Traditionspflege

Bornhagen - Rohrberg (16 km)


Um 5.15 Uhr aufzustehen ist relativ früh. Hilft aber nix! Mikes Bruder Walter muss um 6 Uhr losfahren, um nach dem Transferservice für mich nach Bornhagen noch früh genug an seiner Arbeitsstelle in Heiligenstadt zu sein. Ich kann ja schon von großem Glück sagen, dass er überhaupt so nett ist, mich mitzunehmen und ich mir damit teure Taxikosten spare. Als ich mit dem Wheelie die breite Holztreppe im Pastorenhaus herunterpoltere, steht Walter schon an seinem Wagen und macht gerade den Kofferraum auf. Also rein mit meinem Plunder und ab damit!


Walter fängt im Wagen selbst davon an, ich hätte es vielleicht nicht getan, wollte keine noch vorhandenen psychischen Wunden aufreißen. "Mike hat dir gesagt, dass ich zur DDR-Zeit mal im Knast gesessen habe? Als 'Politischer'?" Mike hatte es angedeudet. "Wenn er will, soll er es dir selbst erzählen. Er ist da manchmal noch etwas komisch." Da beide inzwischen wohl gemerkt haben, dass ich mir gerne Erzählungen von Zeitzeugen anhöre, legt Walter auch gleich los: "17 Jahre war ich alt. Mit Kumpels hatte ich ein paar Bier getrunken, wohl auch ein paar zuviel. Jedenfalls bin ich zum Grenzstreifen runter, habe da die Grenzstreifen provoziert, rumgetönt: 'Ich haue ab!' und so weiter. Der Mannschaftsdienstgrad von den beiden Grenzern ranzte mich nur an: 'Komm, geh nach Hause!' Der Offizier nahm mich sofort fest. 


Bei der Vernehmung schien mir immer eine 200 Watt-Lampe ins Gesicht, außerdem wurde ich auch immer mal geschlagen. Ich sollte zugeben, dass ich Republikflucht begehèn wollte. Wenn ich es zugäbe, könnte ich nach Hause, ich sei ja noch keine 18. Kindskopf wie ich war, habe ich darauf vertraut und gesagt, was sie hören wollten. Außerdem wollte ich keine Schläge mehr. Damit hatten sie mich. Ich kam sofort nach Gotha in Untersuchungshaft, und wurde, sobald ich 18 war, in Heiligenstadt vor Gericht gestellt. Zu eineinhalb Jahren Knast haben die mich verurteilt und ich durfte anschließend 10 Jahre nicht mehr nach Hause in die Schutzzone, nicht mehr meine Eltern und meine Brüder sehen. In Halle habe ich dann eingesessen, erst alleine in einer Zelle, dann mit anderen Kriminellen in einer Gruppenzelle. Jeden Tag wurden wir zum Arbeiten zu den Buna-Werken gefahren, in diese "Giftküche". Zwölf Stunden am Tag mussten wir dort schuften. Ein Mann da in dem Werk war auf mich angesetzt, ich wusste nur nicht wer. Ein falsches Wort von mir und ich hätte noch mehr bekommen. Nach dem Knast haben sie mir eine Bude ca. 10 km entfernt von Asbach gegeben, außerhalb des Schutzstreifens. Dann musste ich sehen, wie ich klar kam.Heute beziehe ich Frühopferrente." Ich frage, wie das nach der Wende war, ob in Asbach jeder jedem in die Augen sehen konnte. "Da wollte es doch keiner gewesen sein. Es war sicher, dass es im Dorf Stasi-Spitzel gab. Aber wir hörten immer nur: 'Na ich doch nicht!' Es war interessant zu sehen, wie schon sehr bald nach der Wende die früher gradlinigsten Genossen plötzlich mit einem neuen Gesangbuch sonntags vor der Kirchentür standen. Nie gab es ein Wort der Entschuldigung oder gar der Reue. 'Wendehälse' hatten Hochkonjunktur."


Dieses Gespräch mit Walter im Auto hat mich bedrückt und als ich mich von ihm in Bornhagen am Klausenhof verabschiede, beschäftigt es mich auf dem Weg noch eine zeitlang weiter. 


Um 6.30 Uhr bin ich auf der Strecke, so früh wie noch nie auf dem Grünen Band. Die Konsequenz wird nur sein, dass ich viel zu früh an meinem geplanten Tagesziel Rohrberg sein werde. Der Bus von dort nach Heiligenstadt fährt erst um 13.35 Uhr. Ich habe also für eine kurze Strecke endlos viel Zeit. Richtig gelesen, ich muss wiedermal mit einem Bus fahren. Die Unterkunftsfrage gestaltet sich hier in diesem Gebiet für mich etwas schwierig, daher muss ich auf Heiligenstadt zurückgreifen, das ganz schön weit ab vom Grünen Band liegt. Heiligenstadts Mauern liegen im Süden des Grünen Bandes, welches dann aber Richtung Norden abschwenkt. Das heißt konkret: Nachher mit dem Bus von Rohrberg nach Heiligenstadt, morgen früh mit dem Bus zurück nach Rohrberg und Wanderung bis Siemerode, von Siemerode wieder mit dem Bus nach Heiligenstadt und übermorgen zurück nach Siemerode und weiter Richtung Norden. Ich weiß jetzt nicht, ob das so verständlich war. Ist auch egal, jedenfalls habe ich heute viiiiiel Zeit.


Es ist wirklich noch sehr früh. Kein Mensch ist in Bornhagen auf der Straße und auch anschließend zwischen den Feldern von Hohengandern sind noch nichtmal Vögel zu hören. Oder liegt es an den schweren, dunklen Wolken, die mit schnellem Tempo über das Land ziehen und mit Regen drohen? Haben die Vögel sich schon in Sicherheit gebracht? Erst als ich in die Ortsmitte von Hohengandern komme, höre ich Kinderstimmen. An der Bushaltestelle stehen sie, etwa zehn im Grundschulalter. Sie lärmen herum, scheinen aufgeregt. "Halloooo!" ruft mir ein Knirps entgegen. Andere fallen freundlich mit ein: "Hallooo!" Ich freue mich über diese nette Begrüßung durch die Kinder und will etwas Anteilnahme rüberbringen: "Na, müsst Ihr Ärmsten in die Schule?" - "Nee, heute nicht!" jubelt mir der anscheinend älteste von ihnen entgegen. "Wir haben heute Wandertag! Wie du!" Alle müssen wir lachen. "Tschühüüüs!" rufen sie hinter mir her.


Nicht weit entfernt ist ein Garten mit Memorabilien von der ehemaligen Grenze geschmückt. In einem kleinen Beet steht das Schild "Schutzstreifen - Betreten und Befahren verboten!" Zwei Meter weiter ragt eine schwarz-rot-goldene Grenzsäule aus dem Boden, gleich daneben ein DDR-Grenzmarkierungsstein, auf dem ein Blumentopf steht. 


Zwischen Hohengandern und Kirchgandern komme ich bei einem kleinen Industriegelände an einer ehemaligen Grenzerkaserne vorbei. Am Straßenrand wird sie mit einem Schild als Pension beworben, im Obergeschoss hängt an einigen Fenstern die Leuchtschrift "Club Swing" Alles klar, so kann man es auch machen. Und wenn ich mir da jetzt telefonisch ein Zimmer genommen hätte? Ob die mir gesagt hätten, worauf ich mich einlasse? Mal sehen, was noch so kommt ...


In Kirchgandern mache ich meine erst Rast mitten im Dorf bei einer Sitzgruppe. Inzwischen sehe ich auch die ersten Erwachsenen. Eine Frau stellt Gelbe Säcke an den Straßenrand, ein alter Mann hackt in seinem Vorgarten Unkraut und eine junge Frau quält sich mit ihren Stöckelschuhen über das grobe Kopfsteinpflaster der Straße zur Bushaltestelle. Die Straße links von mir hoch muss es zur ehemaligen Demarkationslinie gehen, viel mehr als 500 m dürften es nicht sein. Dort war die Grenze zwischen der sowjetischen und der britischen Besatzungszone, später zwischen der DDR und der BRD, heute zwischen Thüringen und Niedersachsen. Jawohl, damit habe ich jetzt auch Hessen hinter und Niedersachsen für die nächste Zeit vor bzw. neben mir. Bundesland Nummer fünf für mich. 


Dieser Grenzübergang war aber ein besonderer. Es ist das ehemalige "Tor der Freiheit". An dieser Stelle überquerten jahrzehntelang Menschen mit großen Hoffnungen die Grenze zwischen den Zonen und wurden von einer heute noch dort stehenden kleinen Baracke aus in das nahegelegene Durchgangslager Friedland weitergeleitet. Das kleine Dorf Friedland, etwa fünf Kilometer von Kirchgandern entfernt, war an einer gut ausgebauten Straße gelegen und hatte einen kleinen Bahnhof, der der letzte war in der britischen Besatzungszone vor der Grenze zur SBZ. Ein landwirtschaftlicher Versuchshof der Uni Göttingen hatte Stäĺle frei. Die Ställe wurden Wellblechhütten, Baracken, Wohncontainer. Nach den Evakuierten, den Flüchtlingen und den Vertriebenen des II. Weltkrieges kamen die Heimkehrer aus der russischen Gefangenschaft. Es kamen Boatpeople, Asylsuchende und Spätaussiedler. Bis heute wurden über vier Millionen Menschen durch das Lager Friedland offiziell nach Deutschland eingeschleust.


Ich gehe weiter einen Kreuzweg hinauf. Nicht sehr anstrengend zieht er den Heidkopf hoch bis zur kleinen Magdalenenkapelle mitten im Wald, unmittelbar am alten Grenzstreifen. 1850 wütete in den Nachbardörfern von Kirchgandern die Cholera und forderte viele Tote. Aus Dankbarkeit, weil Kirchgandern verschont wurde, machte der damalige Pfarrer mit der Gemeinde das Gelübde, einen Stationsweg und eine Kapelle im Freien zu bauen. Bereits 1852 wurde beides eingeweiht. Schon bald darauf fanden erste Wallfahrten statt. 1952 fand das ein jähes Ende. Das Grenzgebiet wurde festgelegt und Kirchgandern und der Kreuzweg lagen im verbotenen Gebiet. Auf genau 500 m entsprach der Weg exakt dem Grenzverlauf, Kreuzwegstationen standen unmittelbar hinter dem Grenzzaun. Nach dem Fall des Zaunes bot sich den Kirchgandern ein Bild der Zerstörung. Kreuzweg samt Kapelle waren verwüstet. Trotzdem entschloss man sich zum Wiederaufbau. 1991 wurde die Kapelle im Wald wieder eingeweiht, der Stationenweg fünf Jahre später. 


Kaum 100 m nach der Kapelle treffe ich auf den Kolonnenweg, genau an der Stelle, wo sich nach dem Mauerfall der Zaun für die Menschen von Reiffenhausen (Niedersachsen) und Rustenhausen (Thüringen) öffnete. Noch heute feiern beide Orte diesen Tag gemeinsam.


Rustehausen habe ich schnell erreicht und auch schnell durchschritten, aber am letzten Haus muss ich anhalten. Ein Mann kommt zu mir an den Gartenzaun und fragt mich aus. Die üblichen Fragen halt. Als er mitbekommt, dass ich auch in Asbach übernachtet habe, fragt er sofort nach: "Bei wem?" Als er von mir den Namen Mike Meder hört, ist er ganz aus dem Häuschen. "Mensch, der Mike! Wie geht's dem denn? Mensch, die Welt ist klein! Jahrelang habe ich von dem nichts gehört, und jetzt erzählen Sie mir von ihm. Was für ein Zufall! Mit Mike habe ich doch lange Zeit zusammen gearbeitet. " Als ich dann noch Walter erwähne, ist es ganz vorbei. "Also die beiden rufe ich heute Abend an und sage denen, dass wir uns hier getroffen haben." Ich bitte, meine Grüße weiterzuleiten und gehe weiter. 


Eine halbe Stunde später bin ich in Rohrberg, genau zwei Stunden bevor mein Bus fährt. Tja, das sind exakt die zwei Stunden, die ich heute Morgen auch früher als normal von Bornhagen aus losgelaufen bin. Was soll's!? Ich setze mich auf die Haltestellenbank, lese, esse, trinke, lasse mal kurz im seeligen Schlaf meinen Kopf kreisen, werde durch einzelne Regentropfen geweckt, lese wieder usw. Die Zeit vergeht schneller als ich dachte, der Bus ist pünktlich, der Busfahrer will nicht nur das Fahrgeld für mich, sondern auch den halben Preis für meinen Wheelie. "Ist schließlich sowas wie ein Fahrrad!" Dem kann ich nicht ganz widersprechen, obwohl ich nicht weiß, für was dann die anderen Busfahrer meinen Begleitwagen gehalten haben. Für einen Schoßhund?


Nach einer halben Stunde Fahrt bin ich in Heiligenstadt am ZOB. Aber noch lange nicht in meiner Unterkunft. Dazu muss ich einmal quer durch die Stadt. Nicht schlimm, dann habe ich den Stadtrundgang schon mal erledigt. Mein Zimmer bei Frau Herwig liegt im ältesten Stadtteil von Heiligenstadt, in Heimenstein. Und in Heimenstein ist am Pfingstwochenende immer Kirmes. Eines der ältesten Kirchweihfeste Nordthüringens bzw. des Eichsfelds. Höhepunkt ist immer der traditionelle Kirmesumzug am Pfingstmontag, den man in etwa mit den Karnevalsumzügen im Rheinland vergleichen kann. Ein paar Tausend Zuschauer säumen dann die mit Eiergirlanden (auch Tradition), Fahnen und Birkengrün geschmückten Gassen und langen anschließend im Festzelt auf dem großen Festplatz ordentlich zu. Und dieser Festplatz grenzt unmittelbar an meine Unterkunft. Frau Herwig hatte mich schon bei der Buchung vorgewarnt: "Vielleicht finden Sie keinen Schlaf. Die grölen rum bis nachts um vier!" 


Heute Morgen war auf dem Festplatz der abschließende traditionelle Frühschoppen, der aber bis zu meiner Ankunft im Zimmer nebenan anhält."Griechischer Wein" schallt zu mir durchs offene Fenster, aber nicht in Gestalt von Udo Jürgens' Tonträgerstimme, sondern von einer Dicke-Backen-Kapelle im Wettstreit mit dörflichen Edelbarden nach dem dreißigsten Bier. Ich schließe das Fenster, ziehe mich für ein Stündchen ins Bett zurück, denn die letzte Nacht war kurz, und stopfe mir Ohropax in die Ohren. Wo ist hier Lärm, Frau Herwig? Ich schlafe wie ein Brett.


Nach meinem Nickerchen packt mich der Hunger. Mir steht der Sinn nach einer Currywurst vom Festplatz und ich gehe rüber. Offiziell soll gleich um 18 Uhr Schluss sein, aber mindestens 200 Menschen sind noch da - wenn auch nicht mehr so richtig. An oder in der Nähe zur Theke stehen etwa 50 Männer, die sich wohl alle miteinander seit etwa 10 Uhr morgens an hefehaltiger Flüssignahrung festhalten. Sie werden morgen früh große Schwierigkeiten haben, wenn sie versuchen sollten zu rekonstruieren, wie viele Alkoholeinheiten sie in den vergangenen Stunden durch ihre Leber gepumpt haben. Die meisten schwanken bedenklich wie die Fahnen im Wind, haben eine tiefrote Gesichtsfarbe und permanent halbgeschlossene Augenlider. Sie stehen sich grundsätzlich zu nah gegenüber, drücken auch schonmal liebevoll ihre Stirnen gegeneinander und küssen sich auf dieselben. Irgendwo singt einer immer, auch wenn die Kapelle mal nicht spielt. Kränze mit Bier machen die Runde, alle greifen eigentlich nur noch mechanisch zu, bezahlen tut keiner. Hinten bei der Kapelle ist es nicht viel anders, nur dort sieht man auch Frauen, allerdings meist mit Sektgläsern in der Hand. Eine von ihnen versucht noch, ihren Mann mit rhythmischen Bewegungen über die Tanzfläche zu schieben. Es soll wohl ein Tanz sein, sieht aber für den nüchternen Beobachter mehr nach einem Ringkampf aus. Es wird hier sich gedrückt, dort sich geküsst, der Alkohol macht alle zu einer großen, glücklichen Familie. Das ist dann Traditionspflege.


Ich esse meine Currywurst und verlasse den Festplatz, schlendere noch ein wenig durch Heiligenstadts Gassen und gehe dann wieder zurück auf mein Zimmer. Vom Festplatzlärm ist bereits am frühen Abend nichts mehr zu hören. Kopp voll - Flasche leer!


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Kommentare: 1
  • #1

    Der kronprinz (Mittwoch, 27 Mai 2015)

    Also diese oropax hättest du damals bei deinem täglich Mittagsschläfchen schon gut gebrauchen können, wenn wir im Wohnzimmer gezobt haben...