Neyo ist da!!!

Sorge - Brocken (21 km)


Die Wettervorhersage im Internet hatte Regen versprochen, mindestens den ganzen Morgen lang. Geht ja noch, dachte ich mir gestern, wenn dann der richtige Aufstieg zum Brocken kommt, brauchst du den Schirm nicht mehr und hast beide Hände für dein Wheelie frei. Als ich aber heute Morgen aus meinem Zimmerfenster schaue, kann von Regen keine Rede sein. Die Straße ist zwar etwas feucht, das ist es aber auch. Von einem blauen Himmel ist der Harz zwar auch weit entfernt, aber für einen anstrengenden Aufstieg ist das eigentlich das beste Wetter.


Von Sorge an gehe ich für einen Kilometer an der Straße entlang und stoße dann wieder auf den Kolonnenweg, der oben von dem Hang herunter kommt, wo Teile der ehemaligen Grenzsicherungsanlagen als Sorger Freilandmuseum noch im Original zu sehen sind. Von jetzt an habe ich ihm wieder zu folgen, fast den ganzen Tag lang bis kurz vor den Brockengipfel. Der erste Anstieg ist nur kurz, dann schwenken die Lochplatten hinunter ins Tal der Warmen Bode. Die nächsten Kilometer werden angenehm leicht, so, als wolle der Brocken mich einlullen, um dann mit ganzer Kraft zuzuschlagen. Ruhig ist es hier im Tal, kein Straßenlärm, keine Menschen, nur der plätschernde Bach, die Vögel und meine Schritte. Meine Gedanken sind, wie auch schon gestern Abend und oft in der Nacht, bei Lena und Daniel, die vielleicht gerade in diesen Momenten die Geburt ihres ersten Kindes erleben, und in meinem Magen kribbelt es. 


Ich bin lange Zeit in Gedanken versunken, erst die Signalpfeife einer Lokomotive lässt mich aufschrecken und holt mich auf den Weg zurück. Jetzt höre ich auch ihr angestrengtes Schnaufen und sofort wird mir klar, dass dies nur die berühmte Brockenbahn sein kann. Ich werde sie nicht das letzte Mal gehört haben.


 Als ich in der Nähe von Braunlage die Straße erreiche, die nach Elend (der Ort heißt wirklich so!) führt, mache ich nochmal einen Boxenstopp und lasse mich auf einer Bank nieder. Noch einmal verschnaufen, noch einmal Kraft tanken, dann geht es unweigerlich auf den Brocken hoch. Etwa 500 Höhenmeter stehen mir bevor. Das Ganze auf zehn Kilometer, mit Kolonnenweg, mit Wheelie. Der nächste Halt wird keine Pause sein, sondern die Ankunft auf dem Brocken. Gefeiert mit einer Thüringer Rostbratwurst mit Kartoffelsalat beim Brockenwirt, so stelle ich mir das vor. Also los, bringen wir es hinter uns!


Zuerst will der Wurmberg bezwungen sein, genauer gesagt, der Sattel zwischen dem Großen Winterberg und dem Wurmberg. Der Kolonnenweg zieht sich, weil es rechts und links außer hohen Fichten und Büschen nichts zu sehen gibt. Nur die Löcher im Beton und die Linien, wo ich denke: "Da vorne hast du gleich mal wieder eine Stufe geschafft!" Nur in den seltensten Fällen trifft das natürlich zu, meist zeigt mir dort dann nur der Kolonnenweg seine grinsende Fratze. Ich beschließe, gar nicht mehr nach vorne zu blicken, nur noch nach rechts und links und unten. Vor allem zwinge ich mich, langsam zu gehen, alle 30 m anzuhalten, den Atem zu regulieren, um nicht ins Japsen zu kommen. Klappt eigentlich ganz gut. In kurzen Abständen kommt Anfeuerung: Die Brockenbahn schickt mir immer wieder freundliche Signale herüber. Dann bin ich auf dem Sattel am Wurmberg. Auf seinem Gipfel sehe ich den Turm der Sprungschanze, deren Auslauf Richtung Sattel verläuft. Die Zeiten, dass hier Springen stattfanden, sind wohl vorbei, zumindest während der DDR-Zeit spielte sich hier gar nichts ab. Viel zu nahe lag die Schanze an der Grenze. Vielleicht hätte ja ein Springer bei gutem Aufwind in den Westen "machen" können. 


Von jetzt an ist für eine Stunde aktive Erholung angesagt. Das heißt, vom Sattel geht es erst leicht bergab und anschließend eine ganze Weile ohne großen Höhenunterschied ziemlich geradeaus. Das Grüne Band liegt wiedermal wie gemalt vor mir - nur vom Brocken, der jetzt rechts von mir genauso malerisch sich erheben müsste, ist nichts zu sehen. Es ist eben einer der Tage, wo er seinen Gipfel geheimnisvoll in den Wolken versteckt. Wanderern begegne ich auch nicht. Wo sind all die Menschen, die den "deutschesten aller Berge" berennen? Mit Sicherheit nehmen sie nicht die Route über den Grenzweg, über Lochbetonplatten. Aufgestiegen wird von Schierke aus. Oder man/frau lässt sich von dort mit der Brockenbahn raufkarren, runtergehen geht ja noch. Na ja, heute ist Montag, an Wochenenden sieht das hier auch anders aus.


Das Pfeifen und Schnauben der Brockenbahn-Lokomotiven kommt immer näher, manchmal sehe ich sogar unter mir im Wald Dampf aufsteigen. Dann vollführt der Kolonnenweg einen rechtwinkligen Knick und läuft jetzt direkt steil auf den Brocken zu. Sagt meine Karte, sehen kann ich von ihm noch nichts, zumindest keinen Gipfel. Dafür sehe ich endlich die kleine Schmalspurbahn, wie sie sich dort hinten mit ihren vier nostalgischen Waggons den Hang hinunterwindet. Eine Viertelstunde später stehe ich vor ihren Schienen. Damit hat für mich die Plackerei so gut wie ein Ende. Zwei Kilometer lang folge ich den Schienen auf dem Goetheweg, und es kann eigentlich nur eine Frage der Zeit sein, dass mir die Brockenbahn begegnet. Und tatsächlich, kaum fünf Minuten lang gehe ich an den Schienen entlang, kommt mir eine Bahn entgegen und hüllt mich für Sekunden in ihren dunkelgrauen Rauch ein. 


Bald erreiche ich den Punkt, wo die Versorgungsstraße von Schierke heraufkommt und auf der ich nun die letzten paar hundert Meter bewältigen muss. Nochmal geht es gut steil hinauf. Jetzt begegnen sie mir! Alle, die sich jetzt den Berg Richtung Schierke hinuntertrudeln lassen: wenige Einzelwanderer, mehr Paare, ganze Gruppen, von denen sich einige so anhören, als hätten sie sich für den Abstieg beim Brockenwirt erst Mut antrinken müssen.


Endlich bin ich oben! Mein letzter "richtiger" Berg ist geschafft, mit 1141 m immerhin der höchste Norddeutschlands. Ich freue mich. Ich glaube, meine härtesten Prüfungen auf diesem Weg liegen damit hinter mir.


Am Brockenbahnhof warten gerade einige Bergtouristen darauf, dass sie in den bereitstehenden Zug einsteigen dürfen. Auf dem Weg weiter hoch, zum großen rot-weißen Sendemast, zum Brockenhotel, zum Brockenhaus, dem heutigen Museum und der früheren Stasi-Abhörzentrale, ist im Moment niemand mehr. Vielleicht haben die schlechte Wettervorhersage und die tief hängenden Wolken viele davon abgehalten, heute hier hochzukommen. Mir soll das sehr recht sein. Ich lenke jedenfalls, wie am Fuße des Brocken bereits beschlossen, meine Schritte in die "Fressbaracke" vom Brockenwirt und hole mir an der Selbstbedienungstheke meine Thüringer Rostbratwurst ab - obwohl ich ja gar nicht mehr in Thüringen bin, sondern in Sachsen-Anhalt.


Der Brocken lag zur DDR-Zeit nicht unmittelbar an der Grenze, aber im Grenzgebiet. Er konnte zwar zunächst noch von DDR-Bürgern mit Passierschein besucht werden, wurde aber 1961 zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Die Bahn stellte von einen Tag auf den anderen den Verkehr ein. Touristen durften nicht mehr hinauf. 1985 wurde der untere Rand des Plateaus sogar mit einer Mauer umgeben. Am 3. Dezember 1989 erzwangen Teilnehmer einer Sternwanderung die "Maueröffnung". Mittlerweile lockt der Brocken jährlich wieder Tausende Touristen an - und Wanderer vom Grünen Band. In einer Broschüre, die beim Brockenwirt ausliegt, lese ich noch: "Das Klima auf dem Gipfel entspricht dem eines Berges in den Alpen in ungefähr zwei- bis zweieinhalbtausend Meter Höhe. An dreihundertsechs Tagen im Jahr macht Nebel die Brockenspitze unsichtbar, an einhundert ist sie von Eis bedeckt, an einhundertsechsundsiebzig mit Schnee. Fünfundachtzig Tage, ein Viertel eines Jahres, herrscht Frost. Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt weniger als drei Grad Celsius." Ja wo bin ich denn hier? In Russland? Das moderne Thermometer über der Theke nennt als momentane Außentemperatur: 5,9°C.


Meine Unterkunft ist das Brockenhotel, ehemals "der älteste Fernsehturm der Welt", jetzt eine Herberge, die von drinnen schöner ist, als sie von draußen aussieht. Mein Zimmer liegt im vierten Stockwerk, aber ich fahre mit dem Fahrstuhl erstmal hoch bis ins achte. Hier ist die Aussichtsplattform. Und die Aussicht ist in der Tat grandios. Zumal genau in der Zeit, als ich meine Thüringer Rostbratwurst gegessen habe, die Wolken hochgezogen und teilweise sogar aufgerissen sind. Ich sehe zum Wurmberg mit seiner Schanze hinüber, sehe das Grüne Band und den Goetheweg und stelle fest, dass ich heute ganz schön was geleistet habe. Zur anderen Seite hin sehe ich, wo sich morgen hinter dem Kleinen Brocken der Plattenweg ins Tal absenkt, ich sehe die große Wasserfläche der Eckertalsperre, über deren Staumauer ich gehen werde und ich sehe sogar Ilseburg, wo ich morgen mein nächstes Quartier haben werde. Bei gutem, klaren Wetter soll die Aussicht von hier oben wohl 150 Kilometer weit über den Harz bis in die Norddeutsche Tiefebene gehen, mein Wandergebiet für die nächste Woche.


Und dann der schönste Moment des Tages: Ich bin gerade in meinem Zimmer angekommen, habe gerade den Wheelie und meinen kleinen Rucksack in eine Ecke gestellt, aber die Schuhe immer noch an, da kommt DER Anruf: "Tjaaa, Papa, wir sind jetzt zu dritt!" Mir hüpft das Herz bis in den Hals. Daniel erzählt in Kurzform alles, was ein neugieriger Vater wissen möchte, und ganz zum Schluss verrät er sogar noch den Namen seines Sohnes: Neyo Bennet. Dann beenden wir auch schon das Gespräch. Ich weiß alles, was ich wissen wollte, und Daniel widmet sich - mit Sicherheit mit Hingabe - wieder Frau und Kind.


Abends, kurz vor Sonnenuntergang, hole ich mir aus dem Hotelrestaurant im 7. Stockwerk zwei Flaschen Bier und gehe damit zwei Treppen hoch auf die verglaste, vor Wind und Wetter geschützte Aussichtsplattform. Ich bin ganz allein hier oben und setze mich auf den Fliesenboden direkt vor eines der großen Panoramafenster - und lasse in Frieden und Beschaulichkeit mein neues Enkelkind pinkeln. 


Bis zum Horizont nur Berge. Wie riesige Theaterkulissen hintereinander aufgezogen, um Dreidimensionalität zu erzeugen. Bergzüge ineinander verschränkt, bewaldet, in unterschiedlichen Grautönen schattiert, die am weitesten entfernten nur noch grau. Ich wünsche Neyo, dass auch er solche Bilder einmal lieben lernt.


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Kommentare: 2
  • #1

    Lore (Dienstag, 02 Juni 2015 10:09)

    Na, denn herzlichen Glückwunsch dem Opa, der Oma, den frisch gebackenen Elternm, dem neuen Erdenbürger und allen, die außerdem beglückwünscht werden möchten.

  • #2

    Sebastian (Dienstag, 02 Juni 2015 15:46)

    Alles Gute Opa ;-)