Kreislauf

Rohrberg - Siemerod (10 km)


Was schreibt man an einem Tag, von dem es nicht viel zu schreiben gibt?Nicht viel! Zunächst mal ist erwähnenswert, dass ich bis sage und schreibe 8 Uhr geschlafen habe. Da war ich gestern schon eineinhalb Stunden unterwegs. Frühstücken bis 9 Uhr, rumgammeln bis 10 Uhr, da war ich gestern schon dreieinhalb Stunden unterwegs. Mit dem Stadtbus runter zum ZOB am Bahnhof, Fahrt mit der Buslinie 16 nach Rohrberg, dort aussteigen, wo ich gestern an der Haltestelle eingeschlafen bin ..., meine ersten Wanderschritte des heutigen Tages setze ich zu einer Zeit, zu der ich normalerweise fast meine Mittagsrast mache. 


Aber es ist eben so. Kurze Wandertage haben ohne weiteres ihre sehr schönen Seiten. Immer wieder sich sagen können: Keine Eile, du hast viel Zeit! Bleib mal stehen, sieh dich um! Schließe die Augen, höre dich um! Halte die Nase in den Wind! Beobachte ganz genau die Lerche, die über dem Kornfeld auf der Stelle flattert, den Milan oder den Bussard, wie sie sich, die Thermik ausnutzend, in die Höhe schrauben, den dicken Käfer, der über den Weg hastet oder die Autos, die weit hinten auf einer Straße rasen, ohne dass davon irgendetwas zu hören ist. Ein Spaziergang wird es, vielleicht zehn Kilometer, nur bis Siemerode, von wo es morgen Richtung Duderstadt weitergeht. Übernachtet wird aber nochmal in Heiligenstadt. 


In Rohrberg herrscht wieder tote Hose, nichts, aber auch gar nichts regt sich. Arbeiten alle auswärts? Keine Mama, die ihr Kind mit dem Kinderwagen spazieren führt? Keine Oma mit ihrem Hund auf dem Gassigang, kein Opa, der im Garten arbeitet? Keine fünf Minuten nachdem ich den Bus verlassen habe, bin ich auch schon aus dem Dorf raus. Dann dringt Traktorengeräusch an meine Ohren. Also doch Menschen bei der Arbeit. Hinter der nächsten Straßenbiegung fahren gleich drei Maschinen auf einer riesigen Grünfläche. Ein Trecker schlägt gemähtes Gras auf Reihen, ein anderes Ungetüm von Maschine fährt die Reihen ab, scheint diese aufzusaugen, und befördert das Grün dann in hohem Bogen in den Hänger eines weiteren Treckers, der immer schön parallel fährt. Einige Bussarde schweben über der Szenerie und versprechen sich wohl nach der beendeten Mahd einen reich gedeckten Tisch. 


Einen Kilometer später stehe ich mal wieder an der alten Grenze, wo nur ein übergroßes Kreuz am Straßenrand an die Grenzöffnung erinnert. Meine Karte sagt ganz klar: "Hier musst du rechts ab und dem Kolonnenweg folgen." Der Kolonnenweg ist ganz einfach zu gehen, er ist nämlich gar nicht mehr da. Die Platten sind allesamt aufgehoben. Das wäre ja nun überhaupt nicht schlimm, wenn wenigstens irgendwelche Hinweise auf das Grüne Band zu sehen wären. Geschweige denn irgendeine Wegmarkierung. Eigentlich soll hier nun ein weiter Bogen von ein paar Kilometern entlang der ehemaligen Grenze am Rand von großen Ackerflächen beginnen. Erst entspricht der Wegverlauf auch sehr korrekt den Angaben auf meiner Karte - doch dann ist plötzlich der Weg weg. Ich stehe vor einem riesigen Kornfeld, müsste in Richtung Norden weiter, aber wie? Meine Mama hat früher immer zu mir gesagt: "Durch Kornfelder geht man nicht, dann zertrampelt man Brot!" Mach ich auch nicht! Nach rechts, in die entgegengesetzte Himmelsrichtung, zweigt ein Pfad ab. Muss ich halt den nehmen. Was bleibt mir übrig? Diesen Pfad kann ich aber auf meiner Karte nicht finden. Er mündet auf einen breiten Wirtschaftsweg ein. Rein gefühlsmäßig wende ich mich nach links, folge ihm eine Weile. Dann weit hinten offensichtlich eine Autobahn. OK, die sehe ich auf der Karte auch. Dann könnte der Ort, der da rechts erscheint, Freienhagen sein. Wäre in Ordnung, da muss ich sowieso hin. Dann wäre ich eben nur nicht diesen weiten Bogen an der Grenze entlang gelaufen. Wollte ich sowieso nur, damit der Wandertag überhaupt noch seinen Namen einigermaßen verdient. Doch die Sonne steht noch nicht richtig, die Himmelsrichtung stimmt nicht. Dann höre ich Treckermotorenlärm. Den habe ich vor ungefähr einer Stunde schon mal gehört. Mir dämmert's! Das ist die Silo-Ernte von vorhin! Fast ein Mal komplett im Kreis gegangen! Der Ort dort rechts ist nicht Freienhagen, sondern Rohrberg! Herzlichen Glückwunsch! Der Kandidat hat hundert Punkte! Plötzlich steht die Sonne auch wieder richtig und alles stimmt mit der Karte überein. Und wer ist schuld? Der Bauer, der die alte Grenze einfach mal eben untergeflügt hat. Und die Kartenherausgeber, die sich mit den Aktualisierungen ihrer Werke meist ganz schön Zeit lassen. Und die Zuständigen für die Wegmarkierungen, die den Grenzwanderer oft ganz schön vernachlässigen.


Auf einer kleinen Landstraße bin ich schnell in Freienhagen. Auch hier wäre wieder alles tot - noch nichtmal eine Katze zeigt sich - wenn nicht in dem Moment, wo ich eine kleine Rast in einem Buswartehäuschen mache, der Schulbus käme und zwei kleine Mädchen mit viel zu großen Ranzen ihm entstiegen. Auch von ihnen höre ich ein gemeinsames "Hallo!", auch wenn es wesentlich schüchterner, aber auch erschöpfter klingt, als von den Burschen gestern in Hohengandern. Freundliche Kinder im Eichsfeld! 


Am Ortsende dann, wie so oft: die alte, heruntergekommene Grenzkaserne, sogar noch mit einem ehemaligen Postenhäuschen jenseits des Tores. Die Asbestschieferplatten an den Außenwänden fallen nacheinander ab, eingeschlagene Fensterscheiben, teilweise mit Holzplatten wieder verschlossen, ein hoher Zaun drumherum, "Zutritt verboten! Eltern haften für ihre Kinder!" Hiermit hat man es (noch) nicht zum Seniorenheim oder zum Swinger-Club gebracht. Hinter der Kasernenanlage die Gebäude der ehemaligen LPG. Kurze Wege. Oft genug mussten die Mitarbeiter der Genossenschaften für die Grenzer Arbeiten an der Grenze leisten, ob ihnen das gefiel oder nicht.


Hinter Freienhagen geht es nochmal eine leichte Steigung hoch zum "Hohen Kreuz", einem nahezu baumlosen Hügel mit Panoramablick über weite Teile des Eichsfelds - und bis zum Harz! Das erste Mal sehe ich seine Konturen weit hinten am Horizont. Und die größte Erhebung dort im Dunst müsste der Brocken sein. In fünf Tagen bin ich da, oben auf dem höchsten Punkt meiner Tour durch die Mitte Deutschlands. 


Bis nach Siemerode sind es jetzt nur noch zwei Kilometer. Ich versuche immer mehr meinen Schritt zu bremsen, aber es will mir nicht so recht gelingen. Der Bus zurück nach Heiligenstadt fährt erst in gut einer Stunde. Auf eine geöffnete Gaststätte brauche ich auch nicht zu hoffen, daher reift in mir der Entschluss, es einfach mal wieder, wie früher, mit dem hochgehaltenen Daumen zu versuchen. Doch unnötig: Als ich die Bushaltestelle des Ortes erreiche, kommt just ein Bus an, dem ältere Schüler entsteigen und der dann seine Anzeige wechselt: "ZOB Heiligenstadt". Diesen Bus hatte ich bei meinen Recherchen am heimischen Computer wohl gar nicht auf dem Schirm, da ich nicht damit rechnete, schon so früh in Siemerode sein zu können. Aber um so besser. Eine halbe Stunde später bin ich in meinem Zimmer bei Frau Herwig.


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Kommentare: 1
  • #1

    Lore (Donnerstag, 28 Mai 2015 09:10)

    Natürlich ist es schwierig, sich zu orientieren, wenn die Himmelsrichtung geändert ist, die Sonne falsch steht, die Karte falsch ist, der Weg verschwunden ist und man so spät erst los geht.