Fliegender Hund

Brocken - Stapelburg (21 km)


Wie an jedem Morgen schaue ich zuerst aus dem Fenster. Huch! Wo gestern Abend noch das Ungetüm von Sendemast unmittelbar vor dem Fenster in den Himmel ragte, ist jetzt nichts. Ich gehe zum Fenster an der anderen Zimmerwand. Wo gestern noch die wegen ihrer großen Kuppel "Moschee" genannte ehemalige Abhörzentrale der Stasi stand, die heute das Brockenmuseum beherbergt - wieder nichts. Nur alles einheitlich grau. Unten im Biergarten des Brockenhotels, den ich so gerade noch ausmachen kann, fliegen Papp- und Styroporteile durch die Gegend - es muss ein ganz schöner Sturm herrschen. Ich höre nichts davon, die Fenster sind stark isoliert. In dieser Lage hier oben wohl auch sinnvoll. 


Kein tolles Wetter, um vom Brocken abzusteigen. Ich frühstücke mehr als in ausgiebiger Ruhe. Die Blicke aller Gäste gehen sehr skeptisch nach draußen, es drängt keinen so richtig raus. Was mach ich? Der Natur trotzen und mich da durchkämpfen? Große Lust dazu stellt sich nicht ein. Eigentlich wollte ich auf das Brockenmuseum verzichten, aber unter diesen Umständen stellt das vielleicht eine ganz gute Überbrückungsmöglichkeit dar. Aber das Museum öffnet erst um 9.30 Uhr seine Pforten ... Egal, heute habe ich Zeit und heute geht es den ganzen Tag bergab. Ich verbringe die Zeit auf meinem Zimmer mit gekonntem Rumgammeln, lege kurz vor Beginn der Museumsöffnungszeit meinen Zimmerschlüssel auf die Rezeptionstheke und verlasse das Brockenhotel.


Vom Hotel- zum Museumseingang sind es nur wenige Meter. Die erste Brockenbahn des heutigen Tages hat gerade eine erste Ladung Touristen ausgeworfen und steht noch schnaufend am Bahnhofsgleis. Alles stemmt sich angestrengt gegen den Sturm, der mit Sicherheit nicht mehr weit von einem Orkan entfernt ist. Und dann sehe ich, dass Fliegende Hunde nicht nur eine Flledermausart sind. Eine ältere Dame zieht an einer etwa fünf Meter langen Leine einen Hund von der Größe eines Meerschweinchens hinter sich her, sichtlich erbost darüber, dass der Hund so gar nicht voranmacht. Auf die Idee, dass dieses arme Geschöpf bei dem Gegenwind gar nicht anders kann, kommt sie offensichtlich nicht. Zwar holt Fiffi etwas auf - doch dann passiert's: Eine gewaltige Böe fegt über die Brockenkuppe hinweg, alle Menschen, ich inbegriffen, kommen gewaltig ins Trudeln - und der Hund hebt an seiner Leine wie ein Kinderdrachen in die Luft ab. Hund jault, Frauchen schreit, andere Touristen gucken entsetzt. Hund kommt gar nicht mehr runter. Frau zieht ihren segelnden Liebling an der Leine zu sich heran und stopft ihn unter ihren Mantel. Am Museumseingang treffen sich Frau, Hund und ich und der Hund bellt, was das Zeug hält. So, als müsste er doch mal eben allen erzählen, was er da gerade erlebt hat.


Das Museum in der alten Stasi-Anlage ist beeindruckend: der Naturpark Harz, der Brocken in der Vorkriegszeit, der Brocken als Festung unter russischer Besatzung und als militärische Anlage der DDR-Grenztruppen und der Stasi, die friedliche "Eroberung" des Brocken durch eine große Menschenmenge am 3. Dezember 1989 unter dem Motto "Freier Brocken - Freie Bürger", der Abriss der umgebenden Mauer und des russischen Lagers, der Rückbau des gesamten Geländes zum heutigen Touristenziel. Ich schaue mir alles in Ruhe an, habe solche oder ähnliche Bilder schon oft gesehen. Am meisten bewegt mich der Moment, wo ich ganz alleine unter der riesigen Kuppel stehe, wo der Sturm drumherum mächtig heult und die mächtige Abhörtechnik mit ihren großen Rund- und Richtantennen sich vor mir aufbaut. Militärische und geheimdienstliche Funksprüche wurden hier aufgefangen und mithilfe von Computertechnik entschlüsselt.


Um 11 Uhr gehe ich dann endlich los. Ich habe tatsächliche Glück. Zwar stürmt es noch gewaltig, aber die Sicht wird immer besser. Der Blick über die Harzberge bis in die Täler wird wieder frei. Als ich weit vornüber gebeugt am riesigen Telecom-Sendemast vorbeistapfe, vollführt der Sturm, der am Mast vorbeistreift, eine schaurige Melodie. Oder sind es doch die Hexen, die unsichtbar und laut lachend auf ihren Besen an mir vorbereiten? 


Der Hirtenstieg, der seit den militärischen Zeiten des Brocken ein breiter Kolonnenweg ist, führt mich nun über den Kleinen Brocken zunächst sanft, dann steil abwärts. Ich quere nochmal die Schienen der Brockenbahn, sehe die Fichten, an denen der Sturm reißt, wieder größer werden, staune über die Unmengen an gewaltigen Steinblöcken, die überall verteilt liegen und bemitleide doch etwas die Wanderer, die sich den Weg in umgekehrter Richtung empormühen. Bald sehe ich tief unten die Eckertalsperre liegen und weiß, wenn ich dort auf der Staumauer stehe, habe ich noch nicht die Hälfte des heutigen Weges geschafft. 


Bei der Ranger-Blockhütte am Scharfenstein, an die auch eine kleine Imbiss-Station angeschlossen ist, lege ich meine erste Rast ein. Der starke Abstieg auf dem Kolonnenweg hat mir etwas weiche Knie bereitet. Bei einem Kaffee erzählt mir die Wirtin, dass direkt neben der heutigen Blockhütte vorher eine große Grenzerkaserne gestanden hat, bei der man nach der Wende sogar an die Umnutzung und den Ausbau zu einer Jugendherberge gedacht hat. Dazu ist es aber nicht gekommen, ganz im Gegenteil, sie wurde abgerissen und nur Fotos erinnern noch an ihren alten Standort.


Auf schönen Waldwegen geht es von Scharfenstein nun endgültig hinunter zur Eckertalsperre. Herrlich liegt sie dort gewunden zwischen den bewaldeten Berghängen und die ganze Szenerie hat etwas von Kanada. An einzelnen Hängen sind die Fichten abgestorben, das Werk des Borkenkäfers. Aber selbst das gehört dazu, auch das ist Natur. Der Wald wird sich erholen.


Ein wenig was von Königsweg-Empfinden stellt sich ein. Kein Wunder, denn inzwischen ist fast Kaiserwetter, bis auf den immer noch recht starken Wind. Und zu diesem Himmelblau und diesem Waldgrün tritt jetzt auch noch das Nachtschwarzblau des Sees. Von 1939 bis 1942 wurde die Eckertalsperre erbaut, vor allem aus militärischen Gründen: zur Versorgung des später VW-Werk genannten Betriebs in Wolfsburg, der zur NS-Zeit aber Rüstungsgüter produzierte. Heute dient der See haupsächlich zur Trinkwasserversorgung der Norddeutschen Tiefebene wie auch dem Hochwasserschutz und der Energieversorgung. Das Wasserwerk am Fuß des Staudamms ist Ausgangspunkt einer 1943 gebauten Fernwasserleitung bis nach Wolfsburg.


Etwas anderes allerdings machte die Eckertalsperre geradezu berühmt: Da die innerdeutsche Grenze mitten durch den See lief, war auch die Staumauer geteilt. Quer über dieser, auf ihrer Krone kaum 1,50 m breiten Mauer, war sogar eine kleine Mauer gebaut mit dem Schild: "Achtung! Stauseemitte Grenze!" Hier steht noch immer eine DDR-Grenzsäule. Dieser Irrsinn. Ein Wunder, dass hier noch Trinkwasser dabei herausgekommen ist.


Über die schmale Staumauer zu laufen, ist direkt etwas gruselig. Links der so friedlich daliegende See, rechts diese nahezu senkrecht abfallende Mauer in die tiefe Schlucht. Mir wird ein wenig mulmig. Weshalb sollten die ausgerechnet zwischen 1939 und 1943 guten Beton gehabt haben? Einen erwischt es doch immer als Ersten, wenn so ein Ding birst.


Das Eckertal nun hinabzulaufen könnte so schön sein. Wieder ein Grenzverlauf an einem "wildromantischen" Bach. Heute kann man ihn sogar als solchen bezeichnen, aber zu DDR-Zeiten hatte das mit Romantik nun gar nichts zu tun. Deshalb will sich bei mir, trotz wild plätscherndem Bach, wilder Felsszenerie und urtümlichem Wald keine Wandereuphorie einstellen. Der Weg wird nur lang, er zieht sich, lang und immer länger an der Ecker entlang, die langsam immer breiter wird. Mal geht der Weg auf der linken Bachseite, mal auf der rechten, die Bäume halten alles tief schattig, kühl und feucht.


Irgendwann ist der Harz dann wirklich zu Ende. An einer Lichtung hört der Wald auf, auch keine Berge mehr. Nur noch Felder. Norddeutsche Tiefebene. Auf einer großen, von niedrigen Bäumen bewachsenen Wiese sehe ich ein kleines Info-Pavillon: Ich befinde mich auf dem ehemaligen Gelände der Kuranstalt Jungborn. 1896 eröffnet, wurde sie nach und nach zur größten Naturheilanstalt Deutschlands, die auch Prominente anzog. Marika Rökk kurte hier, Hans Albers und Franz Kafka. Letzterer ließ sich im Sommer 1912 auf die naturkundliche Behandlungen mit Rohkost, Gymnastik, Heilerdekuren, Schwitzpackungen, Luft- und Sonnenbäder ein, um eine Schreibblockade zu überwinden. Überwinden musste der Schriftsteller auch seine Hemmungen, sich vor anderen splittefasernackt zu zeigen. Denn Nacktheit gehörte zur Heilphilosophie. Im II. Weltkrieg wurde Jungborn zum Lazarett umfunktioniert, in der DDR zu einer Heilstätte für Lungenkranke. Danach stand es jahrelang leer, bis nochmal ein staatliches Altersheim daraus wurde. Schließlich rückten Abrissbagger an, um auf dem Grenzstreifen freie Sicht zu schaffen. Heute sehe ich auf dem verbliebenen großen Wiesengelände noch ein großes Schild über einem hölzernen Tor hängen: "Herrenpark". Nacktheit gab es natürlich nur streng nach Geschlechtern getrennt.


Jetzt strebe ich zügig (weil es ja flach ist) meinem Tagesziel Stapelburg zu. Doch Stapelburg ist wiedermal nicht mein Übernachtungsort. Den finde ich in Ilseburg, einem kleinen Städtchen am Fuß des Harz und etwa 10 Kilometer von Stapelburg entfernt. Dort lebt nämlich Margrit Schmidt, die Schwiegermutter von Uwe Ückerseifer, einem lieben Dorfnachbarn von mir. Dieser hatte vor zwei Jahrzehnten seine Silke aus dem schönen Ilseburg nach Windeck entführt. Für Margrit damals natürlich nicht so einfach, für mich heute eine schöne Fügung. Ich habe ein wunderbares Quartier. Margrits Lebenspartner Heinz holt mich mit dem Wagen in Stapelburg ab, ich werde von Margrit herzlich begrüßt und sitze bald mit beiden im Garten beim Kaffee. Damit nicht genug: Heinz bietet mir an, mit mir nach Wernigerode zu fahren, einem - so muss ich im Nachhinein sagen - der für mich schönsten mittelalterlichen Fachwerkstädtchen Deutschlands. Fast zwei Stunden streifen Heinz und ich durch die Gassen, ich bin hin und weg vom Marktplatz mit seinem alten Rathaus und Heinz ist der perfekte Stadtführer. Der Abend in Wernigerode ist unerwartet sonnig und warm, ein krasser Gegensatz zu den Wetterverhältnissen am Morgen auf dem Brocken.


Eine ganze Weile sitzen wir dann am späten Abend noch bei einem Fläschchen Bier zusammen. Unweigerlich kommt natürlich das Gespräch auf die Vor-Wendezeit, auf das Leben unmittelbar vor und mit der Grenze, von deren Sperrzonenbereich sie nur wenige Meter trennte. Ein Leben, wie es sich niemand vorstellen kann, der es nicht selbst erlebt hat. "Aber auch das haben wir geschafft!" sagt Margrit zum wiederholten Male und Heinz nickt immer wieder zustimmend mit dem Kopf.


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Kommentare: 2
  • #1

    Peter (Donnerstag, 04 Juni 2015 19:46)

    Hallo Reinhard ,der Flughund wäre jetzt als Foto das Salz in der Suppe zu den anderen
    schönen Aufnahmen die wir jeden Tag anschauen dürfen. Aber meistens klappt es just
    dann nicht . Glückwunsch auch zum Opa-Glück und auch an die Eltern.
    Peter aus Lohmar

  • #2

    Lore (Donnerstag, 04 Juni 2015 21:24)

    Wir waren in Wernigerode kurz nach der Wende. Da war alles noch recht grau. Und der fliegende Hund hat Glück im Unglück gehabt. Ich dachte, während ich las, er wäre dann auf den Boden geknallt und das wäre sein Ende gewesen. Au Mann!