Haus am Zaun

Berka - Lauchröden (15 km)


Na das war doch was anderes als letzte Nacht! Ich konnte ohne zu zögern den großen Zeh unter der Bettdecke rausstrecken, ohne dass er mir abfror, Wärmewellenofen sei Dank! Ich esse Nudelsalat mit Joghurt zum Frühstück, beides ist noch von gestern Abend übrig geblieben. Der Instantkaffee aus den Beständen von Herrn Stoll spült alles runter. So marschiere ich denn um kurz nach 8 Uhr wieder wohlgelaunt zum Städele hinaus.


Durch die Werrawiesen geht es an Obersuhl vorbei nach Gerstungen. Stattliche Fachwerkhäuser stehen am großen Marktplatz, und um den Storchenbrunnen herum ist Blumenmarkt. Eine Blumenfrau kommt auf mich zu, als ich ihren Stand fotografiere, und steckt mir drei Tulpen an den Wheelie. "Soll Ihnen Glück bringen!" lacht sie mich freundlich an. "Egal ob bei Ihrer Wanderschaft oder im Leben." Irgendwie bin ich gerührt. Ich würde glatt einen Strauß Blumen bei ihr kaufen, aber an wen soll ich ihn verschenken? 


Der Storchenbrunnen steht nicht umsonst auf dem Marktplatz. Da Storche schon seit Jahrhunderten ein Nest auf dem Schornstein des kleinen Schlosses belegen, ist der Storch praktisch das Wappentier der Stadt. Es ist recht rührig im Städtchen. Autos fahren in angemessenem Tempo am langgestreckten Marktplatz entlang, Radfahrer mit vollgepackten Gepäcktaschen sind auf dem Werratal-Radweg unterwegs. Zu DDR-Zeiten war das anders. Damals war Gerstungen für Besucher unerreichbar, es lag im Sperrgebiet. Sein Grenzbahnhof hatte mit seinen schikanösen Personenkontrollen eine genauso traurige Berühmtheit wie der Bahnhof in Probstzella. 


Der Grenzwanderweg entlang des Grünen Bandes folgt ab Gerstungen nicht mehr dem Werratal. Er bleibt zu einem großen Teil dem ehemaligen Grenzstreifen treu und steigt in die Berge des Thüringer Zipfels hinauf. Ich beschließe, nicht mitzusteigen. Der Thüringer Zipfel umfasst ein großes, menschenleeres Waldgebiet, das auf 14 Kilometer halbkreisförmig vom Grenzstreifen umschlossen wird. Erst bei Sallmannshausen zieht sich die ehemalige Grenze wieder in die Werra-Aue hinunter. "Honiwood" war der Spitzname für den riesigen Staatsforst, der Stasi-Generälen und eben auch dem Staatsratsvorsitzenden persönlich zur Jagd vorbehalten war. Mich drängt es absolut nicht, steil aufwärts durch tiefsten Wald zu stapfen und dann genauso wieder runter, nur um dort anzukommen, wo ich drei Stunden vorher nach einer angenehmen Wanderung durch das Werratal auch schon hätte sein können. Ich gönne mir also die wesentlich angenehmere Variante und habe überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei.


Ich wandere am östlichen Rand des Werratales entlang und sehe am gegenüberliegenden Hang die Autos auf der A4 entlanghasten. Jetzt können sie das wieder, zur Zeit des DDR-Regimes war das nicht mehr möglich. Die Autobahn Frankfurt - Dresden querte damals eben nicht nur den Thüringer Zipfel, sondern führte damit auch zwei Mal über die Grenze. Ein potentielles Fluchtrisiko. Die DDR sperrte die Autobahn, und mit der Zeit zwängten kleine Bäumchen ihre Wurzeln in die Straßenritzen, eine Autobahn wurde komplett von der Natur vereinnahmt. Zaun und Kontrollstreifen verliefen auf der Fahrbahn, selbstverständlich war jedes Betreten verboten.


Anstatt nun den "Honiwood" hinauf- und hinunterzusteigen, gehe ich unten im Werratal durch eine Bilderbuchlandschaft. Die Werra mäandriert frei durch die Aue, der Wald rechts von mir reicht zeitweise bis an den Fluss hinunter und der gesamte Talraum wird von Wiesen eingenommen. Zwei Schwäne fliegen mit synchronem Flügelschlag darüber hinweg, einen Graureiher und wenig später auch einen Storch sehe ich in der Wiese stehen und nach Beute Ausschau halten. Ich gehe mit angezogener Handbremse, genieße den Tag.


In Sallmannshausen, wo die Werra nach Osten Richtung Herleshausen schwenkt, komme ich wieder auf eine kleine Landstraße und gehe auf ihr noch vier weitere Kilometer bis nach Lauchröden, meinem Ziel für heute. Ich bin besonders früh dran, dank der drei Stunden, die ich mir durch Vermeidung des Thüringer Zipfels geschenkt habe. Es ist erst kurz nach 13 Uhr, und Herr Bracke, mein Pensionswirt, bittet mich, mich noch einen Moment in den Garten zu setzen, das Zimmer sei noch nicht ganz bezugsbereit. Gerne tue ich das. 


Der Garten ist eine Ruheoase. Direkt vor dem Haus fließt ruhig die Werra dahin, Blumenrabatten, ein Teich, unterschiedliche Sitzgruppen. An der Wäscheleine flattert die bunte Bettwäsche des letzten Gastes, eine Kanu liegt bereit, um ins Wasser gelassen zu werden. Unten am Angelsteg ein wichtiger Hinweis, handgeschrieben auf einem kleinen Holzbrett: "Genitiv ins Wasser, weil Dativ ist". Herrlich! 


Gerade als ich mich frage, wo denn hier die Grenze verlief, kommt Herr Bracke wieder aus dem Haus und ich frage ihn. "Die Grenze verlief in der Flussmitte", erklärt er mir. "Und wo war dann der Zaun? Ihr Haus steht doch fast am Flussufer." - "Das ist richtig! Der Zaun ging auch hier nur knapp einen Meter am Haus vorbei. Die Fenster auf der Flussseite hat man uns zugemauert und den Balkon, den wir hier hatten, hat man abgerissen. Über den Zaun kucken ging nicht. Auf der anderen Seite des Hauses konnten wir uns einen neuen Balkon bauen. Dafür gab es dann staatlicherseits Unterstützung. Da, wo der Hang zum Ufer runtergeht, also keine fünf Meter von dem anderen entfernt, stand der zweite Zaun. Umd dazwischen, wo jetzt unser Garten ist und das Kanu liegt, verlief der Kolonnenweg. Da marschierten sie hin und her. Hier oben an der Hausecke, wie überall an der Werra, waren Lampen angebracht, die die ganze Nacht über den Streifen beleuchteten. Nächtliche Dunkelheit kannten wir hier nicht. Allerdings zahlte uns der Staat auch Fördermittel, wenn wir unsere in den Westen gerichteten Fassaden verschönerten. Das war gewollt. Die im Westen sollten sehen, wie schön es im Osten ist." Ich kann wiedermal nur fassungslos darüber den Kopf schütteln, unter welchen Bedingungen man an dieser Grenze leben musste und kann nur ehrfürchtig darüber staunen, wie friedlich und schön es jetzt hier aussieht.


Während ich schreibe, schaue ich aus meinem Zimmer über die Werra hinweg. Die einst zugemauerten Fenster sind schon lange wieder aufgebrochen. Keine 30 m von mir entfernt liegt das andere Werraufer, der damalige "Westen". Dahinter die weiten Wiesen. Damals lag dort die Freiheit - und war doch so weit weg.


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Kommentare: 2
  • #1

    I. PK (Freitag, 22 Mai 2015 07:34)

    ... Schön, den Tag mit einer ganz aktuellen Etappenbeschreibung zu beginnen....weiterhin einen guten Weg ....

  • #2

    Der kronprinz (Freitag, 22 Mai 2015 17:37)

    Abgefahren!! Um so cooler dass die Anwohner trotzdem mit dem Schild Humor Zeigen.