Geisa-ha! - Kali-puh!

Geisa - Vacha (20 km)


Von meiner Geisaer Wirtsfrau erfahre ich beim Frühstück etwas für mich Erstaunliches. Geisa ist eigentlich die Karnevalshochburg Deutschlands, noch vor Köln, Düsseldorf und Mainz. Meint sie. "Das ist ganz einmalig hier bei uns. Wir leben das ganze Jahr auf unsere sieben, acht Veranstaltungen hin. Der Karnevalsclub ist eine verschworene Gemeinschaft, die das ganze Dorf umfasst, ja, Dorf, auch wenn wir eigentlich Stadt sind. Aber alle kennen sich. Wochen vor Karneval werden die Kostüme ausgeheckt, dann wird Wochen genäht, gewerkelt und gebastelt. Dann gibt's eine Prämierung und am nächsten Tag geht's auf die Straße. Und alle laufen mit, so dass gar keiner mehr am Straßenrand stehen würde, wenn nicht so viele Auswärtige kämen, die sich das ansehen wollen. Es ist das Größte, es bedeutet Freude, Freunde und Zusammenhalt. Das hat auch die DDR nicht verhindern können. Klar, die Büttenreden wurden zensiert, aber wissen Sie was: Sie waren oft besser als heute! Man musste außenrum reden, man hatte anzudeuten, und das einzelne Wort zu schmecken, das war schön." Glaub ich ja alles, Frau Wirtin, aber jecker als in Köln? Ok, anders vielleicht! "Unser Schlachtruf heißt: 'Der alte Narrenschlachtruf tönt, dass weit ins Rhönerland es dröhnt, Geisa - ha!' Was sagen Sie jetzt?" Ich halte dagegen: "Dreimol Kölle alaaf ... alaaf ... alaaf!" Irgendwie prägnanter.


Von meiner Unterkunft aus steige ich über eine schmale Treppengasse zur "Stadt" hinauf. Um es mit einem Superlativ auszudrücken: zur westlichsten Stadt der DDR oder zur westlichsten Stadt des ehemaligen Warschauer Pakts. Kann sich doch sehen lassen. Über einen weiteren Treppenaufgang komme ich zum Schlossplatz, dann zum Marktplatz. Die Häuser hier im Ortskern sind hellgrün und rosa und altrosa und hellblau und ockergelb gestrichen oder könnten mal einen Anstrich vertragen. Fachwerkzeilen sehe ich so gut wie nicht, stattdessen Bürgerhäuser aus dem 19. Jahrhundert. Bei zwei Großbränden 1858 und 1883 ist die ganze Innenstadt abgebrannt, nur die Stadtpfarrkirche mit ihrem Fachwerkturm blieb verschont. Beim Wiederaufbau hat man sich auf steinerne Häuser verständigt. Nach diesen Erfahrungen auch irgendwie sinnvoll.


Auf dem Marktplatz sehe ich außer der Sparkasse ganze drei Geschäfte, die geöffnet haben. Bei anderen sind die Schaufensterscheiben mit Papier oder Gardinen verhängt. Beim Bäcker hole ich mir ein Puddingteilchen (seltsame Anwandlung eine halbe Stunde nach dem Frühstück) und frage, warum die Innenstadt an einem Montagmorgen und nach einem langen Wochenende wie ausgestorben ist. "So tot ist es schon lange hier", erklärt die Verkäuferin, "außer samstagsmorgens, dann ist Markt. Die Leute kaufen nur noch im Supermarkt am Stadtrand ein, weil alles ein paar Cent billiger ist. Die meisten Einzelhändler im Zentrum mussten aufgeben."


An der Kulturhalle vorbei verlasse ich das Zentrum und folge der Straße Richtung Borsch - am Supermarkt vorbei. Ich schenke mir den erneuten Aufstieg zum Point Alpha, ich schenke mir einen weiteren Tag Kolonnenweg, sondern gönne mir eine Talwanderung entlang der Ulster, die bei meinem Tagesziel Vacha in die Werra mündet. Warum Berge erklimmen, schwitzen und tunlichst Plattenlöcher vermeiden, wenn es auf netten Radwegen auch durch schöne Talauen gehen kann. Und die Strecke so ganz nebenbei auch noch um einige Kilometer kürzer ist. 


Hinter Borsch kommt bald schon Buttlar. An einigen Häusern bemerke ich kleine Blechschilder mit der Aufschrift "Via Regia". Ich befinde mich hier also auf der ehemals so wichtigen Boten- und Handelsstraße von Frankfurt nach Leipzig, und in dem Gasthof "Zum schwarzen Adler", an dem ich vorbeikomme, war eine Posthalterei untergebracht, die dem Adelsgeschlecht von Thurn und Taxis gehörte. Aber damit nicht genug. Napoleon Bonaparte, der Kaiser der Franzosen, nächtigte hier im Zimmer mit der Nummer 1. Er war im Herbst 1813 auf dem Rückzug von der für ihn verlorengegangenen großen Völkerschlacht bei Leipzig und muss wohl sehr gefrustet gewesen sein, denn am nächsten Tag ließ er Buttlar von seiner Armee plündern und in Brand stecken, um Verfolgern den Weg zu versperren. Geheimrat von Goethe wird noch Spuren davon gesehen haben, als er im Jahr darauf ebenfalls in der Posthalterei bewirtet worden sein soll. Zur Krönung hätte ich jetzt eigentlich auch noch hier einkehren sollen, aber ich gehe an ihr vorbei auf Wenigentaft zu.


Im Ulstertal steht das Getreide mittlerweile so hoch, dass es im Wind hin- und herwogt. Auf dem Weg zwischen den Feldern hindurch bemerke ich irgendwann, dass dieser über einen Damm verläuft. Ich vermute, über einen Bahndamm. Der Radweg, auf dem ich unterwegs bin, verläuft also anscheinend mal wieder auf einer alten Bahntrasse. Als ich nach Wenigentaft komme, bestätigt sich dies. Ich lege dort eine Rast ein, und die nette Sitzgruppe, bei der ich mich niederlasse, und der gegenüberliegende Kinderspielplatz stehen dort, wo einst viele Gleise lagen. Das Gebäude hinter dem Spielplatz ist offensichtlich der alte Bahnhof, ein Musterbeispiel seiner Zeit, der einem Eisenbahnerbaukasten Modell gestanden haben könnte. 


Bis Anfang der 50er-Jahre herrschte hier reges Treiben. Wenigentaft war Kreuzungsbahnhof, so erzählt es mir eine Tafel wenige Meter von meiner Bank entfernt. Über Geisa kamen die Züge aus der Rhön, nach Vacha bestand Anschluss an die Werrabahn. Vom Westen her liefen die Züge aus dem hessischen Hünfeld ein und über die Oechsenbahn, deren Trasse ich noch vor wenigen Minuten begangen habe, rollten über Buttlar Güterzüge heran, die vor allem Basalt transportierten. 1952 wurden nicht nur die Verbindungen nach Hessen gekappt, auch der Betrieb auf den thüringischen Strecken wurde eingestellt. Der Bahnhof geriet in Vergessenheit und Wenigentaft ins Abseits. Da der Ort unmittelbar an der Staatsgrenze West lag, wurde er der "Schutzgebietsverordnung" unterworfen, das hieß: nächtliche Ausgangssperre, zu beantragende Passierscheine für Besucher, in den 80er-Jahren dann die Umklammerung durch Streckmetallgitterzäune auf drei Dorfseiten. Heute dienen die Streckmetallplatten in Wenigentaft nur noch dazu, die Hühnervölker vom Nachbargrundstück fernzuhalten. 


Die Rangiergleise des Wenigentafter Bahnhofs reichten seinerzeit bis in den "Ulstersack" hinein, den ich jetzt betrete. Der Ulstersack ist praktisch eine "Enklave" Hessens im sonst thüringischen Ulstertal, die nur über einen Weg durch einen schmalen Einlass zu erreichen war. Bis 1952 fuhren Arbeiterzüge aus dem Amt Geisa zu den Kaliwerken im Werratal. Doch nachdem die DDR ihre Maßnahmen zur Sicherung ihrer Grenzen beschlossen hatte, wurde die Schienenverbindung zwischen Wenigentaft und dem nächsten Ort Pferdsdorf unterbrochen. Im Ulstersack wurde es ruhig. Nur ab und zu fuhren Bauern aus dem hessischen Dorf Mansbach die Wiesen düngen und Heu machen. Die Schienen sind längst abgebaut und verschrottet und die Trasse ist Bestandteil des Grünen Bandes.


Durch diese Einstülpung des hessischen Ulstersackes nach Thüringen hinein, die den Grenzverlauf einmal mehr zu einem Extrem-Mäander nötigt und mich völlig durcheinanderbringt (Wo war jetzt gleich hüben, wo war drüben?), überquere ich also innerhalb kurzer Zeit zwei Mal die Grenze. Was mir auffällt: Auf thüringischem Gebiet war der Radweg, gleichbedeutend mit der alten Ulsterbahntrasse, asphaltiert, im Ulstersack liegt Schotter, danach in Thüringen wieder Asphalt. Was ich damit nur sagen will: Die Radwege in Thüringen sind vom Feinsten, ebenfalls die meisten Straßen, bis in die entlegensten Dörfer hinein. Danke, lieber Soli!


Plötzlich ganz nah: ein weißer Berg. Vorgestern habe ich ihn schon von Weitem gesehen, jetzt lugt dieses erste Kali-Abraummonstrum über die gegenüberliegenden Baumreihen. Der "Monte Kali" von Unterbreizbach. Unter mir fahren jetzt riesige Maschinen im Berg herum und kratzen gigantische Löcher. Wenn schon der Abfall des herausgeholten Zeugs ganze Berge hergibt... Große Kunst-Berge. Viel größer als alle alten Original-Berge drumrum. Hier wird Landschaft verschoben, werden Straßen verlegt, Felder verlagert, Berge versetzt. Die Vorstellung, dass tief unter mir auf einer Fläche, die ungefähr so großsein soll wie München, die Erde ausgehöhlt ist, finde ich nicht gerade beruhigend. Wenn sich jetzt die Erde vor mir auftäte und mich verschlänge? Ich dürfte mich nicht wundern. Seit den 70er-Jahren wird der Berg aufgeschüttet. Wie ein riesiger Strom fließt der Abraum ohne Unterbrechung über die Förderbänder, sodass die Halde täglich um rund 16.000 Tonnen wächst. Salzhaltige Luft soll ja gesund sein. Ich finde aber den Geruch, den die Abraumhalde bis in die Entfernung verströmt, nicht gerade prickelnd. Wie am Meer riecht es jedenfalls nicht. Eher nach den weißen Toilettensteinen, wie in den Pissoirs von Kneipen und Bahnhöfen.


Immer den "weißen Berg Thüringens" an meiner linken Seite nehme ich hinter Unterbreizbach den ersten und letzten Anstieg für heute. Über den mit Windkrafträdern bestandenen Lohberg, der mir etwa 50 Höhenmeter zur Auflage macht, kürze ich einen Bogen des Grünen Bandes ab und sehe bald unten im Werratal Vacha vor mir liegen. Die Werra war Teil der befestigten Grenze. Jenseits lag die Freiheit in Gestalt des Städtchens Philippsthal. 


Eine Parallele zu Geisa: Mein Handy-Navi bietet mir den kürzesten Weg zu meiner Unterkunft in Vacha an - und der führt nicht durch das Zentrum. Mir eigentlich auch ganz lieb. Morgen früh bin ich für einen Stadtbummel auch eher aufnahmebereit, jetzt will ich die Beine hochlegen.


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Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronrinz (Mittwoch, 20 Mai 2015 11:46)

    Napoleon, Goethe, Reinhard... wer ist wohl der nächste? Justin Biber?! Alaaf ins Rhönerland...!

  • #2

    Iris Holschbach (Donnerstag, 21 Mai 2015 23:27)

    Dass die hessischen und thüringischen Fastnachtsvereine sehr rege sind, kann ich bestätigen! Kurz nach der Grenzöffnung wurden schon erste Besuche untereinander organisiert. Das war gelebte Wiedervereinigung! Hellau ins Rheinland...!