Viel Abwechslung

Bad Sachsa - Sorge (31 km)


Frau Kruse hat morgens schon gebacken: ein Blech köstlichen Bienenstich. Jetzt bekommt jeder Gast ein Stück in eine Tüte gepackt und feierlich überreicht. Ich freue mich ehrlich darüber, denn erstens mag ich Bienenstich und zweitens ist das ja auch eine nette Wegzehrung. Die anderen drei Herrschaften, ein älteres Ehepaar und eine genau so alte Dame, schauen etwas irritiert, nach dem Motto: "Was soll ich denn damit? " Die drei werden sich heute Nachmittag im Café die Schwarzwälder Kirschtorte reinpfeifen und keinen selbstgebackenen Bienenstich von Frau Kruse. Diese drei Stücke wären bei mir besser angelegt gewesen.


Als ich meine Sachen packe, durchzuckt es mich. Mein Schirm ist weg! Wo ist mein Schirm? Bingo! Habe ich gestern Abend im Restaurant vergessen. Frau Kruse: "Jetzt wird's aber schwierig! Die wohnen gar nicht da in dem Haus und geöffnet wird da erst um 11 Uhr." Zu spät für mich. Heute habe ich eine lange Strecke vor mir, eigentlich müsste ich jetzt schon weg sein. Ich versuche es einfach, verabschiede mich von Frau Kruse und stehe drei Minuten später vor der Tür des Restaurants. Durch das Fenster sehe ich drinnen schon die Putzfrau hantieren. Ich klopfe an, sie winkt mir durchs Fenster zu und öffnet mir strahlend die Tür - mit meinem Schirm in der Hand. Woher wusste die Frau, was ich wollte? Ich mache mir da jetzt keine Gedanken drüber, freue mich, dass ich meinen Schirm wieder habe, bedanke mich und ziehe ab.


Heute "mache" ich die ersten Höhenmeter im Harz und sie werden recht ordentlich werden. Doch zuerst gibt es noch einen kleinen Anlauf durchs Vorland. Durch dunklen Wald, an Erdfällen und an einer Reihe von Teichen vorbei komme ich nach Walkenried. Der Ort sieht ein wenig wie vorgestern aus oder wie ein Ort in den Bergen, der seine Schönheit erst unter einer geschlossenen Schneedecke richtig zur Entfaltung bringt. Das Highlight ist auf jeden Fall die Klosterruine. Das Kloster, das Ordensbrüder der Zisterzienser 1127 erbauten, muss ein imposanter Bau gewesen sein. Viel steht davon nicht mehr. Die Mauerreste der gotischen Klosterkirche sind beeindruckend. Vor allem, wenn man überlegt, wie lange die schon stehen. Ein Jammer, dass es sich die Mönche damals mit ihren weltlichen Nachbarn, den Bauern, verscherzten, die 1525, im Bauernkrieg, über das Kloster herfielen, plünderten, was nicht niet- und nagelfest war, und die Gemäuer verwüsteten. Am schlimmsten wüteten sie in der Kirche, die danach zusehends zerfiel. Irgendwann später waren statt Kirchenmusik nur noch Hammerschläge zu hören. Die Steine der Mauern wurden abgetragen und zum Bau anderer Gebäude benutzt. 


Hinter Walkenried könnte ich jetzt schon den Harzer Grenzweg nehmen, der für die nächsten vier Tage, parallel zum Grünen Band, mein stiller Begleiter sein wird. Mach ich aber nicht! Er macht mir noch einen zu großen Schlenker. Ich kürze über eine Landstraße ab. Der Tag wird noch lang genug. Dann aber geht es bergauf, reichlich und unerbittlich. Auf einer geländerlosen Betonbrücke der DDR-Grenzer quere ich das Flüsschen Zorge und dann geht es den Bergwald hoch bis zum Spitzen Winkel, der so heißt, weil der Grenzverlauf dort eine Spitzkehre vollführt. An dieser Stelle beginnt eigentlich eine ganz nette Wegvariante: Der Kolonnenweg trennt sich von einem gut markierten Pfad, der direkt auf der ehemaligen Demarkationslinie entlangführt. Historische, aber auch neuere Grenzsteine begleiten ihn. Aber "das Geläuf" ist tief und mit Baumwurzeln übersät. Für den normalen Wanderer vielleicht noch fußfreundlich, für mich und meinen Wheelie doch ganz schön anstrengend. Doch wie ist die Devise? "Hilft ja nix!" und ich ackere mich hoch. 


Mitten im Wald überholt mich eine junge Frau auf dem Fahrrad mit ihrem Scotch-Terrier. "Geht das hier zur Zweiländereiche?" Ich bestätige es, glaube jedenfalls, dass das stimmt. Meine Karte behauptet das. Zehn Minuten später treffe ich sie wieder - vor der Zweiländereiche. Dieser mächtige Baum besteht aus zwei Stämmen, von denen der eine östlich, der andere westlich der Grenzlinie gewachsen ist. Somit gehört ein Stamm zu Niedersachsen und einer zu Thüringen. Für die junge Frau ist aber etwas ganz anderes wichtig. Bei einer Art Briefkasten, schwarz-rot-gold angemalt, drückt sie sich gerade einen Stempel in ein Heftchen. Sie sammelt Stempel. Entlang der Harzer Wanderwege sind Stempelstellen eingerichtet, "über 200", meint die Frau. Es ist ihr zu einem Hobby (oder einer Manie?) geworden, all diese Stempelstellen anzulaufen oder mit dem Fahrrad anzufahren, immer an den Wochenenden. "Bald habe ich alle zusammen", verkündet sie stolz. Jedenfalls ein besseres Hobby als Fernsehen. 


Weiter geht es bergauf, ganz übel bergauf. Warum mussten eigentlich die Menschen oft ihre Grenzen über Berggipfel ziehen? Warum sind sie nicht im Tal geblieben? Aber nee, man musste schon immer auf andere hinabschauen können ... Ich ackere und ackere mit meinem Wheelie den Pfad hoch, in gespannter Erwartung auf eine besondere Attraktion: die Wende-Leiche. Was mag das sein? Die können doch hier oben nicht einfach so eine ... In dem Moment als ich oben bin, fallen mir riesige Schuppen von den Augen: Vor mir steht in ihrer ganzen Pracht: die Wendel-Eiche. Ich lese auf einem Hinweisschild: "Die Krone der Wendeleiche besaß früher eine kleine eingebaute Aussichtskanzel, zu der eine wendelförmige Treppe führte. Durch die Teilung Deutschlands stand die Eiche einige Meter südlich der Grenze auf DDR-Gebiet, sodass die Aussichtskanzel nicht mehr genutzt werden konnte und verfiel." Das kommt davon, wenn man solch ein Wort ohne Bindestrich schreibt. 


Ich sitze gerade unter der Bank der Wendel-Eiche, um mich ein Weilchen auszuruhen, als eine ältere, aber durchaus rüstige Dame von der anderen Seite den Berg hochkommt. Sie setzt sich zu mir und schnell ergibt ein Wort das andere. Sie kommt aus Zorge, einem Ort im Tal, unterhalb der Wendeleiche, nicht zu verwechseln mit meinem heutigen Ziel, Sorge. Zorge lag im Westen, Sorge im Osten. Sie hat bis vor wenigen Jahren in der Küche eines Gasthofs gearbeitet, wurde dann aber gekündigt. "Ich konnte meinem Chef damals nicht böse sein. Vielen ist es so in Zorge gegangen. Zorge war bis Anfang der 90er-Jahre ein gut besuchter Erholungsort. Unser Walddorf lag im Zonenrandgebiet. Es gab Zonenrandförderung. An dieses Geld kann man sich gewöhnen. Zorge war dank seiner idyllischen Lage und Ruhe bei den West-Berlinern, Hamburgern und Bremern ein beliebtes Ferien-Domozil. Viele Familien bauten sogar an den Hängen ihren Zweit-Wohnsitz. Doch diese Investoren sind inzwischen 25 Jahre älter. Ihre Kinder haben andere Ziele. Es gab in Zorge mal an die 20 Gaststätten, unzählige kleine Fachgeschäfte, Sparkassen, ein Kurhaus und Erholungsheime, aber kein produzierendes Gewerbe. Zuerst blieben vor mehr als 20 Jahren die Berliner weg. Ihre Ziele waren nun Potsdam, die Mecklenburger Seenplatte, Usedom. Dann kamen die Hamburger und Bremer nicht mehr, vor ihren Türen lag jetzt die noch unbekannte Ostsee und Rügen. Mitte der 90er-Jahre verabschiedete die deutsche Politik die Gesundheitsreform. Statt vier gab es nur noch drei Wochen Kuraufenthalte für Patienten. Die Erholungsheime wurden zu Wackel-Kandidaten, die Beschäftigten bangten um ihre Jobs. Die Mediziner haben Sorge mittlerweile verlassen. Viele Inhaber der kleinen Fachgeschäfte haben ihre Schaufenster verhängt, etliche Gasthöfe dicht gemacht. In dieser Hinsicht war die Wende nicht gut für Zorge. Trotzdem freue ich mich, dass die Einheit gekommen ist. Ich konnte Verwandte von drüben endlich wiedersehen." 


Und weiter geht's mit den Besonderheiten entlang des Grenzwegs. Ich erreiche einen nächsten "Drei-Länder-Stein". Autos fahren ganz nah vorbei, auf der Straße nach Hohegeiß. Wiedermal treffen drei Bundesländer zusammen: Niedersachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Ich verabschiede mich also von Thüringen, jenem Bundesland, das weitaus die längste Grenze zum ehemaligen Westen besaß. Und ich begrüße Sachsen-Anhalt, das mich von heute an bis an die Elbe begleiten wird. Bereits 1750 wurde der Stein hier gesetzt und die Inschriften zeigen an den drei Seiten an, welche Territorien früher an diesen Stein grenzten: HB (Herzogtum Braunschweig), KP (Königreich Preußen) und GW (Forstgebiet der Grafen von Wernigerode). Nach 1945 war der Stein ein Grenzpunkt zwischen BRD und DDR. 


Am Drei-Länder-Stein beginnt der angenehme, weil einfache Teil des Tages. Ohne nennenswerte Höhenunterschiede verläuft der Grenzweg nun in unmittelbarer Nähe zur Straße nach Hohegeiß. Zwar ist es der ursprüngliche Kolonnenweg, doch in der Nähe des Erholungsortes Hohegeiß ist er mit Feinsplit überzogen, zur besseren Fußfreundlichkeit für den hier urlaubenden Wanderer. Sobald ich allerdings den Dunstkreis von Hohegeiß wieder verlasse, kehrt der gute, alte Kolonnenweg mit all seinem Charme in mein Leben zurück. Doch er hält immerhin ein seltenes Ereignis für mich bereit: den Brockenblick. Über 300 Tage im Jahr, so sagt man, würde er sein Haupt in Wolken verstecken. Heute liegt er gut sichtbar vor mir, zu gut. Wenn Berge zum Greifen nahe erscheinen, soll es Regen geben. Und tatsächlich ist er für morgen vorhergesagt, und zwar reichlich. Wäre ja auch zu schön gewesen. Trotzdem, morgen krieg ich dich!


Dann nochmal der typische Kolonnenweg: runter ins Loch, rauf in den Himmel. Doch selten habe ich das Grüne Band so deutlich vor mir gesehen: eine Schneise von hellem Wiesen- und Birkengrün zieht seine Spur durch tiefgrünen Fichtenwald. Nach dem letzten saftigen Anstieg, wo der Grenzstreifen im rechten Winkel abbiegt und seine Höhe hält, stehe ich am "Ring der Erinnerung".


"Natur-Kunst" nennt sich das, von einem Künstler konzipiert und geschaffen. Aus abgestorbenen Baumstämmen, Ästen und Zweigen zusammengetragen und im Kreis aufgetürmt, Durchmesser etwa 60 Meter. Vier Eingänge, mittendrin noch einige Original-Grenzzaunpfosten wie dürre Wachsoldaten. Das Kunstwerk daran ist für mich nur schwer zu erkennen, aber ich bin auch ein Banause. Wie ich lese, geht es auch mehr um die Idee, die dahintersteckt. Die eigentliche Kunst soll nämlich die Natur vollbringen: Während das Holz vermodert, sollen es möglichst viele Vögel mit ihrem Kot beglücken. Beides zusammen ergibt dann eine nährhaltige Mischung, die dafür sorgt, dass aus Flugsamen relativ schnell neue Bäume und Büsche sprießen. Und jetzt? Woran soll mich dieser "Ring der Erinnerung" erinnern? War die Grenze eine Dornenkrone? War die DDR ein Hexensabbat? Soll ich sehen, wie gut es aussieht, wenn Gras über etwas wächst?


Der Rest des Weges nach Sorge hinein ist ein Stück Weg durch das "Freiland-Grenzmuseum Sorge". Wieder sehe ich Reste der originalen Grenzsicherungsanlagen an ihrem ursprünglichen Standort: ein Stück des Hinterlandzaunes mit Stacheldraht und Signaldrähten, ein Teil der Hundelaufanlage, ein Wachturm, der Streckmetallzaun, einen Beobachtungsbunker, das Zugangstor in den an dieser Stelle einen Kilometer breiten Schutzstreifen, der in den Schutzstreifen führende Zubringer-Kolonnenweg, eine DDR-Grenzsäule. 


Es war ein langer Tag, ein anstrengender Tag, ein abwechslungsreicher Tag - und dann ruft mich abends noch Daniel an und teilt mir mit, dass er mit Lena jetzt im Kreißsaal ist. Die Geburt des Kronprinzen vom Kronprinzen steht bevor. Und wie soll ich jetzt schlafen?


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Kommentare: 1
  • #1

    Kerstin und Hans-Jürgen (Montag, 01 Juni 2015 18:06)

    Hallo, willkommen in Sachsen-Anhalt,

    lesen täglich Deine Berichte. Viel Spaß im Harz und nimm Dich vor den Brockenhexen in Acht !
    Wenn Dein Enkelchen vor Mitternacht noch das Licht der Welt erblickt hat, ist es ein Sonntagskind, wenn erst heute, am 01.06.15, dann zum Internationalen Kindertag, das ist doch schön, oder ?
    Bald kannst Du das Meer schon riechen und nicht mehr lange dann auch in der Ostsee baden. Jetzt wird's auch langsam flacher und Ihr beiden (Wheelie und Du) könnt ein bißchen verschnaufen.
    Übrigens, falls Du abends noch schmökern willst und für übernächstes Jahr noch keinen (Wander-)Plan hast, empfehlen wir "Der großeTrip Wild" von Cheryl Strayed, falls Du das Buch noch nicht kennst. Wer von Köln bis nach Santiago und nach Rom läuft und vom Erzgebirge bis zur Ostsee, der packt auch den Pacific Crest Trail von Mexiko bis Kanada !

    Liebe Grüße aus der verregneten Pfalz ans Grüne Band

    Kerstin und Hans-Jürgen

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