Massenflucht

Siemerod - Gerblingerode (25 km)


Frau Herwig muss zu ihren Kühen, deshalb verabschiedet sie sich bereits von mir, als ich mich an den Frühstückstisch setze. "Seitdem mir die Viehcher gestern alle zusammen ausgebrochen sind, bin ich ein wenig nervös. Ich muss da jetzt erstmal nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Schöne Tage noch!" Sprach's, und weg ist sie.


Mit dem Stadtbus fahre ich wieder runter zum ZOB am Bahnhof und habe sofort Anschluss an den Bus 2 nach Siemerode. Ich sehe, wie der Fahrer bei meinem Einsteigen kurz zögert und nachdenkt, was er mir an Geld abknöpfen soll. Will der mir etwa auch - wie sein Kollege von Bus 16 (Rohrberg - Heiligenstadt) - meinen Wheelie als Fahrrad berechnen? Schnell sage ich: "Gestern habe ich bei ihrem Kollegen für die Strecke 1,90 € bezahlt." Und das ist nicht gelogen. Ich sage nur nicht, dass ich da den Wheelie nicht dabei hatte. Jedenfalls scheint das den Fahrer zu überzeugen und ich bezahle 1,90 €. 


Mit mir fährt eine jüngere Frau im Bus, die in Weißenborn wohnt, und wiedermal bricht mein Lastenesel das Eis. Sie ist die jüngste von vier Kindern. Die anderen sind nach der Wende alle innerhalb von zehn Jahren weg, fortgezogen in die großen Städte, sowohl im Westen wie auch im Osten. Für Erinnerungen an die Wende sei sie zu jung. Ihre älteren Geschwister hätten aber immer wieder die Geschichte erzählt, wie Ende 1989 die Städter aus Göttingen schon bei ihr im Dorf Bananen und Bonbons aus ihren Autos abwarfen, weil Weißenborn ihnen bereits so rückständig vorkam wie der Osten. Wohlgemerkt: Weißenborn war auf niedersächsischer Seite das letzte Dorf im Westen. Später sei sie schonmal mit den Geschwistern bis Heiligenstadt ins Freibad geradelt. Dort hätte man sie schnell als Westler erkannt und die Luft aus den Reifen gelassen. Und heute? Natürlich spiele die Grenze noch immer eine Rolle, auch wenn lange nicht mehr so wie noch vor 15 Jahren. Sie redeten anders da drüben. Es sei eben auch eine Grenze zwischen Bundesländern, zwischen Landkreisen, zwischen Schulsystemen, zwischen Landeskirchen. Fußball werde eben im niedersächsischen Verband gespielt und nicht im thüringischen. Sie selbst sei die meiste Zeit im zwanzig Kilometer entfernten Göttingen. Schließlich hätte sich Weißenborn schon immer dorthin ausgerichtet: mit dem Schulbus, mit der Zeitung, mit allem. Nach Heiligenstadt fahre sie eigentlich nur zum Arzt und da komme sie gerade her.


Wir steigen beide in Siemerode aus. Der Bus fährt nicht weiter bis nach Weißenborn. Ihr Mann holt sie mit dem Auto von der Bushaltestelle ab. Als ich ihr Angebot ablehne, bis Weißenborn mitzufahren, wo ich doch sowieso dort hin will, ist sie einigermaßen erstaunt. Das geht natürlich nur bei einem Notfall, und der liegt momentan nicht vor.


Auf den nächsten Kilometern übe ich mich mal wieder im Grenz-Hopping. Dem Kolonnenweg erteile ich ziemlich schnell eine Absage. Zweimal bin ich ja guten Willens und will ihn unter die Füße nehmen, doch er erscheint einfach nicht. Jedenfalls, wo er der Karte nach sein soll, finde ich ihn nicht. Da macht es mir der ehemalige Kontrollweg des Bundesgrenzschutzes wesentlich einfacher: gut auffindbar und sauber betoniert, ohne Löcher. Das lob ich mir doch. Auf diese Art und Weise bin ich um die Mittagszeit in Böseckendorf, Thüringen. 


Das Dorf liegt still, verschlossen. Eigentlich ein sehr unscheinbares Dorf. Die Zeit scheint hier stehengeblieben zu sein. Nicht im romantisierenden Sinne, sondern im Sinne von: Man wünscht dem Dorf einen Großsponsor, der eine Rundumsanierung finanziert. Oder sind das immer noch gewisse Nachwirkungen von damals?


Nach dem Mauerbau in Berlin wurden im ganzen Land die Grenzbefestigungen verstärkt. Gleichzeitig kursierte im Dorf das Gerücht, es stünden wieder Zwangsumsiedlungen bevor. Tatsächlich waren mit Spitzelhilfe schon entsprechende Listen aufgestellt worden. Die meisten Bauern hatten sich im Vorjahr geweigert, der LPG beizutreten. Nach außen lief das Leben der Bauern in gewohnten Bahnen. Nur Männer, die sich blind vertrauten, sprachen offen miteinander, schmiedeten Pläne. Ein harter Kern von Fluchtwilligen kristallisierte sich heraus, doch niemand wusste, wer sich ihnen anschließt. Aus Angst, der Stasi könnte etwas zu Ohren kommen, weihten die Bauern nicht mal ihre Ehefrauen ein. Am Sonntag, dem 1. Oktober 1961 wurde der Befehl für die "Aktion Kornblume" gegeben. Ab dem folgenden Tag sollte es losgehen mit der Zwangsumsiedlung. Am Abend des 2. Oktober flohen elf Familien mit 54 Personen, darunter 22 Kinder, aus Böseckendorf. Die Kinder wurden auf einem Pferdegespann mit Gummirädern befördert. Säuglinge bekamen Schlaftabletten und wurden in Waschkörbe gesteckt, größere Kinder mit Schokolade gefüttert, bis sie still waren. Der Wagen wurde gepolstert mit in Säcke gestopftem Bettzeug und mit Matratzen, damit hoffentlich Kugeln damit aufgehalten würden. Es blieb die größte Gruppenflucht der DDR-Geschichte. Am darauffolgenden 3. Oktober wurden allein in Thüringen 1700 Menschen zwangsumgesiedelt. Wenige Wochen nach der ersten Flucht gingen nochmal etliche Böseckendorfer in den Westen. 1963 gelang drei weiteren Familien die Flucht. Mehr als die Hälfte der Bürger des Dorfes war also in den Westen verschwunden. 


Was ist das für ein Druck, der einen alles stehen und liegen lassen lässt, Haus und Hof, alles Vieh, allen Besitz; der einen das Risiko auf sich nehmen lässt, mit der ganzen Familie erschossen zu werden? Und wie ist das für die Zurückgebliebenen? Manche werden verwandt gewesen sein mit den Geflüchteten, in Angst geschieden, in Enttäuschung, in Neid. Manche mögen noch selbst auf die nächste allerletzte Chance zur Flucht gehofft haben.


Wie war das für die Neuen, die von Amts wegen dorthin umgesiedelt wurden, wo möblierte Häuser und volle Ställe "frei" wurden? Bezieht man das ehemalige Eigentum von verbrecherischen Elementen, die Agenten des Klassenfeindes waren, oder übernimmt man es von Vorbildern, denen man gerne nacheifern würde? Wie ist das für die Nachbarn, wenn plötzlich "die Neuen" ins Altvertraute einziehen? Sind sie von der Partei? Werden die fortan mein Leben ausschnüffeln? Oder sind es gar Kollegen? Wie funktioniert jetzt so ein Dorf? Wird das noch einmal eine Gemeinschaft? Wie ist das, wenn man sich nach 25 Jahren wiedersieht? Wie stellen sich Nachmieter und Vorbesitzer einander vor?


Ich "kämpfe" mich weiter auf meinem "Grenzweg", nur exakt an der Grenze entlang gehe ich heute nur sehr selten. Der alte Grenzverlauf ist hier größtenteils Acker, vom Grünen Band ist nichts zu sehen. Ich bin heilfroh, meine Kartenausschnitte dabei zu haben, so dass ich mir immer Wegalternativen suchen kann. Ohne diese Ausschnitte wäre ich aufgeschmissen. Dennoch komme ich meinem Tagesziel Gerblingerode näher, wird auch Zeit, denn der Himmel zieht sich bedenklich zu. Etwa zwei Kilometer vorher nochmal ein Halt. Ich komme zum "Grenzlandmuseum Eichsfeld" ,zwischen dem niedersächsischen Duderstadt und dem thüringischen Teistungen, einer ehemaligen Grenzübergangsstelle, die zu einem Museum mit Außenanlagen umfunktioniert worden ist. 


Besonders ins Auge fällt mir sofort der etwas eigentümliche Wachturm, in dem die Grenzer saßen und die gesamte Übergangsstelle kontrollierten. Eigentümlich deshalb, weil er ganz anders aussieht als die "normalen" bisher. Wie ich bald erfahre, hatte der Turm früher eine ehrbare Aufgabe.: Er gehörte seit dem 17. Jahrhundert zur Hierbeckschen Mühle an dem kleinen Fluss Hahle und brachte Besitzer wie Arbeiter zu einigem Wohlstand. Als die DDR 1972 den Grenzübergang ausbaute, blieb der Turm der Mühle erhalten, nur das Spitzdach verschwand und wurde durch eine Beobachtungskanzel ersetzt. 


Auch das Hauptgebäude der ehemaligen Zollverwaltung und ein Abfertigungsgebäude sind noch erhalten. Eine mit Glas ummantelte Brücke, die sich über das ehemalige Abfertigungsgelände spannt, setzt Kontraste zu den Gebäuden aus der DDR-Zeit. Sie verbindet die Parkplätze auf dem alten Grenzabfertigungsgelände mit einer Sauna- und Badelandschaft, merkwürdige Nachbarschaften. 


Dort, wo das Territorium der DDR begann, steht immer noch ein tonnenschwerer, fahrbarer Absperrbalken an der Straße. Angesichts dieser Stahlmassen, die mit Motorkraft über die Straße gerollt werden konnten, wurde jeder Gedanke, mit einem gepanzerten Fahrzeug einen Grenzdurchbruch zu wagen, im Keim erstickt. Von der Sperre aus blicke ich auf einen Berg, über den sich wie zu DDR-Zeiten die Original-Grenzsperranlagen ziehen, mit Grenzzaun, Kfz-Sperrgraben, Spurensicherungsstreifen, Lampen und Kolonnenweg, und das auf fast einem Kilometer.


Das Wetter passt jetzt dazu. Es ist grau geworden, erste starke Windböen kommen auf, erste Regentropfen fallen. Jetzt Endspurt! Aus den ersten Regentropfen werden zwanzig, nicht mehr. Erst als Frau Weller nach einer netten Begrüßung die Tür hinter mir schließt und mir das Zimmer zeigt, geht draußen aber dann doch ein Platzregen nieder. Für mich das erste Wasser, das vom Himmel fällt, seit Wochen.


"Wenn Sie nach Ihrer heutigen Wanderung noch etwas Energie haben," bedrängt mich Frau Weller förmlich, "gehen Sie nochmal nach Duderstadt hinein. Die historische Altstadt sollten Sie unbedingt gesehen haben." Ich tue wie mir empfohlen und bin in der Tat begeistert. Duderstadt aber jetzt hier zu beschreiben, würde den Rahmen sprengen. Also bitte mal selbst das Internet bemühen - oder direkt im nächsten Urlaub mal vorbeischauen.


Während der letzten Minuten brach hier ein Gewitter los. Mein lieber Scholli! Von dieser Sorte möchte ich keins haben, wenn ich auf der Strecke bin.


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Kommentare: 1
  • #1

    Der kronprinz (Freitag, 29 Mai 2015 17:36)

    Echt krass dass die so alles hinter sich lassen mussten...