das Dorf komplett dem Erdboden gleichgemacht wird und die Bewohner in einen bereits vorbereiteten Wohnblock nach Geisa verbracht werden. Lange Zeit saß man auf gepackten Koffern, bereit zur Flucht. Verwandte und Freunde im Westen waren verständigt und jederzeit aufnahmebereit. Glücklicherweise ist es nicht zur Auslöschung des Dorfes gekommen, keiner weiß genau, warum. Nach der Wende sind einige der geflohenen Einwohner bzw. deren Kinder und Enkel zurückgekehrt.


" Dieser Spurensicherungsstreifen, wo der Kolonnenweg unmittelbar neben herführte, maß etwa sechs bis zehn Meter in der Breite und war die nackte Erde", erzählt Herr Wassermann weiter. " Damit auch die kleinste Spur von einem Fluchtversuch zu erkennen war, musste das immer so sein. Entsprechend wurde der Boden oft planiert und geharkt. Nun blieb nur noch das Jäten, was selbst den Bonzen aber zu teuer war. Deshalb hat man einmal jährlich jede Menge Total-Pestizide und sogar Diesel ausgespritzt. Das stank nicht nur furchtbar, wir haben das auch am Wasser geschmeckt. Tja, und dann ..., beweisen können wir das ja nicht, aber ... Allein hier bei uns im Dorf hat es in einem engen Zeitraum sechs Fälle von Leukämie gegeben. Eines der Opfer war meine Schwester. Sie ist voriges Jahr daran gestorben. "


Oma hat morgen Geburtstag. Viele Leute aus dem Dorf und Verwandschaft von außerhalb werden kommen. Der Tisch unten in dem Zimmer, durch das ich gehen muss, um in mein Zimmer zu gelangen, ist bereits eingedeckt. "Viele von denen, die morgen kommen, hätten damals einen Besucherantrag stellen müssen, und genehmigt worden wäre vielleicht die Hälfte. Mensch, was waren das Verbrecher! Was haben die mit uns gemacht?!"


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Kommentare: 1
  • #1

    Die Pilgertochter (Montag, 18 Mai 2015 22:17)

    Hach Mann, Grenzgeschichten, die unter die Haut gehen...!