Wespen im Kuhstall

Asbach - Bornhagen (18 km)


Bei Mike Meder werde ich noch ein zweites Mal schlafen. In Bornhagen, meinem heutigen Tagesziel, gibt es zwar eine schöne Übernachtungsmöglichkeit im Klausenhof, aber nicht für mich. Das Haus ist voll belegt. Glücklicherweise! Bei Mike in Asbach bin ich gut aufgehoben, der Preis ist mehr als günstig und er und sein Bruder machen für mich auch noch die Taxifahrer. Mike holt mich heute Nachmittag, nach Anruf von mir, aus Bornhagen ab, sein Bruder Walter fährt mich morgen früh auf seinem Weg zur Arbeit nach Bornhagen zurück, damit ich dort meinen Weg wieder aufnehmen kann. Die schlechte Alternative wäre für beide Fahrten ein Taxi gewesen. Aber so ..., alles bestens! Irgendwie fügt sich oft alles.


Heute Morgen kann ich etwas länger schlafen. Mein Frühstück nehme ich im Zimmer zu mir. Bei Mike gibt es kein Frühstück, aber der Wirt vom Gasthaus "Zur alten Schmiede", Andreas, auf dessen Vermittlung ich ja bei Mike gelandet bin, hat mir gestern noch zwei belegte Scheiben Brot mitgegeben. Mike hat mir einen Wasserkocher und eine Tasse aufs Zimmer gestellt, Cappuccino in der Tüte führe ich mit. Also bin ich bestens und vor allem ausreichend versorgt.


Um kurz vor 8.30 Uhr mache ich mich auf den Weg, schließlich bin ich für spätestens eine Stunde später zum Kaffee im Wohnwagen verabredet. Mein Wheelie ist wieder im Zimmer geparkt und freut sich, dass er seine Räder wiedermal stillhalten kann. Ich freue mich, dass ich ihn heute nicht mitnehmen muss, denn im zweiten Teil des Tages steht ein saftiger Aufstieg bevor, der mir schon solo viel Freude bereiten wird. So geht es flott voran und schon bald durchquere ich den schönen kleinen Ort Sickenberg. So klein Sickenberg und auch Asbach auch sind, so haben sie doch auch Grenzgeschichte geschrieben.


Asbach und Sickenberg gehörten ursprünglich zu Hessen. Als die Amerikaner 1945 jedoch feststellten, dass ein Abschnitt der Bahnlinie Bebra - Göttingen durch Thüringen verlief, verhandelten sie mit den Sowjets im September 1945 in Wanfried, einem nahegelegenen hessischen Ort im Werratal, über eine Grenzkorrektur. Damit sie die Bahnlinie weiterhin störungsfrei betreiben konnten, wurden zwei thüringische Dörfer der amerikanischen Besatzungszone zugeschlagen. Im Tausch erhielt die sowjetisch besetzte Zone Asbach, Sickenberg und noch drei andere Dörfer in der Nähe. Da die Mythe besagt, das auf einem Stück Papier formulierte "Wanfrieder Abkommen" sei durch den Austausch landesüblicher Getränke besiegelt worden, wurde die Bahnlinie in der Folge volksmündlich die "Whiskey-Wodka-Linie" genannt. Den Bewohnern der vom Gebietstausch betroffenen Orte musste die neue Zuordnung zu den neuen Deutschlands zufällig und willkürlich erscheinen, und was das letzlich bedeuten sollte, wurde erst später klar.


Als ich mich dem "Grenzmuseum Schifflersgrund" nähere, sehe ich schon das Wohnmobil meiner lieben Verwandtschaft auf dem dortigen Stellplatz stehen. Mats hat mich auch bereits entdeckt und kommt mir entgegengelaufen. Die Mannschaft ist auf und gesund und der Kaffee fertig und servierfähig. Ich trinke ihn im Inneren des Wohnmobils, nicht weil es dort wärmer ist als draußen, sondern angenehm kühler. Die Morgenfrische ist vorbei und es wird zunehmend wärmer, drückender. Pünktlich zum Beginn der Öffnungszeit um 10 Uhr stehen wir allesamt an der Kasse.


Ist es normal, wochenlang die deutsch-deutsche Narbe entlangzuwandern und somit zwangsläufig Spezialist für Grenzmuseen zu werden? Das hiesige heutige, um einen Originalwachturm herum auf einer Anhöhe über dem Schifflersgrund errichtet, ist eines der ganz frühen, der sehr schnell gegründeten. Vor allem als Touristenmagnet, denn die Grenzgucker blieben nach der Wende ja plötzlich weg. Dokumente, Fotos, Videos, Schaufensterpuppen mit Uniformen, Hubschrauber, Panzer, Grenzfahrzeuge. Vieles, was es in anderen Grenzmuseen auch schon gab, aber üppiger, noch umfangreicher. Erwachsene gehen ruhig an den vollgehängten Wänden und Stellwänden vorbei, lesen intensiv oder flüchtig, manchmal mit offensichtlichem Erstaunen oder mit Kopfschütteln, während die Kinder einzelne Fahrzeuge oder sogar einen Helikopter entern und dieses Abenteuerland hier prima finden. Nils, Ole und Mats sind sehr interessiert und aufmerksam, stellen Fragen. Warum ...? Warum ...? Warum ...? Ich kann viele Fragen beantworten, habe unterwegs ja schon viel "gelernt". Wenn der Onkel das erzählt, ist das vielleicht sogar interessanter, wird eher behalten. Sonst müsste man ja alles lesen. Und das hält auf.


Aber die Anlage besitzt einen Punkt, an dem man das ganze Grenzmuseum im Rücken hat und ins Tal, in den Schifflersgrund, hinabschaut. Auf ein Stück schwarz gerosteten Zaun, auf einen geeggten Streifen Erde, auf den Kolonnenweg daneben, kurvig, nach hinten weg in einer Kurve verschwindend. Auf der anderen Seite des Zaunes, wo es steil den Hang hinaufgeht und immer noch ein weites Feld üppig wachsendes Grün vor Westdeutschland lag, steht ein einfaches Kreuz aus Birkenholz. Zum Gedenken an den Baumaschinisten und Traktorfahrer Heinz-Josef Große. Mein Gastgeber Mike Meder hat als Kind bei ihm auf dem Schoß gesessen und Große hat für seinen Vater, kurz nachdem dieser für sich und seine Familie das alte Pastorenhaus gekauft hatte, in einer Art Nachbarschaftshilfe die Klärgrube ausgeschachtet, dort, wo jetzt Mikes alter Trabbi steht. Große hatte über Jahre immer wieder als Zivilist im Grenzstreifen gearbeitet. Er galt als zuverlässiger Staatsbürger, wurde zwar stets bewacht, aber gelegentlich nicht so streng wie andere. Am 29. März 1982 baggerte er einen Graben aus, in dem Kabel zu dem neu errichteten Beobachtungsturm verlegt werden sollten. Als ihn seine beiden Bewacher am Nachmittag kurz alleine ließen, um ein Stück Patrouille zu gehen, fuhr er mit seinem Vorderlader zum Grenzzaun, legte die Ladeschaufel auf einem Pfosten vorsichtig ab, kletterte auf die Schaufel - und machte dann einen dramatischen Fehler. Er drehte um, kletterte in sein Führerhaus zurück, um seinen dort vergessen Geldbeutel mit Geld zu holen. Ohne etwas Geld wollte er nicht in den Westen. Als er dabei war, die Ladeschaufel erneut zu erklimmen, kehrten die beiden Grenzer zurück, erkannten die Situation, riefen ihn an. Große erreichte die Schaufel und sprang über den Zaun, mehr als drei Meter tief. Er glaubte sich damit im Westen, kletterte den Hang hoch. Dort trafen ihn neun Schüsse in den Rücken. Die wahre Grenzlinie lag erst etwa zehn Meter weiter, oben an der Straße. Große verblutete.


Nach zwei Stunden Grenzmuseum Abschied von Wagner-Diederichs. Danke für euren Besuch aus der "Westzone", Ihr habt mir damit eine große Freude gemacht! Nehmt ein wenig von dem mit, was Ihr hier gesehen habt, und freut euch, dass Ihr, solange es euch gibt, in Freiheit leben dürft.


Jetzt aber zügig weiter! Mit Mike habe ich morgens verabredet, dass ich mich so zwischen 15 und 16 Uhr melde, um den "Trabbi-Taxi-Dienst" anzufordern. Ich muss mich sputen, sonst wird es eng mit der Zeit. Steil geht es auf dem Kolonnenweg durch den Schifflersgrund und anschließend zur Werra hinab. Unten strampeln sich auf einem Radweg die Pfingstradfahrer die Seele aus dem Leib, jedenfalls sind entschieden mehr Fahrradfahrer unterwegs als Autos. 


Ich komme nach Wahlhausen, ein weiterer Ort mit einer kuriosen Grenzgeschichte: März 1989: DDR-Bürger hatten sich in die Botschaften in Budapest und Prag geflüchtet, um ihre Ausreise zu erzwingen. An der Grenze von Ungarn nach Österreich war man dabei, den Grenzzaun zu demontieren. Die DDR brauchte dringend "Stoff" für die Medien, um von diesen Geschehnissen abzulenken. Der DDR-Nachrichtendienst meldete einen Angriff auf die DDR. Von Bad Sooden-Allendorf aus, der Kurstadt gegenüber auf der hessischen Seite der Werra, seien Schüsse auf Wahlhausen abgefeuert worden. An der Werra gegenüber Wahlhausen fand man tatsächlich 20 Patronenhülsen, an einem Wohnhaus Einschusslöcher. Die Familie des Hauses wurde im Fernsehen der DDR vorgeführt und beschwerte sich bitterlich über den Klassenfeind. Karl-Eduard von Schnitzler, der Chefkommentator, geiferte im "Schwarzen Kanal" des DDR-Fernsehens. Verängstigte Bürger wurden vorgestellt. Mike Meder erzählt mir später, dass das Ehepaar des "betroffenen" Hauses unmittelbar darauf einen neuen Trabbi vor der Tür stehen hatte. "Das war doch eine abgekartete Sache! Unsere haben doch selbst geschossen!" Fest steht, die Stasi hat diesbezüglich, so gut sie konnte, ihre Unterlagen vernichtet. Bald sprach kein Mensch mehr davon. Nur viele Wahlhausener und andere Menschen aus den benachbarten Orten dachten sich ihren Teil.


Auf der kaum befahrenen kleinen Landstraße gehe ich strammen Schrittes weiter bis Lindewerra. Hier beginnt meine "Bergetappe" der Kategorie 3, was soviel heißt wie: sausteil! Doch ich habe ja meinen Wheelie nicht dabei, wird also wohl nur halb so schlimm. Doch vorher muss ich was essen. In der Ortsmitte fällt mir beim "Werrakrug" ein aufgestelltes Schild in den Blick: "Erbseneintopf mit Würstchen". Das will ich, möglichst sofort! Dazu einen Kaffee! Als beides mir vorgesetzt wird, kommt die Lachnummer des Augenblicks: Bevor ich die kleine Zuckertüte aufreiße, lese ich die aufgedruckte Werbung. Genauer gesagt, ich schaue auf ein Foto: Ein alter Bauer mit Deutschlandfahne über der Schulter - Sprechblase: "Im Fußball sind wir die BESTEN!" Daneben die alte Bäuerin mit dümmlichem Gesicht - Sprechblase: "Waaas? Im Kuhstall sind wieder WESPEN???" Untertitel: "Guter Fußball macht einen guten Eindruck. Gutes Hören auch. Wir beraten Sie gerne!" Ein Hörgeräteakustiker lässt grüßen! Ich könnte mich wegschmeißen!


Gut gestärkt und kolossal aufgeheitert nehme ich den Aufstieg zur Teufelskanzel in Angriff. Der ist richtig gut! Wheelie soll froh sein, dass er sich das nicht antun muss. Ein Hohlweg mit tiefem, altem Laub, Baumwurzeln, Steinblöcke, volles Programm. Aber zu leisten. Nach einer Dreiviertelstunde bin ich oben auf dem Aussichtspunkt an der Teufelskanzel, einem leicht überhängenden Sandstein-Monolithen, der mir für Minuten einen wunderbaren Ausblick auf die große Werraschleife bei Lindewerra eröffnet. Ein Motiv, das seit über hundert Jahren Postkarten schmückt. Direkt hinter der Kanzel versteckt sich ein Ausflugsrestaurant mit Biergarten unter den Bäumen. Der Biergarten ist voll. Hinauf gewandert sind garantiert nur ein paar von denen, die sich da jetzt gerade den Bauch mit Essen und/oder Getränken vollschlagen. Der Parkplatz steht voller Autos.


Jetzt geht es auf einem ebenen Waldweg weiter, immer an der Felskante des Berges entlang. Dann lichtet sich der Wald. Vor mir kommt die Burg Hanstein ins Bild, am Fuß des Burgbergs der kleine Ort Bornhagen, mein Ziel. Ich zücke mein Handy, gebe Mike Bescheid, dass er mich abholen kann und sitze eine halbe Stunde später in seinem Trabbi. Der fährt sogar, mit saftigem Motorgeräusch, richtig schnittig um die Kurven!


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Kommentare: 2
  • #1

    Lore (Dienstag, 26 Mai 2015 09:02)

    Ich bin auch schon Trabi (mit)gefahren als ich 15 war.
    Es gibt bestimmt auch ein Foto von der Hörgeräteakustiker-Werbung, oder? Genial!

  • #2

    Der kronprinz (Mittwoch, 27 Mai 2015 09:26)

    Auf dem Foto sehen die Diederichs ja fast aus wie ne Band.