Sch... Empfang!

Kloster Hülfensberg - Asbach (25 km)


Den Abend von gestern muss ich nochmal etwas ergänzen. Beim Abendessen saßen wir alle beisammen, die Brüder Rudolf, Rolf, Jordan, Bernhard und Johannes, sowie Pilgerin Melanie und ich. Wir teilten Brot, Käse, Wurst und Quark mit frischen Kräutern aus dem Klostergarten. Zu trinken gab es Tee. Nach dem Essen gingen die Brüder in die Küche, um das Geschirr zu spülen. Melanie und ich schlossen uns ihnen an. Während Bruder Bernhard mit flinken Fingern spülte, Rolf und Johannes klosterinterne Angelegenheiten besprachen und alle anderen die Trockentücher schwangen, fragte Melanie unvorsichtigerweise, ob sich der Franziskanerorden keine Spülmaschine leisten könne. Daraufhin bekam sie eine klare Ansage. "Wir wollen ganz bewusst keine Spülmaschine", belehrte sie Bruder Bernhard. "Auch keine anderen teuren Gerätschaften. Wir haben z.B. nur einen einfachen Herd, auf dem die Mittagsmahlzeiten zubereitet werden. Wir Franziskaner haben uns Gott und einem Leben in Armut verschrieben. Die gemeinsame Küchenarbeit ist aber auch ein Kommunikationsritual. Wir unterhalten uns, lachen und scherzen viel beim Spülen." Jetzt weiß das Melanie auch. 


Nach dem Frühstück wiederholt sich das Spülritual. Ich verstehe das mit der Kommunikation sehr gut, habe ich doch früher beim Spülen auch immer sehr gerne mit mir selbst kommuniziert. Bruder Rolf begleitet mich zum Abschied noch vor die Tür. Geld möchte er von mir nicht. "Gastfreundschaft ohne Wenn und Aber ist für uns auch eine Art Ritual. Leben Sie wohl und Gottes Segen!" Irgendwie beschwingt gehe ich los.


Der Weg vom Hülfensberg hinunter geht direkt in die Knie. Aufstiege am Anfang, also von Null auf Hundert, sind nix, Abstiege "in Falllinie" auf Asphalt aber auch nicht. Das knallt sofort in die Füße und lässt sie fackeln. Bis Großtöpfer geht's abwärts, dann habe ich meinen tiefsten Punkt (geographisch gesehen) für heute auch schon erreicht. Glockengeläut empfängt mich. Natürlich nicht, um mich angemessen zu begrüßen, sondern schlicht und ergreifend, um die gläubigen Seelen des Dorfes zum Pfingstgottesdienst zusammenzurufen. Die Leute strömen herbei, denn die Menschen hier im Eichsfeld sind sehr gläubig und dem Katholizismus verbunden. 


Seit Jahrhunderten liegt das einst zum Fürstbistum Mainz gehörende katholische Eichsfeld wie eine Insel inmitten vom evangelischen Thüringern, Hessen und Niedersachsen. Zu Beginn der Reformation tendierten auch die Eichsfelder überwiegend zur Lehre Luthers, aber verschiedene Maßnahmen des Bischofs von Mainz brachten die Eichsfelder wieder auf "den alten Glauben" zurück. Von 1945 bis 1990 verlief etwa zwischen Oberem und Unterem Eichsfeld die innerdeutsche Grenze. Doch trotz aller staatlichen Einflussnahme blieb im DDR-Abschnitt des Eichsfelds auch während der Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang eine starke katholische Volksfrömmigkeit erhalten. Ihr Zentrum war und ist übrigens das Kloster Hülfensberg, von dem ich hinter Großtöpfer jetzt auch die Glocken herunterklingen höre.


Langgezogen aufwärts gehe ich, dann wieder runter in ein Bachtal und wieder rauf in das kleine Bergdorf Kella. Oben, auf dem Kamm des den Ort umgebenden Berges, verlief die politische Grenze, der Grenzstreifen unmittelbar hinter den letzten Häusern am Hang her. Ich will hier Rast machen, finde aber zunächst im ganzen Dorf keine Bank. Erst vor der kleinen Kirche steht eine. Sogar mit Begleitmusik. Aus dem Innern der Kirche klingen Lieder. Der Gottesdienst hält dort immer noch an. Als die Kirchentür aufgeht und die Menschen herausströmen, mache auch ich, dass ich weiterkomme. Und jetzt erst recht bergauf. 


An Kreuzwegstationen vorbei kämpfe ich mich hoch. Auch Kreuzwege können steil sein, nicht nur Kolonnenwege. Aber hier liegen sie eng beieinander. Bei einer Wallfahrtskapelle kreuzen sie sich. Die Kapelle war Ende des 19. Jahrhunderts neben dem bereits existierenden Kreuzweg gebaut worden. 1939 zerstörten Nazis die Fenster, Türen und das Altarbild. Nach dem Ende des Dritten Reiches begannen die Einwohner von Kella sofort mit den Reparaturarbeiten. 1950, ein Jahr nach der Gründung der DDR, erstrahlte sie in neuem Glanz. Noch im gleichen Jahr wurde auf Anordnung der Grenztruppen der Kapellen-Gottesdienst eingeschränkt. Die Kapelle lag unmittelbar an dem 500 m - Schutzstreifen, den die DDR-Regierung 1952 längs der Grenze ausgewiesen hatte. Prozessionen am Kreuzweg waren nicht mehr möglich. Nach der Verschärfung des Grenzregimes 1961 wurde der Besuch der Kapelle gänzlich untersagt. Während der nächsten zwei Jahrzehnte lag sie zwischen zwei Grenzzäunen. Grenzsoldaten nutzten sie als Unterstand. Bald, an Fronleichnam, wird die nächste Prozession hier hochführen.


Jetzt muss ich erst mal hoch, noch höher. Mit mir steigen Männer mit überdimensionalen "Rucksäcken" den Waldweg hoch, der später in einen schmalen Pfad einmündet. Ich lass mir sagen, dass diese "Rucksäcke" im Schnitt 25 kg schwer sind und die Jungs schnaufen genauso wie ich. Allesamt sind sie Paraglider, die zu ihrem Startplatz auf dem Gobert unterwegs sind. Bei diesem Sport hat der liebe Gott wirklich den vergossenen Schweiß vor den Spaß gesetzt. Nur zu den wenigsten Paragliding-Startplätzen kann man mit dem Auto oder mit einer Bergbahn anfahren, meist muss man für sein Vergnügen noch steigen, steigen, steigen ...


Als die Paraglider und der Wanderer oben schweißtropfend ankommen, ist die Wiese hinter der Startrampe schon voll mit ausliegenden Paraglides und den dazugehörigen Männern und Frauen in angelegter Ausrüstung. Alle schauen sie gebannt auf die wenige Meter hangabwärts an kleinen Stangen angebrachten weißen Stoffstreifen, die ihnen zeigen, woher und wie stark der Wind weht. Er weht zunächst kaum. Alle warten, man berät sich, hilft sich gegenseitig, fachsimpelt. Dann wird der Wind stärker, kommt als Aufwind - und die ersten reißen ihre Schirme hoch, laufen an und stürzen sich in die Tiefe. Der Rest wartet ab, beobachtet diejenigen, die unterwegs sind. Die nächsten springen, einer nach dem anderen. Irgendwann kreisen etwa zehn Ikarüsse am Himmel und ziehen ihre Bahnen. Eine halbe Stunde sitze ich auf der Wiese und bestaune das ganze Spiel, dann zwinge ich mich zum Weitermarsch. 


Der Startplatz hat einen großen Vorteil: höher geht es hier nicht. Direkt hinter der Wiese komme ich auf den Kolonnenweg und jetzt geht es wieder kilometerweit und nur leicht geschwungen über eine Hochfläche, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Abbruchkante des Goberts zur Werra hinunter. Direkt an der Abbruchkante entlang verlief mal wieder der Grenzstreifen, jetzt ist es ein breites grünes Band, das über einen weiten Abschnitt durch Ziegenbeweidung vor der Verbuschung bewahrt und so gepflegt wird. Heute sind es nicht nur die unzähligen Schmetterlinge, die Bussarde und Milane, ein Fuchs und ein Reh, die mir auffallen, sondern auch viele Menschen, die hier ihren Pfingstausflug absolvieren. Und trotz der Menschen ist es ruhig hier oben, kein Trubel.


So tappse ich dahin, den Kolonnenweg entlang, bevor es mit ihm bergab geht, auf Asbach zu. Asbach ist ein Straßendorf und lag zu DDR-Zeiten in seiner kompletten Länge unmittelbar entlang des Grenzzaunes. Die Hangseite jenseits des Baches war schon der "Goldene Westen". 


Ich stehe gerade noch geschwitzt und etwas erschöpft in meinem heutigen Quartier, da klingelt mein Handy. "Wagner!?" - "Krrrtschfff" - Es folgen einige Buchstaben von Worten, aus denen ich mir keinen Reim machen kann. Dann bricht der Kontakt ab. Selbiges wiederholt sich noch zwei Mal. Doch immer wieder nur: "Krrrtschfff - Buchstaben" - Ende! Wer will da was von mir??? Eventuell mein Kronprinz Daniel, der mir mitteilen möchte, dass gerade SEIN Kronprinz heute planmäßig zur Welt gekommen ist? Himmel nochmal, Sch... Empfang! Ein viertes Mal klingelt es - und ich höre eine klare Stimme! " Ein Scheiß Empfang hier in dem Dorf! Wo bist du?" - ????????????? - Jetzt erkenne ich die Stimme: Volker, der Mann meiner ältesten Nichte Heike. -"Wie jetzt? Was heißt 'Wo bist du'?" - "Ja, ich bin hier an der einzigen Bushaltestelle in diesem Kaff und habe einen Scheiß Empfang! Wo bist du?" - Mir dämmert es: "Moment mal, willst du mir sagen, Ihr seid in Asbach?" - "Na klar Mensch! Wo bist du???" Jetzt wird doch der Hund in der Pfanne verrückt, da kommen die hierhin nach ... Ich bin sprachlos. Da kommt die Truppe mit ihrem Wohnmobil hier angerauscht und will den alten Onkel überraschen. Also die Überraschung ist ihnen gelungen! 


Drei Minute später stehen sie vor dem alten Pastorenhaus neben der kleinen Kirche, da, wo ich bei Mike Mäder wohne. Großes Hallo, blöde Fragen von mir, Erklärungen von ihnen. Nach einer Viertelstunde Begrüßungsfreude auf den Treppenstufen vor der Haustür, verabreden wir uns für in etwa einer Stunde im Gasthaus "Zur alten Schmiede", unten im Dorf. Vorher muss ich noch duschen, ein paar Klamotten waschen, ich mag mich selbst nicht mehr riechen. Wenn ich jetzt nicht wasche, sind die Sachen bis morgen früh nicht trocken. 


Gesagt - getan! Ungefähr zur vereinbarten Zeit treffe ich Heike, Volker und die Jungs Mats, Ole und Nils im Biergarten wieder. Es wird ein schöner Abend, mit viel Fröhlichkeit und Gelächter. Ihr Wohnmobil steht bei Sickenberg, am Grenzmuseum Schifflersgrund, auf einem Stellplatz. Bis dahin müssen sie heute Abend noch ca. drei Kilometer zurückwandern. Da mich mein Weg morgen sowieso an Sickenberg und dem Grenzmuseum vorbeibringt, verabreden wir uns dort für gegen 9.30 Uhr. Gemeinsam wollen wir uns dann das Freilandmuseum ansehen. Aber vorher gibt es für mich noch einen Kaffee im Wohnmobil!


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Kommentare: 1
  • #1

    Der kronprinz (Dienstag, 26 Mai 2015 17:21)

    Also Diederichs sind doch immer wieder für Überraschungen gut...!