Vogelparadies

Berka - Dankmarshausen - Berka (19 km)


Gestern Nachmittag war es in meiner Hütte mehr als warm. Die Sonne hatte es drinnen dank mangelnder Isolierung richtig aufgeheizt. Die geöffnete Tür schaffte es, den Aufenthalt drinnen erträglich zu halten, die meiste Zeit saß ich sowieso draußen auf meiner kleinen Terrasse. Doch als die Sonne nach ihrem Tagwerk dann verschwand und eine sternenklare Nacht begann, drehte sich alles um. Langsam aber sicher kroch die Kälte ins Häuschen und die Nacht überstand ich nur, weil ich die Decken der anderen drei Betten zusätzlich über mich warf. 


Der Morgen beginnt gewöhnungsbedürftig. Drinnen ist es wohl nicht viel wärmer als draußen und draußen ist die Welt grau, windig und regenschwanger. Ich überlege, ob ich überhaupt aufstehen will, reiße mich dann aber zusammen und hüpfe aus dem Bett. Jetzt nur nicht schwächeln! Auch wenn die Verlockung groß ist, den Tag einfach lustvoll zu versumpfen. Eine Wanderung ist heute zwar geplant, bringt mir aber auf dem Weg bis zur Ostsee nicht einen Kilometer Streckengewinn. Das einzige, was heute ansteht, ist das Abwandern des Grenzverlaufs, der hier bei Berka und Dankmarshausen weit nach Westen in das hessische Gebiet hineinragt. Dorthin, wo er nach Westen abbiegt, kommt er auch nach manchen Grenzkilometern fast wieder hin zurück. So erklärt sich, warum ich im Kanu-Camp von Berka gleich zwei Mal übernachte. Berka ist eben zwei Mal Etappenziel.


Was nun? Die etwas demotivierende Tagesschleife ohne Streckengewinn ausfallen lassen und sich lieber der lustvollen Faulenzerei hingeben? Einen Ruhetag einlegen? Ich entscheide mich, mich erstmal nicht zu entscheiden. Der Duschraum im Camp ist genauso kalt wie meine Hütte, dafür wird das Wasser schnell heiß und ich taue allmählich auf. Das Frühstück, das ich mir selbst bereite, und die überraschende Erkenntnis, dass es draußen ja immer noch nicht regnet, bringt mich dann zu dem Entschluss, doch loszugehen.


Der Wheelie bleibt in der Hütte - Schonzeit für Lastenesel. Dann geht es auf Radwegen durch die Werraauen, immer den Monte Kali vor Augen. Kaum eine Menschenseele ist unterwegs, nur zwei Frauen perforieren mit ihren Walking-Stöcken den Radweg-Asphalt, ein radelndes altes Ehepaar kommt mir entgegen und kurz vor Dankmarshausen führt ein Rentner seinen Hund Gassi. Dankmarshausen streife ich nur am Rand und strebe stattdessen zügig auf Kleinensee zu. Ohne Wheelie bin ich so schnell, dass ich mich bald selbst überhole. Kurz vor Kleinensee kreuze ich mal wieder den Kolonnenweg, aha, jetzt bin ich mal wieder in Hessen. Der kleine Ort dann wie ausgestorben, nur ein paar Katzen streunen herum. Auf einem Fachwerkbalken eines Hauses lese ich einen Spruch, den ich für bemerkenswert halte: "Schaff und erwirb, zahl Steuern und stirb." Ein ganzes Leben mit sieben Worten erzählt, reife Leistung!


Fünf Minuten später bin ich am alten Grenzstreifen zwischen dem größeren Kleinensee und dem kleineren Großensee. Die beiden Dörfer liegen gegenüber, nur einige Schritte entfernt. Großensee war DDR, Kleinensee Bundesrepublik. Man hätte einander in den Garten schauen, zur Erdbeerbowle oder zur Bratwurst bitten können. Allein dazwischen stand diese Mauer wie in Berlin oder wie in Mödlareuth. Sie wurde erst 1971 gebaut, damit keiner von Ost nach West sowie umgekehrt auch nur einen Sekundenblick schicken konnte. Einen Rest davon kann man noch sehen. Ein Stück Grenzsignalzaun ebenfalls und eine schwarz-rot-goldene DDR-Grenzsäule. Das besondere an ihr ist, dass immer noch das alte DDR-Staatsemblem an ihr heftet. Wirklich das Original? Oder eine Nachbildung, nachdem das Original, wie andersweitig so oft, Souvenirjägern zum Opfer gefallen ist?


Während ich ganz versunken eine Info-Tafel lese, steht auf einmal eine alte Frau mit ihrem Hund neben mir und fängt ungefragt an zu erzählen. "Furchterregend war hier die Mauer, genauso der Streckmetallzaun, der Stacheldraht, das verminte Gelände, der ganze bewachte Grenzstreifen. Für jeden von uns hier hatte das Konsequenzen, auch wenn sie noch so merkwürdig waren. Man musste Regeln einhalten. Wer im Garten Äpfel oder Birnen pflückte, hatte auf die Leiter zu achten. Entweder man stand selbst drauf oder man stellte die Leiter in den Schuppen. Sie durfte jedenfalls nicht frei im Hof rumstehen. Sie könnte sich ja einer schnappen und damit über den Zaun flüchten. Nur eine Straße führte nach Großensee hinein, dieselbe hinaus, der Rest ringsherum war Grenze, Hunde-Laufleine, Zaun. Wir Kinder kannten hier jeden Grashalm und jeden Grenzzaun. Stöcke haben wir in den Signalzaun geworfen, sind in Deckung gegangen und haben gewartet, bis die Streife kam. Da gab's lange Gesichter, Flüche. Entdeckt haben die uns nie." Sie kichert immer noch, als sie mit ihrem Hund weitergeht - Richtung Kleinensee.


Das Wetter ist mittlerweile etwas unfreundlich geworden. Es ist recht windig, Tropfen fallen. Gegen eine Rast in einer warmen Gaststätte hätte ich jetzt nichts einzuwenden, kann aber zu meinem Leidwesen keine finden, die geöffnet hat. Was sich als Notlösung anbietet, ist eine offen gelassene Garage. Einige Haken an der Wand, um Tagesrucksack und Kameratasche aufzuhängen, eine alte Holzkiste als Tisch und ein abgefahrener Autoreifen als Sitz - Wandererherz, was willst du mehr? Der Garagenbesitzer muss mich aus seinem Haus gegenüber beobachtet haben und steht zwei Minuten später ebenfalls in der Garage. Hat er Angst, dass ich ihm seine Reifen klaue? Als er mich aber friedlich mein Brot kauen sieht, verschwindet schnell die anfängliche Skepsis in seinen Augen. Nach den ersten Fragen und Antworten zum Woher und Wohin, stellt er mit einem Lachen fest: "Nun sind Sie ja im Herzbubenland angekommen!" Er trällert seine Worte fast. Ich verstehe trotzdem nicht gleich, was er meint. Dann zeigt er auf ein kleines Plakat über seiner Werkbank: zwei korpulente Herren in knallroten Wämsen, die Wildecker Herzbuben. "Unser nächster Nachbarort auf hessischer Seite, Obersuhl, ist nämlich ein Ortsteil von Wildeck. Und Wilfried, der Kleinere mit dem buschigen Vollbart, ist in Obersuhl geboren." Was man auf solch einer Wanderung nicht alles erfährt.


Ich marschiere auf der Straße aus Großensee hinaus, die seinerzeit als zaunbewehrter Korridor in den Ort hineinführte. Immer noch fallen einzelne Tropfen, aber gemessen an dem, wie schwarz der Himmel in einigen Bereichen aussieht, kann ich von Glück sagen, dass ich sogar ohne Schirmeinsatz auskomme. Über mir auf einmal ein deutliches Flügelschlagen. Ich schaue hoch und sehe vier große Schwäne im Formationsflug. Sie ziehen eine leichte Kurve und verschwinden hinter einem kleinen Wald. Ich vermute, sie sind im Rhäden gelandet.


Der Rhäden ist ein über 200 ha großes Niederungsgebiet in einer durch Salzauslagerungsprozesse und tektonische Vorgänge entstandenen Senke. Einst war es eine der größten Sumpflandschaften im hessisch-thüringischen Grenzland. Ab 1859 wurde er trockengelegt und lange Jahre als Grün- und Ackerland genutzt. Dann wurde der Rhäden Brachland. 1970 erkennt die Vogelschutzgruppe aus dem hessischen Obersuhl die Chance für eine Wiedergutmachung in Sachen Natur. Das Werratal bei Obersuhl liegt im Bereich einer Vogelzuglinie. Mit der Wiederherstellung von flachen Seen und schlammigen Ufern würde man Rastplätze für durchziehende Vögel schaffen. Zwar verhindern die Grenzanlagen der DDR eine umfassende Wiederherstellung der Sumpfseen. Dafür garantiert die Grenznähe jedoch Ruhe und Abgeschiedenheit. Die Vogelschützer greifen zur Tat, schieben mit maschineller Unterstützung flache Mulden aus, schütten Entwässerungsgräben zu und nach und nach staut sich Wasser auf. In Folge stellen sich durchziehende Watvögel in Scharen ein. Bis 1990 verliefen Stahlgitterzaun und Kolonnenweg mitten durch den Rhäden und es dauerte einige Zeit, bis auch das Gebiet des ehemaligen Rhäden "auf der anderen Seite" in dieses Naturschutzkonzept einbezogen werden konnte. 


Der Mensch wird von dem hochgeschützten Bereich weitgehend ferngehalten. Vom Wasser sehe ich zunächst so gut wie nichts. Auch von den Vögeln nicht. Ich höre sie nur. Zwischen dem Weg, auf dem ich entlanggehe und der Uferzone ist ein hoher Damm aufgeschüttet, möglicherweise zur Abschirmung von Mensch und Tier. Erst ein auftauchender Beobachtungsturm verspricht einen Blick auf die geschützte Vogelwelt. Und in der Tat bin ich beeindruckt. Kleinere und größere Wasserflächen mit Inseln und Schilf- und Schlammzonen am Rand oder mittendrin, kreisende, schwimmende oder staksende Vögel der unterschiedlichsten Art, Graureiher, Haubentaucher, Enten, Blesshühner, Schwäne, Möwen, eine Kormorankolonie kann ich mit dem bereitstehenden Fernrohr ausmachen. Doch viel mehr Arten sind da unten aktiv, ich kann sie nur nicht, dank meiner mangelhaften ornithologischen Fähigkeiten, genauer benennen. Nach einer Viertelstunde erst verlasse ich leise den hölzernen Beobachtungsstand, um nur ja nicht die gefiederte Mannigfaltigkeit in ihrem Paradies zu stören.


Kurz hinter dem Rhäden durchquere ich bald das Städtchen Obersuhl, kann aber beim besten Willen keine Zeugnisse zur aktuellen Existenz der Wildecker Herzbuben mehr entdecken. Sind die denn überhaupt noch in den Charts? Langsam schließt sich nun der Kreis meiner heutigen Rundwanderung und bald schon sehe ich die Störche auf dem Schornstein von Berkas ehemaliger Molkerei. 


Herr Stoll, der Betreiber des Kanu-Camps, und seine Frau betreiben gerade Rabattenpflege um die kleinen Hütten der Anlage herum. Er schaut kurz hoch und ruft mir zu: "Sagen Sie mal, soll ich Ihnen nicht einen kleinen Wärmewellenofen vorbeibringen. Die Nächte sind doch noch recht kalt." Na das ist doch mal ein Angebot, Herr Stoll!


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Kommentare: 1
  • #1

    Die Pilgertochter (Freitag, 22 Mai 2015 10:12)

    Was für schöne Dorfnamen!