Point Alpha und ein Monster

Reinhards - Geisa (18 km)


Vor dem Frühstück gratuliere ich ganz artig der Oma zu ihrem Geburtstag und frühstücke dann gemeinsam mit der Großfamilie Wassermann am runden Tisch im Wohnzimmer. Anschließend mache ich mich schnell vom Acker, denn einige Vorbereitungen zur großen Feier sind noch zu tun, auf dass das Haus voll werde. Bauer Wassermann begleitet mich noch aus dem Hof heraus und schwenkt zum Abschied seinen alten, zerknautschten Strohhut. Es war ein sehr schöner, familiärer Aufenthalt. Es gibt so Adressen, da sagt man sich immer: "Hier solltest du nochmal hin!" Es wird natürlich nie was daraus. Aber die Erinnerung bleibt.


Nachdem es schon in Reinhards nicht gerade hektisch, laut und betriebsam war, wird es jetzt "auf der Platte" wieder sehr ruhig. Entlang einer Schneise windet sich das Grüne Band durch einen Wald, dessen segensreicher Schatten die Anstiege erträglich macht. Wo Schatten, da auch Sonne, und tatsächlich scheint sie mal wieder von einem azurblauen Firmament. Damit habe ich heute Morgen gar nicht mal unbedingt gerechnet, denn gestern Nachmittag zog es zu, die Temperaturen sanken zügig ab, der Wind wurde stärker und sogar einige Tropfen fielen. Ich war also witterungsmäßig heute auf einen weniger schönen Tag eingestellt. Aber nix da - Sonne pur! 


Kilometerlang ziehe ich so dahin, rauf, runter, links rum, rechts rum, links der alte Kfz-Sperrgraben, Büsche, junge Birken, manchmal Wiesen, rechts Hochwald. Ein Hase hoppelt mal vor mir her, Bussarde starten flügelschlagend von den hohen Bäumen zu ihren Beutezügen, Eichelhäher krakelen rum und warnen vor dem menschlichen Eindringling und je mehr ich schwitze desto mehr werde ich von z.T. nervigen Insekten umschwirrt. Ich schalte irgendwann ein wenig auf Autopilot, denke ein wenig, weiß aber nicht was und komme so ganz gut voran. 


Auf einer mühsam erkämpften Kuppe dann ein plötzliches Verharren. In weiter Ferne vor mir ein riesiger Fremdkörper in der Landschaft. Ein Berg, ohne jeden Bewuchs, in der Spitze abgeflacht, weiß. Meine erste Kalihalde, es müsste die von Unterbreizbach sein, kurz vor Vacha. Morgen werde ich zu ihren Füßen marschieren und mich von ihr beeindrucken lassen, doch jetzt erstmal weiter auf Geisa zu, meinem heutigen Ziel.


Ich komme aus dem Wald heraus, die Sonne bekommt mich wieder richtig in den Griff und bald tauchen die ersten Dächer von Setzelbach auf, einem kleinen Dorf unmittelbar jenseits des Grenzstreifens auf hessischem Grund. Am Ortsrand dann eine Bank - Pause. Mir gegenüber steht ein Toilettenwagen, dreißig Meter entfernt ein Bierpavillon, Sonnenschirme, Bierzeltgarnituren, Zeugen einer feuchtfröhlichen Veranstaltung am gestrigen Abend. Jetzt ist das Aufräumkommando dort tätig, bereitet alles vor für den Frühschoppen, der gleich beginnt. Der Grill ist schon wieder in Aktion, was ich an der vorbeiziehenden Mischung aus Bratwurst- und Fettdüften erkennen kann, und drei Kampftrinker widmen sich schon wieder (oder immer noch?) ihrem hefehaltigen Lieblingsgetränk. Der Mann im Pavillon, der gerade mehr mit Gläserspülen und Thekewischen beschäftigt ist, nimmt mich wahr, hebt ein leeres Glas, zeigt mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf das Glas und nickt fragend mit dem Kopf, was wohl so viel heißen soll wie: "Lecker Bierchen gefällig?" Ich schüttle erschrocken den Kopf, wehre mit beiden Händen ab, was er mit einem bedauernden Schulterzucken quittiert. 


Zumindest ein Mal geriet Setzelbach in Panik. Während der Bauarbeiten an den Grenzbefestigungen im Jahre 1962 kam es hier zu einem spektakulären Ereignis. Am 9. August fuhr ein Artillerieschlepper, der Betonpfähle für den Zaunbau transportierte, mit hohem Tempo von jenseits der Grenze auf das benachbarte Setzelbach zu. Das Kettenfahrzeug ratterte über die Grenze und blieb dann vor dem ersten Haus stehen. Amerikaner und BGS-Beamte, die den Zaunbau beobachteten, hatten ihre Waffen im Anschlag. Es fiel jedoch kein Schuss. Die Tür des Fahrzeugs öffnete sich und ein NVA-Pionier lief mit erhobenen Händen auf die Amerikaner zu. Die GIs waren zunächst misstrauisch, doch bald wurde auch ihnen klar, dass es sich hier um eine Flucht handelte.


Als ich mich wieder aufrappel, kommt nochmal ein Ruf vom Pavillon: "Nicht doch ein Bierchen?" Ich lache nur, nehme das eher als rhetorische Frage, winke dem Aufräum- und Putzkommando zu und wünsche ihnen noch "Gute Einnahmen heute!" - "Hättest ja schonmal den Startschuss dazu geben können!", tönt es mit einem fetten Lachen zurück. 


Nur einen Kilometer weiter erreiche ich die Stelle, wo nur fünf Tage nach dem vorhin beschriebenen Zwischenfall es zu einem weiteren, noch dramatischeren kam. Die NVA-Pioniere waren mit ihren Arbeiten an der Grenzbefestigung weiter vorangeschritten. Bundesgrenzschützer beobachteten die Arbeiten. Ihnen gegenüber kauerten die Grenztruppen-Kommandos der DDR in ihren Deckungsmulden. Eine Gruppe von NVA-Offizieren saß an dem Abhang, der die Grenzlinie bildete und unterhielt sich. Als eine dreiköpfige Patrouille des BGS an der Gruppe vorbeischritt, sprang einer der DDR-Offiziere auf und rief dem BGS-Offizier etwas zu. Der wandte sich um und tippte sich angeblich an die Stirn. Dann fiel ein Schuss, die BGS-Beamten warfen sich auf den Boden. Ein zweiter Schuss, und der DDR-Offizier sank tödlich getroffen zu Boden. Die BGS-Beamten robbten zu ihrem PKW und brachten sich in Sicherheit. 


Was sich genau abspielte, wurde nie genau herausgefunden. Der BGS spricht von Feuereröffnung durch den DDR-Offizier, "Mord an Grenzoffizier" titelten die DDR-Zeitungen. Nach ihrer Ansicht hatten die BGS-Beamten eine Grenzprovokation begangen, d.h. die Grenzlinie überschritten, und Rudi Arnstadt, Hauptmann der NVA, war den Provokateuren mutig entgegengetreten. Arnstadt wurde zum Helden stilisiert, erhielt ein "Heldengrab". Schulen, Kulturhäuser und Straßen wurden nach ihm benannt, ein Gedenkstein steht immer noch bei Geisa. Es wird seit Jahrzehnten gepflegt, und ist wohl auch gelegentlich noch Treffpunkt "alter Kameraden" der Grenztruppe. Der BGS-Beamte Hans Plüschke gab später zu, den Schuss abgefeuert zu haben - aus Notwehr nach einem ersten Schuss durch einen DDR-Grenzer. Dies soll wiederum ein Warnschuss gewesen sein, so die DDR-Darstellung, weil die BGS-Beamten, sich auf DDR-Gebiet befindend, nicht auf den "Anruf" reagierten. Plüschke wurde von der DDR-Justiz in Abwesenheit zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt. Da Plüschke Racheversuche der DDR befürchtete, wurde seine Identität von den bundesdeutschen Behörden jahrelang geschützt. Seltsam dann sein Tod. Plüschke arbeitete nach seiner Dienstzeit in der Region als Taxifahrer und wurde 1998 nur etwa zehn Kilometer vom damaligen Ort des Geschehens erschossen aufgefunden. Raubmord schied aus, Plüschkes Geldbörse befand sich im Auto. Die Todesart war die gleiche wie bei Arnstadt: Einschuss über dem rechten Auge. Der Fall konnte bis heute nicht aufgeklärt werden.


Nach weiteren Kilometern teilweise schnurgeradem Kolonnenweg, kriegt dieser oberhalb Geisas auf einmal ein Dach über den Kopf. Führt jetzt ein paar Meter durch ein geheiztes Haus. Kostet aber Eintritt. Dafür kriegt man aber was geboten. Für einen Eintritt zwei Attraktionen: Einmal die DDR in diesem "Haus auf der Grenze", einmal die Amis im "Observation Point Alpha" etwa 700 m weiter. Dazwischen eine Art "Mustergrenze" im Freilaufgelände, mit den Variationen der Grenzbefestigungsanlagen durch vier Jahrzehnte DDR-Geschichte, samt Kunststoffhund.


Was es im "Haus auf der Grenze" gibt, habe ich so oder so ähnlich in den letzten Wochen schon gesehen, anders ist es beim Point Alpha. Hier standen sie sich Auge in Auge gegenüber, DDR-Grenzposten und Amerikaner, Warschauer Pakt und die NATO. Bereit für das letzte Zahn-um-Zahn-Gefecht. Hier würden die Russen durchbrechen, so war man sich sicher, hier im "Fulda Gap", durch die Lücke, die schon immer alle Mongolen und Kosaken benutzten, wie bei der Verfolgung von Napoleons Franzosen nach der Völkerschlacht bei Leipzig. Und in zwei Tagen wären sie dann in der Wirtschaftsmetropole Frankfurt.


Die Point-Alpha-Gedenkstätte wirbt damit, der "Hottest Spot" des Kalten Krieges gewesen zu sein. Die beiden Türme, die da als allervorgeschobenste Vorposten von Warschauer Pakt und NATO einander zugewandt stehen, machen da eher einen jämmerlichen Eindruck. Der Föhrenhain um ein "Star spangled Banner" ist allerdings ein uramerikanischer Ort. Mit Barbecue-Station, Basketballfeld (jetzt Selbstbedienungsimbiss-Terrasse), Wohnbaracken und Platz zum Hufeisenwerfen. Hier taten verwegene Regimenter Dienst, wie die "Black Horses", die vor Fulda in Vietnam und nach Fulda im Irak standen. Nach der Wende wurde Point Alpha geschlossen, geplündert, als Asylantenheim betrieben und erst 2008 zu der heutigen Mahn-, Gedenk- une Begegnungsstätte.


Puh, nach so viel Grenzgeschichte will ich jetzt ankommen. Von Point Alpha aus kann ich Geisa schon gut sehen, unten im Tal. Meist über einen Wiesenpfad verliere ich an Höhe und habe bald die ersten Häuser von Geisa erreicht. Bereits am Ortseingang ein mir willkommenes kleines Schild: "Geisschänke -Biergarten" (meine Unterkunft) und es weist nach rechts. Nach etwa 500 m ein nächstes Schild: "Geisschänke - Biergarten - 500 m". Hallo?! Ich trabe am Bächlein Geis entlang, der Ort liegt oben auf dem Berg. Endlich Zieleinlauf, ich stehe vor der Geisschänke. 


Beim Biergarten ein großes Schild: "Riesenwindbeutel nach Geisschänkenart - mit frischen Früchten, Eis und Sahne". Mir schießt Speichel in den Mund. Aber erstmal einchecken und Zimmer beziehen. Dort nur Schuhe aus, duschen ist vollkommen nebensächlich. Ich will jetzt und sofort einen Riesenwindbeutel. Zwei Minuten später sitze ich im Biergarten. Was dann nach einer Viertelstunde mir vorgesetzt wird - ist ein Monster! Ein Monster in Windbeutelgestalt! Fußballgröße! Das kann man nicht alleine essen! Ich fange aber mal an. Alles kommt zusammen: Mengen an frischem Obst drumherum und auch innendrin, zusammen mit drei dicken Kugeln Eis, Sahne über Sahne, geschmückt mit Eierlikör und Schokostreuseln. Ich kämpf mich durch. Als ich den Teller dann irgendwann so leer vor mir sehe, bin ich selbst erstaunt. Allerdings ist mir auch wohlig schlecht. In meinem Zimmer lege ich mich sofort aufs Bett und beginne mit der Verdauungsarbeit. Das Abendessen ist jedenfalls gestrichen!


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Kommentare: 4
  • #1

    Lore (Montag, 18 Mai 2015 14:39)

    Ach, ich hätte Dir bestimmt beim Windbeutelvernichten geholfen, hätte Dich nicht so alleine arbeiten lassen! Vielleicht noch ein nachträglicher Trost.

  • #2

    Die Pilgertochter (Montag, 18 Mai 2015 22:54)

    Boah!!! Das klingt ja nach DEINEM Leckerchen! Sogar mit Eierlikör! Das gönn ich dir!

  • #3

    Der Kronprinz (Mittwoch, 20 Mai 2015 11:14)

    Poh!!!! Was für ein Trümmer!! Ich will das auch...!!!

  • #4

    Iris Holschbach (Donnerstag, 21 Mai 2015 23:22)

    Hallo Herr Wagner,
    die ehemalige Grenze zwischen Rasdorf und Geisar habe ich in meiner Kindheit "live" erlebt. Ich wohnte nur ein paar Kilometer entfernt im hessischen Dorf Großentaft - die große Schweser von Wenigentaft. Bei der Grenzöffnung war ich hautnah dabei - mit Sicherheit eines meiner bewegendsten Erlebnisse.