Agentenschleuse, Führungsturm und Kloster

Treffurt - Kloster Hülfensberg (22 km)


Von meiner Pension in der Weiherstraße komme ich morgens früh direkt zur Egon-Bahr-Straße, um auf ihr bis zum Marktplatz von Treffurt zu gehen. Egon Bahr ist ein Sohn der ehemaligen Grenzstadt und die Menschen hier halten viel von ihm. Bahr war der Konstrukteur der deutschen Ostverträge. Anfang der 70er-Jahre wurden unter der Regierung Willy Brandt nach Vorarbeit von Egon Bahr der Moskauer Vertrag, der Warschauer Vertrag sowie das Transitabkommen und der Grundlagenvertrag mit der DDR unterzeichnet. Verträge, ohne die Jahre später eine Wiedervereinigung Deutschlands kaum vorstellbar ist.


Treffurt ist ein Zuckerstückchen: enge, zum Teil steile Gassen Richtung Burg Normannstein hinauf, ein geschlossenes Fachwerkensemble, auch wenn an dem ein oder anderen Haus bald etwas getan werden müsste, ein wunderbares Fachwerk-Rathaus mit Laubeneingang und das alte, unregelmäßige Kopfsteinpflaster ist noch im im Original vorhanden. Hinzu kommen viele kleine Accessoires, die in den rundum erneuerten westdeutschen Fachwerkstädten oft abhanden gekommen sind: Treppenaufgänge mit Schuhabkratzern, steinerne Wasserfänge, liebevoll gestaltete Hauseinfahrten, zum Fachwerk passende Fenster. Und wenn für einen Auftritt von Karat plakatiert wird, schwingt wohl auch noch ein wenig Ostalgie mit.


Am Marktplatz treffe ich einen Mann mit großem Rucksack. Ein "Grenzgänger"? Nein. Wie sich in einem kurzen Gespräch herausstellt, ist er Pilger. Ein Jakobsweg geht durch Treffurt. In Etappen ist er unterwegs und wird in Eisenach bald wieder seine Pilgerschaft unterbrechen. Vor einiger Zeit hat er auf der "Via Scandinavica" in Flensburg an der deutsch-dänischen Grenze seinen Weg begonnen. Irgendwann hofft er, in Santiago di Compostela zu sein. Aber das wird noch etwas dauern.


Für ein paar Tage muss ich mich nun von der Werra verabschieden. Keine Talwanderungen mehr, ich werde sie auf ihren flankierenden Höhen begleiten - und das heißt: Kolonnenweg! Als ich mich auf ihm die ersten Höhenmeter empormühe, staune ich nicht schlecht: In einer von den beiden Lochbetonreihen sind die Löcher komplett mit Beton ausgegossen! Wer hat denn hier mal intensiv an die Wanderer gedacht? Jetzt ist der K-Weg teilweise nur noch steil, sehr steil. Der Weg führt mal wieder bis zum Himmel, nichts anderes ist oben zu sehen. Besser, ich gucke geradeaus, auf die Platten, die ausgegossenen. Nur nicht denken! Einfach einen Schritt vor den anderen setzen. Kann ich aber nicht lange, dann muss ich wieder gucken. Hinter dem Scheitelpunkt geht es noch steiler weiter, diesmal aber abwärts. Sieht aus, als würde der Weg in ein riesiges Loch verschwinden. Doch am gegenüberliegenden Hang setzt er sich fort, das kann ich sehen. So geht es einige Zeit. Jedes Mal, wenn ich denke: geschafft! - noch ein Berg und wieder ein Tal.


Ich erreiche eine besondere "Sehenswürdigkeit". Schon seit einiger Zeit wird eine "Agentenschleuse" angekündigt, vor der ich jetzt stehe. Der Heimatverein Wendehausen hat sie 2003 entdeckt. Nach Minenräumarbeiten war sie teilweise verschüttet. Unter einem Stück Streckmetallzaun, den man nachträglich wieder aufgebaut hat, führt ein Rohr durch. Wie Recherchen des Heimatvereins ergaben, wurde das Rohr Anfang 1980 unter dem damaligen Grenzzaun als "Wasserdurchlass" gebaut. Dabei wurde ein Rohr von einem Meter Durchmesser verwendet, obwohl ein Rohr von 20 cm weitaus gereicht hätte. Wie nachträgliche Beobachtungen des Heimatvereins ergaben, bleibt die Röhre selbst nach ergiebigen Regenfällen so gut wie trocken. Die Heimatkundler zogen daraus den Schluss, dass die versteckte Betonröhre zum Schleusen von Agenten diente, was ein ehemaliger Major der DDR-Grenztruppen auch bestätigte. Ein Gitter verschloss den Zugang für "Unbefugte". Das Rohr, das jetzt auf der anderen Seite wieder unmittelbar jenseits des Zauns zutage tritt, verlief damals im Zickzack unter dem gesamten Grenzstreifen hindurch. Der Ausgang lag hinter einem Gebüsch noch auf DDR-Gebiet verborgen. Bei Nacht- und Nebelaktionen krochen die "Kundschafter des Friedens" hier durch, um in der einsamen Region unterzutauchen. Der Abschnitt war dann tagelang für Grenztruppen tabu, nur hohe Stasioffiziere hatten Zutritt. Bezeichnenderweise lag ein Hubschrauberlandeplatz in der Nähe.


Nach einer Pause an diesem denkwürdigen Ort ist mein nächstes Ziel ein Wachturm am Weg. Noch vier Kilometer bis dahin. Mittlerweile bin ich auf einer Hochfläche angekommen, neben mir ein recht breiter "Grenzstreifen", der jetzt aber nur grünt und blüht. Links vom - immer noch "gefüllten" - Kolonnenweg zieht sich eine Gehölzreihe durch die Wiese. Junge Weiden und Eschen haben sich im Kfz-Sperrgraben etabliert, Schmetterlinge und Hummeln fliegen vor mir hier und ich fühle mich wie im Urlaub.


Etwa einen Kilometer vor dem immer wieder angekündigten "Mahnmal Grenzturm" treffe ich auf einen ganz "normalen" Grenzwachturm, Sorte "viereckig, schlank", in dem Mannschaftsgrade ihren Dienst versahen. In Sichtweite erkenne ich aber schon, und so waren sie bei zulässigen Geländebedingungen auch errichtet, den Führungsturm, Sorte "viereckig, dick". Er steht etwa 200 m abseits des Kolonnenweges, der hier über eine Kuppe verläuft. Nicht, um in erster Linie den Grenzstreifen zu kontrollieren, die Übersicht dazu war an dieser Stelle gar nicht so günstig. Der Mann des Heimatvereins Wendehausen, der gerade um den Turm herum den Rasen mäht, sagt mir, warum der Turm weg vom Kolonnenweg am etwas tiefer gelegenen Hang steht. "Hauptbeobachtungsrichtung war ja nicht der Westen, der Feind. Den konnte man von hier aus über die Kuppe hinweg kaum einsehen. Die "Feinde" waren doch eigentlich im Osten, im eigenen Land, die, die abhauen wollten, aus der Sperrzone heraus. Die musste man sofort im Auge haben."


Während er arbeitet, darf ich mir den Turm auch von innen ansehen, ansonsten ist hier nur sonntags geöffnet, und das auch nur von Mai bis Oktober. Drinnen befindet sich ein kleines Grenzmuseum, das vom Heimatverein betreut wird. Vor 20 Jahren schon sollte der Turm eigentlich abgerissen werden, "im Prinzip von denen, die ihn gebaut haben". Eine Ausstellung zeigt den Aufbau der Sperranlagen, schildert das Leben im Sperrgebiet, dokumentiert den Briefverkehr des Grenzabschnittskommandeurs mit Erich Honecker höchstpersönlich nach gescheiterten Fluchtversuchen, zeigt Bilder und Texte der Grenzöffnungen an verschiedenen Stellen der näheren Umgebung. Ich erfahre aber auch kuriose Details, z.B., dass man die Wegweiser an den Straßen abmontiert hatte oder Landkarten mit Gebieten jenseits der Grenze ohne jede Kennzeichnung veröffentlichte, um Ortsfremden die Orientierung zu erschweren.


Doch ganz abgesehen von dem musealen Aspekt des Turmes, ist es für mich schon interessant, solch einen Führungsturm überhaupt mal von innen zu sehen. Der Herr vom Heimatverein macht mit mir eine "Führung": Die ersten Grenztürme waren aus Holz gebaut. Da viele von ihnen auf freiem Feld standen und wehrlos den Stürmen ausgesetzt waren, kippte der eine oder andere auch schon mal um. Deshalb verschwanden sie mit der Zeit. Beton kam zu Einsatz, hässlich, aber mit stabilem Fundament. Ästhetik spielte an der Grenze sowieso keine Rolle. Nützlichkeit pur regierte, eben frei Sicht und freies Schussfeld. 1980 wurde diese Sorte Türme also neu aus Betonfertigteilen errichtet. Die "Führungstürme" haben einen Grundriss von vier mal vier Metern und sind mit ihren vier Etagen neun Meter hoch. Im Keller stand die Stromversorgung mit Notstromaggregat, im Erdgeschoss befanden sich die Versorgungseinrichtungen mit Stromverteiler und Waschgelegenheit samt Toilette, aus der das Abwasser in einen Außenkübel floss, der von der nächstgelegenen LPG entleert wurde. Im ersten Obergeschoss beherbergten sie die vier Grenzer der Alarmgruppe mit Feldbetten, Tisch, Stühlen und Waffenschrank oder -haltern. Deren Wagen stand direkt vor dem Turm immer startbereit. Im zweiten Obergeschoss residierte die Führung, also meist ein Offizier, mit Telefon und direktem Draht zum Kommandeur der Grenzsicherung, der auch "privat" erreichbar war, und zu den benachbarten Einheiten. Über der Führungsstelle war das Dach mit einer Leiter erreichbar. Auf dem Dach waren starke Scheinwerfer und die Funkantenne montiert. Nur wenige der Türme stehen noch, die meisten sind abgerissen worden.


Ich frage den Herrn vom rührigen Heimatverein, der sich ja sowohl um die Agentenschleuse als auch um den Führungsturm kümmert, ob sie auch für das Verfüllen der Plattenweglöcher verantwortlich seien. Da lacht er nur kurz: "Nein, nein, das kam vom Landkreis, Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Ich möchte nicht der arme 1-Euro-Jobber gewesen sein, der das kilometerlang machen durfte. Aber gleich ist das auch vorbei." - Tolle Nachricht! 


Endlich wieder mal fällt der Kolonnenweg unmittelbar hinter dem Führungsturm in ein "Loch", runter zu einer Landstraße, nur um unmittelbar dahinter wieder in den Himmel zu steigen. Jawoll! Das stählt die Lunge, das stählt die Beinmuskulatur, das verbrennt ordentlich Körperfette - ich bin begeistert. Überhaupt nicht begeistert bin ich, als plötzlich und unerwartet tatsächlich die Löcher wieder Löcher sind. Auf halber Platte! Genau an dieser Stelle ist das Geld ausgegangen. Dabei hätte doch der 1-Euro-Jobber nur zu gerne, von Landkreis zu Landkreis weitergereicht, die Löcher weiter bis an die Ostsee "gestopft".


Nochmal komme ich auf eine Hochebene, nochmal geht es steil abwärts, dann liegt Döringsdorf auf einem Sattel vor mir. Und dahinter, gaaanz oben auf einem Berg, sehe ich die Kirchturmspitze von Kloster Hülfensberg aus den Bäumen hervorlugen. Ich brech zusammen ... da oben muss ich noch rauf ... da ist mein Quartier für heute.


Eine halbe Stunde später bin ich oben - und etwas überrascht. Der Komplex sieht gar nicht nach einem Kloster aus. Oder sagen wir: Die Klöster, die ich bisher gesehen habe, sahen anders aus. Das Hauptgebäude ist ein langgezogener Holzbau, der eher an ein früheres Schullandheim erinnert. Zwei Geschosse, neben der Pforte die Worte "Franziskaner-Kloster", ins Holz geschnitzt.


Der Mann, der mir öffnet, sieht auch nicht aus, wie ich mir einen Klosterbruder vorstelle. Er trägt keine Ordenstracht, stattdessen schwarze Jeans, ein normales graues Oberhemd, darüber einen Pullunder. Eine ruhige Stimme, ein gütiges Gesicht: Bruder Rudolf. Er lädt mich direkt in den Speiseraum ein. Er, sein Mitbruder Rolf und eine Pilgerin, die auf dem Jakobsweg sei, säßen gerade beim Kaffee. Bruder Rolf trägt das Franziskanergewand aus braunem grobem Wollstoff mit Kapuze und einem weißen Strick als Gürtel. Freundlich lächelnde Augen hinter Brillengläsern, grauer Vollbart, spärliches Kopfhaar und immer zu einem Scherzchen aufgelegt. Mit Melanie, der Pilgerin mittleren Alters, komme ich natürlich zuerst über das Stichwort "Jakobsweg" ins Gespräch. Dann wird das Kloster zum Thema und Bruder Rolf und Bruder Rudolf werfen sich die Bälle zu:


Das Kloster und die Wallfahrtsstätte hier oben auf dem Hülfensberg, suchen Gläubige bereits seit dem Mittelalter auf. Die Wallfahrtskirche St. Salvator entstand im 14. Jahrhundert. Das Hülfenskreuz darin, das die Pilger anbeten, ist noch älter. Zur DDR-Zeit lag der Hülfensberg, genauso wie Döringsdorf, im Sperrgebiet. Nur wer in den umliegenden Dörfern wohnte oder einen Passierschein bekam, durfte an den Wallfahrten teilnehmen, nie mehr als tausend Gläubige. Für die tiefgläubigen katholischen Christen des Eichsfelds, durch das ich mich inzwischen bewege, ein schwer zu ertragender Umstand. Am 4. November 1989, als es politisch brodelte und die Grenze nur noch fünf Tage bestehen sollte, wagten sich etwa 3000 Menschen aus den Hülfensberg-Dörfern und dem Südeichsfeld mit einer Prozession in die verbotene Sperrzone. Lediglich 300 von ihnen hatten eine ausgestellte Genehmigung. Alle anderen folgten spontan. Die Grenzer ließen sie erstaunlicherweise passieren. Der damalige Pater Erwin begrüßte die Mutigen und feierte mit ihnen einen unvergessenen Gottesdienst. 


Nach dem Kaffee zeigt Bruder Rudolf mir mein Zimmer im Dachgeschoss, mit Blick auf die Kirche St. Salvator und die Bonifatiuskapelle, die auf dem Platz vor dem Kloster stehen. Unter der Dachschräge ein schmales Bett, das ich mir selbst beziehen muss. Gegenüber ein Schreibtisch mit Stuhl, daneben ein schlichter Kleiderschrank aus hellem Holz. An der Wand ein kleines Holzkreuz.


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Kommentare: 1
  • #1

    Der kronprinz (Montag, 25 Mai 2015 15:38)

    Tja man sieht sich tatsächlich immer zwei mal im Leben. Auch den kolonnenweg...