Falsch abgestiegen

Brochthausen - Bad Sachsa (23 km)


Ich habe nicht fertig, aber ich habe Halbzeit! Das bezieht sich aber jetzt nur zeitlich auf das Grüne Band, den Berliner Mauerweg lasse ich mal außen vor, der war ja nur "zum Warmlaufen". Fast 700 Kilometer bin ich bereits durch die Berge unterwegs: Vogtland, Thüringer Schiefergebirge, Frankenwald, Thüringer Wald, Rhön, Eichsfeld. Jetzt liegt noch der Harz vor mir, mit dem dicksten Brocken: dem Brocken. Danach wird es flach: Altmark, Wendland, Elbe, Holsteinische Seenplatte. Dann die Ostsee, mein Ziel. Eigentlich müsste ich mal die Höhenmeter zusammenrechnen, da käme wohl schon so einiges zusammen.


Mein Landgasthof "Zur Erholung" hält außer einem fantastischen Frühstücksbuffet noch einen besonderen Service bereit: die BILD-Zeitung. Darauf habe ich eigentlich immer schon gewartet. Die komplette Titelseite und weitere drei Seiten empören sich über die Wiederwahl von Sepp Blatter zum FIFA-Präsident, damit ist eigentlich auch schon von allem berichtet, was die Welt wissen muss. Dann noch eine Seite barbusiger Mädels, das war's. Auf diese Weise umfassend informiert, mache ich mich auf den Weg.


Es dauert noch einige Zeit, bis ich das Ortsende von Brochthausen und den Abzweig nach Zwinge erreicht habe. Neben der Straße fällt mir ein weiterer Gasthof auf: "Zur Endstation". Welch treffender Name für einen Gasthof, der seinerzeit der letzte vor dem Grenzübergang Brochthausen-Zwinge war. "Zur Endstation"??? Moment mal, irgendwie kommt mir der Name jetzt kolossal bekannt. Hatte ich damals bei der Zimmerbuchung nicht schon gedacht "Wie originell!"? Im selben Moment wird mir bewusst, dass die Wirtin von der "Erholung" gestern beim Einchecken etwas gestutzt hatte und kurz bemerkte: "Na ja, für eine Nacht geht das!" Ich schaue in meinem Notizbuch nach, in dem ich immer tags zuvor Name, Adresse und Telefonnummer meiner nächsten Unterkunft vermerke, damit ich am Ziel überhaupt weiß, wo ich hin muss. Dort lese ich als Unterkunft für den 29. Mai: "Landgasthof zur Endstation". Ich bin gestern in der falschen Herberge abgestiegen!!! Ich glaub's nicht! Ich habe zwar keinen schlechten Tausch gemacht, aber trotzdem ist das ein Hammer! Irgendwie fühle ich mich jetzt ein wenig schlecht. Kann man das so unkommentiert laufen lassen? Ich beschließe: Nein! Etwas zaghaft betrete ich die "Endstation" und laufe prompt der Wirtin in die Arme. Ich gestehe reumütig - und ernte ein Lachen! "Ich glaube, einer von unseren beiden Gasthöfen muss seinen Namen ändern, denn ob sie es glauben oder nicht: Sie sind nicht der erste, dem das passiert ist. Alles ok! Dann kommen Sie halt das nächste Mal zu uns!" Ich verspreche es und ziehe erleichtert von dannen.


Kurz darauf bin ich im Nachbardorf Zwinge. Doch lange Jahre konnte man zueinander nicht kommen. Die Grenze lag dazwischen. Eisenbahnlinie und Straße waren hier unterbrochen und der Grenzzaun zog sich direkt vor den Häusern entlang. Zudem wurde im Mai 1966 um den westlichen Vorposten des Ortes, die Ziegelei, eine Mauer nach dem Vorbild der Berliner Sektorengrenze oder wie in Mödlareuth gezogen. Rübergucken verboten! Bei Zwinge sah es nicht nur martialisch aus; unweit von Zwinge offenbarte sich 1971 auch die Brutalität dieser menschenverachtenden Grenze. Ein junges Paar mit einem Kleinkind wollte am 14. Dezember die Grenzanlagen überwinden. Dabei geriet es auf eine Mine, die die Frau lebensgefährlich verletzte. Ihr Mann erlitt leichtere Verletzungen, das Kind blieb wie durch ein Wunder unverletzt. Die Rettung verdanken die Flüchtlinge couragierten Bürgern aus dem westlichen Brochthausen, denen es gelang, die Familie aus dem Minengürtel auf westdeutsches Gebiet zu schaffen.


Wo später ein kleiner Grenzübergang geschaffen wurde, stehen heute zwei LKW wie auf einem Parkplatz. Ob die Fahrer, die jetzt in ihren Kojen vielleicht noch schlafen, wissen, dass hier einmal peinlichste Kontrollen stattgefunden haben? Um die Ecke steht das alte Schulhaus, jetzt ein Kindergarten. Ob damals die kleinen Schulkinder gefragt haben, was das da vorne für ein komischer Zaun sei? Fest steht, dass sie, wie viele Schulkinder entlang der Grenze, ausgefragt wurden, welches Sandmännchen sie sich abends im Fernsehen angeschaut hätten. Ein perfider Trick, um herauszufinden, ob in einem Haus das verbotene Westfernsehen eingeschaltet wird.


Hinter Zwinge verschmähe ich mal wieder den Kolonnenweg. Er und damit der ehemalige Grenzverlauf machen einen weiten Bogen, verlaufen durch inzwischen wieder dichten Wald und lassen kaum einen Berg aus. Außerdem kämen Kilometer zusammen, die ich ablehne mir aufzuerlegen, wenn es nicht sein muss. Also tippel ich wieder an kleinen Landstraßen entlang durch die Täler und fühle mich äußerst wohl dabei. Nur am Talende muss ich über den Berg, um dort oben über die Grenze nach Niedersachsen zu wechseln. 


Und das wird gar nicht so einfach. Der stark aufwärts führende Weg verdient eigentlich seinen Namen nicht. Tiefe Fahrspuren und hüfthohes Gras werden zum Problem, denn in den Fahrspuren steht Wasser und das tropfnasse Gras deckt die Pfützen teilweise hinterlistig zu. Bald bin ich bis zum Gürtel klatschnass. Außerdem beginnt es zu regnen. Eine Schauer, die es richtig gut kann. Schirmeinsatz geht nicht, denn ich brauche beide Hände, um meinen Wheelie zu manövrieren. Dann kommt noch das Sahnehäubchen: Ein Baumstamm liegt genau in solch einer Höhe über dem "Weg", dass ich weder mal eben drübersteigen, noch den Wheelie drüberhieven kann. Mein Tagesrucksack hindert mich aber auch daran, mich einfach bückend darunter durch zu bewegen. Was ist zu tun? Ich lege mich flach auf den Bauch, robbe wie zu besten Bundeswehrzeiten durchs nasse Gras unter dem Stamm hindurch und ziehe meinen Wheelie hinterher, der so gerade drunter durch passt. Über mir schlägt ein Eichelhäher Krach und ich bin mir sicher, er ruft gerade seine Kollegen zusammen: "Kommt mal alle her, Jungs, hier läuft gerade 'ne tolle Nummer!" Fazit: Ich bin bis auf die Knochen nass, aber ... das war doch mal was anderes! 


Zehn Minuten später überquere ich den Kolonnenweg und damit die Grenze und komme aus dem Wald heraus. Die Sonne scheint und ich kann zu meiner Verblüffung nichts von einer dunklen Wolke sehen, die gerade über mir im Wald den Regen ausgekippt hat. Hat die sich vollkommen aufgelöst? Aufgelöst wie der Bach, auf den ich kurz darauf bei einer kleinen Brücke eigentlich stoßen soll, als ich in Richtung Bad Sachsa ziehe, aber nur trockene Kiesel sehe. Das ist allerdings wieder normal, wie ich bald darauf auf einer der Informationstafeln lese, die den hiesigen Karstwanderweg begleiten. Die Steina dort unten führt nur zwei Monate im Jahr Wasser, die übrige Zeit sei ihr Bett so trocken wie ein Wüstenwadi. Vier Kilometer unterhalb der Ortschaft Steina versickert das Harzflüsschen im Untergrund. Das Wasser sucht sich seinen Weg unter einer mächtigen Schicht von Flusskies und Geröll. Erst 20 Kilometer weiter tritt das Wasser wieder zutage. Auf seinem unterirdischen Weg fließt es über eine Schicht aus Gips. Und da Gips leicht wasserlöslich ist, entstehen Hohlräume. Der darüber liegende Flusskies rutscht nach und es bilden sich kreisrunde oder ovale Erdfälle. Einige dieser Löcher füllen sich mit Wasser, andere bleiben trocken. Der Wald, den ich jetzt durchwandere, ist von Erdfällen übersät. Wenn ich jetzt nicht wüsste, dass es sich um eine Karsterscheinung handelt, hätte ich Bombentrichter vermutet. Am Waldrand stoße ich auf einen Erdfall aus dem Jahr 1995. Die Wände sind noch nahezu senkrecht und es wird noch lange dauern, bis man die Sicherung, die man um das kreisrunde Loch gezogen hat, abbauen kann. Moment ..., ich glaube, ich höre da gerade so ein Grollen unter mir ... Schnell weg hier!


Nächste Station: Tettenborn. Hier beginnt der "Harzer Grenzweg", der von nun an bis Hornburg über 91 km hinweg das Grüne Band über den gesamten Harz begleitet, bestens ausgezeichnet, sagt man. Na prima! Eigentlich begann dieser Weg, der auch den Brocken mit einbezieht, in Bad Sachsa, seitdem aber in Tettenborn 1992 ein (weiteres) Grenzlandmuseum eröffnet wurde, hat er seinen Startpunkt hier. Bis Bad Sachsa sind es noch vier Kilometer, immer wieder ziehen tiefschwarze Wolken auf und nur knapp an mir vorbei. Erstens will ich nicht mehr nass werden und zweitens ist eine Museumsbesichtigung gegen Ende eines Wandertages nur halb gut. Deshalb entscheide ich mich, dieses Museum mal auszulassen. Ich habe schon einige gesehen und werde auch noch welche sehen, in nördlicheren Regionen.


Schnurstracks komme ich jetzt nach Bad Sachsa. Nichts Mondänes, klein und beschaulich, hat bessere Tage gesehen. Frau Kruse, meine Zimmerwirtin, die mich direkt auf eine Tasse Kaffee einlädt, stellt klar: "Also, Herr Wagner, ich weiß nicht, ob Sie das wissen, wir sind hier im Westen, auch wenn Bad Sachsa mal zu Thüringen gehörte. Durch einen Gebietsumtausch ist das nach dem Krieg mal geändert worden und wir kamen von der russischen in die britische Zone. Aber viele Leute, die jetzt hierher kommen, meinen, wir hätten zur DDR gehört. Früher waren wir ein gut gehender Kurort, aber das ist jetzt schon lange nicht mehr so. Damals kamen viele Leute hierher an die Grenze und kurten. Dann kam die Wende. Etwa fünf Jahre lang kamen dann noch besonders die Leute aus der ehemaligen DDR, dann war das vorbei. Der Tourismus hat hier schwer nachgelassen und nach der zweiten Stufe der Gesundheitsreform auch der Kurbetrieb. Ich glaube, wenn sich der ehemalige West-Harz nicht was einfallen lässt, geht hier bald alles den Bach runter."


Als ich am frühen Abend nochmal durch den Ort gehe, sehe ich Frau Kruses Befürchtungen bestätigt. Auf den Straßen kaum ein Mensch, genauso wenig in den zahlreichen Gastronomien. Oder liegt es heute nur an den wenig sommerlichen Temperaturen?


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