Erdbeeren durch den Zaun

Lauchröden - Treffurt (27 km)


Solch einen nett zurechtgemachten Frühstückstisch hatte ich auf meinem Weg bisher noch nie. Nicht nur die Brötchen, den Wurstteller und die Marmeladentöpfe hingeknallt, sondern hier Blümchen, da eine kleine Deko, ein buntes Schildchen "Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag!" und selbst dem Ei wurde ein strahlendes Gesicht aufgezeichnet. So läuft doch der Tag gleich ganz anders an.


Mit Frau Bracke, die rührend um mich besorgt ist, komme ich natürlich ins Gespräch. Und natürlich geht es um die Grenze. "Ich wollte unbedingt rüber. Vielleicht einen Tunnel bauen, unter der Werra durch, hatte ich mir mal gedacht. Aber mein Mann meinte: ' Wo willst du mit der ganzen Erde hin, das geht doch nicht.' Er hatte ja Recht, aber ich wollte unbedingt raus. Dann haben wir immer die Hubschrauber vom Bundesgrenzschutz fliegen und auf den Wiesen auf der anderen Seite der Werra landen sehen. Da dachte ich, wir hängen ein großes, weißes Bettlaken an den Teil unserer Hauswand, den die Grenzer nicht einsehen können, und schreiben da drauf: 'Holt uns hier raus!' Aber das ging natürlich nicht, das wusste ich ja auch. Aber ich war alles so leid. Drüben, auf der anderen Seite der Werra, wo jetzt nur Wiesen sind, führten zwei Asphaltstraßen von links und rechts bis auf einen großen Parkplatz hier genau gegenüber. Da kamen die Busse mit Touristen und die haben dann zu uns rübergekuckt, als wären wir Affen im Zoo. Aber Verwandte von mir aus dem Westen sind auch mal dorthin gekommen und haben zu uns rübergewinkt. Als ich zurückgewinkt habe, sind am nächsten Tag Stasileute bei mir gewesen und haben mir eine "sozialistische Belehrung" erteilt. Ein Polizist, der bei uns im Haus wohnte, hatte mich angeschwärzt." 


Auf meine Frage hin, ob mit den Grenzern, die ja unmittelbar vor dem Haus patrouillierten oder auf Posten standen, irgendein Verhältnis aufgebaut werden konnte, antwortete sie mir: "Mit manchen ging das, mit anderen wieder überhaupt nicht. Die waren ja immer zu zweit und wussten ja nie, ob nicht der andere ein Stasispitzel war. Als ich einmal Geburtstag hatte und es erst nur den einen Zaun am Uferhang gab, habe ich mal die zwei Grenzer zu einem Stück Kuchen eingeladen, draußen vor dem Haus. Sie konnten wohl nicht widerstehen und haben sich tatsächlich zu uns gesetzt. Die ganze Zeit über rückten sie aber auf den Stühlen hin und her und schauten sich unruhig um. Als es dann die zwei Zäune gab, waren die Grenzer ja selbst wie in einem Käfig gefangen. Machmal standen sie dann in der größten Hitze am Haus auf ihrem Posten und schwitzten fürchterlich. Dann haben sie uns schonmal gefragt, ob wir ihnen nicht einen Wasserschlauch durch den Streckmetallzaun stecken könnten, damit sie sich erfrischen könnten. Einmal habe ich ihnen sogar frische Erdbeeren aus unserem kleinen Garten durch den Zaun zugeschoben. Die Erdbeeren waren so dick, dass ich sie richtig durch die Zaunlöcher quetschen musste. Nach der Wende haben uns einige von den Grenzern besucht und haben dabei ihrer Frau und ihren Kindern gezeigt, wo sie mal Wache geschoben haben. Dabei habe ich sie mal gefragt, ob sie auf uns geschossen hätten. Ich habe keine Antwort bekommen. Was sollten sie auch sagen ...?"


Es sprudelte förmlich aus ihr heraus und ich glaube, ich hätte noch den ganzen Tag ihren Erzählungen zuhören können. "Sie wissen doch bestimmt, dass man bei uns in der DDR 'wählen' konnte zwischen der Jugendweihe und der Konfirmation. Als unser Junge soweit war, hat man uns gesagt: "Wenn Sie die Jugendweihe machen, können alle Ihre Verwandten Sie besuchen kommen. Wählen Sie die Konfirmation, dann nicht.' Natürlich haben wir uns daraufhin für die Jugendweihe entschieden. Als es dann so weit war, wurde trotzdem jeder Einreiseantrag unserer Verwandten abgelehnt. Immerhin durften wir uns im Konsum zur Feier des Tages eine Tüte Chips und eine Tüte Erdnüsse abholen. Außerdem gab es für die Kinder und für die Alten je eine Banane. Und ich hätte so gerne auch mal eine Banane gegessen. Apfelsinen gab es sowieso nur zu Weihnachten, für jeden eine."


Ich muss bei Frau Bracke den ewigen Sprudel der Erinnerungen abdrehen, sonst komme ich überhaupt nicht mehr weg. Jetzt genießen die Brackes ihr Leben hier an der Werra, pflegen mit viel Liebe ihren phantasievollen Garten, der jetzt dort liegt, wo seinerzeit der Grenzstreifen war, und sind hervorragende Gastgeber für ihre Pensionsgäste, die jetzt zu ihnen kommen dürfen, ohne einen Antrag stellen zu müssen.


Direkt hinter Lauchröden geht es über die Werrabrücke, rüber, "in den Westen". Die Brücke hatten 1945 die Amerikaner gesprengt, die einfachste Möglichkeit, die noch von der deutschen Armee mit Sprengsätzen gespickte Brücke zu "entschärfen". Jetzt ist es nur eine schmale Fußgängerbrücke. In der Mitte hängt ein Foto mit Text am Geländer, zur Erinnerung an den Tag, an dem nach der Maueröffnung in Berlin die Herleshausener über eine schnell zusammengezimmerte Holzbrücke in einer Menschenschlange ihre Nachbarn in Lauchröden besuchten. Erst später ist die jetzige Brücke gebaut worden. Dass es nur eine Fußgängerbrücke geworden war, regte damals niemanden auf, denn eine breite Brücke für den Autoverkehr gab es nur wenige Kilometer werraabwärts bei Wartha, sie musste nur noch hergerichtet werden. 


Eine wunderschöne Lindenallee führt nun auf Herleshausen zu, links und rechts die Wiesen der Werraauen, so weit das Auge reicht. Wieder sehe ich Graureiher regungslos wie Plastikskulpturen in den Wiesen stehen und zwei Storche durch dieselben staksen. Vielleicht sind es die beiden Adebars von Lauchröden, die sich vor wenigen Minuten erst von ihrem Schornstein aufgemacht haben, um für ihre Jungen das Frühstück zu besorgen. 


Herleshausen ist nicht viel mehr als ein Dorf, mit schönen alten Fachwerkbauten und einer stattlichen Kirche. Doch berühmt geworden ist es aus anderen Gründen. Herleshausen, zwischen Werra und A 4, hat viel Grenze erlebt: Herleshausen - Wartha war ein großer Kontrollpunkt und Grenzübergangsstelle zwischen Rudolphstein - Hirschberg an der A 9, wo ich schon war, und Helmstedt - Marienborn an der A 2, wo ich noch hinkommen werde. Am ersten Wochenende nach dem 9. November 1989 wurde der Ort von 28.000 DDR-Bürgern besucht und in dem dortigen Gemeindezentrum betreut und versorgt.


Mitte der 50er-Jahre wurden die letzten deutschen Kriegsgefangenen aus Russland hierher transportiert und am Bahnhof ausgesetzt. 10.000 sog. Spätheimkehrer taten nach über zehn Jahren Sibirien in Herleshausen ihre ersten Schritte auf neuem deutschen Boden, und wenn es nur vom Zug in den Bus war, der sie ins Grenzdurchgangslager Friedland fuhr. Aber in Herleshausen standen damals Wartende Spalier und riefen und jubelten und hießen willkommen und hielten Schilder hoch mit den Namen oder Bildern der Männer, Verlobten, Väter, Söhne, Brüder, die vermisst worden waren seit elf, zwölf, dreizehn Jahren.


Es gab aber auch noch andere Kriegsgefangene in Herleshausen. Sie sind nicht nach Hause gekommen. Etwas außerhalb von Herleshausen gibt es im Wald einen Friedhof. 1593 sowjetische Soldaten im Alter von 15 bis 65 sind hier beerdigt. Sie waren als Zwangsarbeiter zum Bau der "Reichsautobahn" abgestellt, und zum Sterben ins "Seuchenlager Herleshausen" gebracht worden.


In Herleshausen befand sich außerdem eine der wichtigsten deutsch-deutschen Grenzübergangsstellen, über die auch Freikäufe von politischen Häftlingen aus der DDR abgewickelt wurden. Von hier aus fuhr 1964 der erste Bus mit 50 "Politischen", die ins Notaufnahmelager Gießen kamen. Freikäufe fanden aber auch schon früher statt. Einmal wurden 15 Gefangene gegen drei Waggonladungen Kalisalz eingetauscht. Später lieferte die BRD für jeden Häftling Waren im Wert von 40.000 D-Mark. Diese Summe erhöhte sich in den 70er-Jahren auf fast Hunderttausend. Bis zur Wiedervereinigung kamen rund 33.000 DDR-Bürger auf diese Weise in die Bundesrepublik.


Hinter Herleshausen beginnt der Ringgau, einer Staffelung von Höhenzügen, die sich von nun an bis nach Treffurt querlegt. Das bedeutet schwitzen. Aber ich schlage mich erstaunlich gut. Die letzten beiden nicht so langen Flachetappen im Werratal haben mir gut getan und ich bin jetzt richtig bissig. Ich fletsche die Zähne und ziehe bergan, nässe ordentlich ins Hemd, aber habe das Gefühl, dass es mir und meinem Bauchspeck guttut. Ich triumphiere, wenn ich wiedermal oben angekommen bin, und lasse mich dann rundum zufrieden wieder den Berg runtertrudeln - bis zum nächsten. So komme ich auf den Heldrastein.


Ein sagenumwobener Kalksteinfelsen ist er, 504 m hoch, der "König des Werratals". Auf seiner Spitze trägt er den "Turm der deutschen Einheit", einen mit viel grenzüberschreitender Eigeninitiative nach der Wende zum Aussichtsturm überbauten ehemaligen Abhörturm der Stasi. Direkt unterhalb des Felsmassivs verlief die Grenze. Jahrzehntelang war der Heldrastein Sperrgebiet, niemand durfte hier rauf, außer den Grenztruppen. Heute kann jedermann hier hoch, kann die Aussicht direkt von der Abbruchkante ins etwa 350 m tiefer gelegene Werratal genießen oder sich von einem Lehrpfad-Rundweg über den deutschen Wald belehren lassen. Und man kann den Turm besteigen.


Ich zähle die Stufen, wie man das halt immer so tut, um sich bei dem langweiligen Emporklettern die Zeit zu vertreiben, und lande bei 165. Oben ist die Rundum-Aussicht in der Tat imponierend, obwohl ich mich eigentlich mehr damit aufhalte, die gesammelten und eingerahmten Zeitungsausschnitte zu studieren, die links und rechts neben den Ausguckfenstern hängen. Fotos und Texte dokumentieren die jüngere Geschichte: Aufbau der Grenzanlagen, von der Werra angeschwemmte Flüchtlingsleichen, DDR-Abhöranlagen, Wiedervereinigungsfeiern. Ich drehe mich die Wendeltreppe wieder runter. Diesmal sind es 166 Stufen. Mhmm. Muss also jemand, während ich oben war, unten eine weitere dranmontiert haben.


Gleichzeitig mit dem Aussichtsturm wurde von einer fleißigen Interessengemeinschaft unmittelbar nach der Wende auch eine Wandererhütte gebaut. Aber während ich mich hier aufhalte, bekomme ich weder einen Wanderer zu Gesicht noch eine Flasche Wasser. Das Pfingstwochenende fängt erst morgen an, und ich würde als Wirt auch nicht nur für mich auf den Berg gehen und die Bude öffnen. Mein Tagesziel Treffurt ist außerdem schon unten im Tal sichtbar, sehr weit unten. Ich mach mich runter.


Nun überwindet man eine Höhendifferenz von 350 m auf einer Strecke von etwa sechs Kilometern nicht mal eben so. Dazu braucht man kniestauchende steile Abstiege oder Treppen. Der Weg nach Treffurt hat beides zu bieten. Zunächst einen steilen Treppenweg durch gestufte Kalkwände voller Klüften und Spalten, dann kaum minder steile Waldpfade, die alle zusammen mir, meinen Knien und meinem Wheelie alles abverlangen.


Für meine Verhältnisse ist es heute spät, als ich bei meiner Pension an der Tür klingel, doch ich fühle mich frischer als an manch kürzerem Tag. Und abends gibt es dann noch "Schnitzel an Spargel" und alles ist perfekt.


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Kommentare: 1
  • #1

    Der kronprinz (Montag, 25 Mai 2015 15:21)

    Wieder mal ein sehr geschichtsträchtiger Eintrag der sehr nachdenklich macht.