Ultimativ steil!

Gerblingerode - Brochthausen (14 km)


Frau Weller, meine Zimmerwirtin, ist hauptberuflich Tagesmutter. Gestern Abend sagte sie mir schon: "Um halb acht kann ich noch mit Ihnen frühstücken, dann können wir ein wenig quatschen. Ab 8 Uhr kommen die Minis, dann habe ich keine Zeit mehr für Sie." Natürlich bin ich um 7.30 Uhr parat und sitze mit ihr am Tisch. Wohlgemerkt, die Übernachtung ist offiziell ohne Frühstück, aber "selbstverständlich bekommen Sie von mir einen Kaffee und auch einen Toast mit Marmelade". Frau Weller erzählt von ihren Schützlingen, von ihrem Alltag, von ihren Problemen, von Erziehungsfragen im Allgemeinen, von ihrer letzten Fortbildung und überhaupt ... Um Punkt 8 Uhr kommt die erste "Anlieferung", nur Minuten später die nächste. Frau Weller ist gefordert, ich mach mich vom Acker.


Der Himmel ist blassblau, die Erde dampft vom Regen in der Nacht. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei geschätzten 95% und ich beginne zu schwitzen, obwohl der Anstieg noch gar nicht richtig begonnen hat. Dabei ist das nur der kurze Aufgalopp hoch zum Kolonnenweg, und auf den freue ich mich jetzt schon. Nicht umsonst, denn wenig später nimmt er mich wieder liebevoll auf, spendiert mir glitschige Auf- und Abstiege, teilweise durchwachsendes hohes Gras, das meine Schuhe zum Durchnässen provoziert, und links und rechts hineinragende Busch- und Baumzweige, deren Wasser ich gekonnt von den Blättern auf Kopf und Schulter abstreife. Aber eigentlich ist es ja auch egal, ob ich vom Schwitzen oder vom Regenwasser nass werde. Das Regenwasser erfrischt sogar.


Für etwa 200 m ist im Wald der Rand des Kolonnenweges und auch zwischen den Plattenreihen der Boden aufgewühlt, typische Wildschweinspuren. Und die sehen relativ frisch aus. Ich singe ein fröhliches Liedchen bzw. eine Aufeinanderfolge von Tönen, das hat mir in Schwedisch-Lappland auch schon mal gegen Bären geholfen. Ich habe nämlich überhaupt keine Lust, diesen Steckdosen-Tieren hier zu begegnen, zumal jetzt noch, wo sie vielleicht Junge haben. Ob mich gerade mehrere Knopfaugen-Paare beobachten? Ich habe Glück, nur ein paar Mücken greifen mich an.


Als ich mich mal wieder ein Stück Kolonnenweg hochquäle, entdecke ich bei einem hoffnungsvollen Blick nach oben zwei mächtige Stämme, die in den Himmel ragen. Ich nähere mich dem "WestÖstlichen Tor" auf dem Kutschenberg. Der markante Hügel, auf dem früher ein Wachturm stand, wird heute überragt von zwei mächtigen, etwa zwölf Meter hohen Eichenstämmen, einem "Tor", das naturgemäß offensteht und zum Durchblick einladen soll; auch zum Durchschreiten, auch zur Erinnerung. Die Eichenstämme sind am Boden verbunden durch eine Edelstahlschwelle mit entsprechend symbolischer Schweißnaht. Und drumherum stehen wiederum Eichen, die eines Tages einen Hain ergeben und "auf ein gedeihliches Zusammenwachsen von Ost und West in Europa hoffen" lassen sollen. Aber von den einst gepflanzten Eichen-Jungbäumen sind lange nicht alle angegangen, obwohl es schon einen zweiten Pflanzungsversuch gegeben hat. Von einem Hain kann noch lange keine Rede sein. Auch ein Symbol? Das zweifellos Große am WestÖstlichen Tor war seine offizielle Einweihung 2002 mit Michael Gorbatschow und dem damaligen Bundesumweltminister Jürgen Trettin. Als ich die verbindende Edelstahlschwelle in Augenschein nehmen möchte, muss ich durch kniehohes nasses Gras und finde sie fast nicht. Auch fast ein Symbol?


Der Weg bleibt jetzt eine Weile angenehm. Der Kolonnenweg ist moos- und damit rutschfrei, es geht leicht bergab, der ehemalige Grenzstreifen gibt sich als vorbildliches Grünes Band, auf dem sogar für einige hundert Meter eine Schaf- und Ziegenherde dafür sorgt, dass es kurz gehalten wird. Zur Krönung erscheint dann sogar noch die "Sielmann-Hütte", in deren Schutz ich eine Rast einlege, mit ständigem Blick auf die Strecke, die ich in der letzten Stunde abgelaufen bin. Aber wieso "Sielmann-Hütte"?


Die Älteren kennen vielleicht noch das markante, meist lächelnde, faltige Gesicht von Heinz Sielmann: Tierfilmer, Verhaltensforscher, Autor, Fernsehproduzent. 1959 startete er seine erfolgreiche Fernsehserie "Expeditionen ins Tierreich", für die er bis 1991 170 Folgen drehte und moderierte. Nachdem er 1988, also ein Jahr vor der Wende, den Film "Tiere im Schatten der Grenze" gedreht hatte, machte Sielmann sich für das Grüne Band stark. Er träumte sogar davon, das "Niemandsland" der innerdeutschen Grenze in einen von der Ostsee bis zum bayerisch-sächsischen Vogtland reichenden Nationalpark zu verwandeln. Dieses Engagement führte 1994 zur Gründung der Stiftung, die seinen Namen trägt. Nur einen Kilometer vom Grünen Band und von der "Sielmann-Hütte" entfernt befindet sich die Stiftungszentrale auf Gut Herbigshagen. Hier wurde Sielmann auch bestattet, nachdem er 2006 im Alter von 89 Jahren gestorben war. 


Die Rast in der "Sielmann-Hütte" kam gerade rechtzeitig, denn keine Viertelstunde später kommt der ultimative Kolonnenweg-Aufstieg. Als ich an seinem Fuße stehe, denke ich nur: "Das kannst du nicht schaffen!!!" Mindestens 45%! Wie soll das gehen? Und das noch in einer Waldschneise, also vermoost, glitschig! Aber hilft ja nix, ich MUSS da hoch! Einen anderen Weg gibt es nicht. Oder ich muss ein ordentliches Stück zurück und einen weiten Umweg laufen. Ich gehe los, kleine Umsetzung, explodierende Oberschenkel nach jeweils fünf Metern. Bei Verschnaufpausen sofort hart in die Bremse, sonst rausche ich samt Wheelie in Sturzfahrt wieder nach unten. Der starke Regen in der Nacht hat wohl zu allem Überfluss auch noch kleine Schlammlawinen über den Platten verteilt, zusammen mit dem Moos eine prickelnde Mischung. Meter für Meter arbeite ich mich hoch. Die Brille ist beschlagen, das T-Shirt ein nasser Aufnehmer und meine Zunge so lang, dass ich mir beinahe drauftrete. Doch irgendwann bin ich oben, tatsächlich wirklich oben! Und als hätte sie auf mich gewartet, steht oben, direkt neben dem Kolonnenweg, eine Bank. Auf ihr steht mit Filzstift an der Rückenlehne gekritzelt: "Hat ja ganz schön lange gedauert!" - Auf DIESE Bank setze ich mich NICHT! 


Kurz danach geht es hinunter nach Fuhrbach. Der Rest ist Auslaufen: Immer auf dem Radweg an einer kleinen Landstraße entlang bin ich bald darauf in Brochthausen. In meiner Unterkunft "Zur Erholung" gehe ich derselben mit aller Kraft nach.


Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Der krinpr (Samstag, 30 Mai 2015 16:01)

    Na den kolonnenweg wirst du wohl so schnell nicht los...

  • #2

    Lore (Samstag, 30 Mai 2015 20:02)

    Aber ohne Kolonnenweg wäre es doch langweilig! Nicht nur für den Wanderer, auch in den Berichten würde uns Lesern was fehlen.