Im Großen Bruch

Hornburg - Söllingen (29 km)


Ich frühstücke mal wieder allein. Offizielles Frühstück gibt es hier im Hornburg Hostel nicht. Ich beiße in meinen noch übriggebliebenen Kanten Honigkuchen, den ich mir vor einigen Tagen mal irgendwo gekauft habe. Dazu einen Früchtetee aus dem Regal des Hostels. Also eigentlich alles da, was man braucht. Die Betreiber des Hauses sind gar nicht anwesend, sie gehen bereits ihren eigentlichen Berufen nach. Also Schlüssel auf die kleine Rezeptionstheke gelegt, Haustür zuziehen - und Tschüss!


Zehn Minuten später, direkt hinter dem Ortsausgang, ist es nur noch flach. Plattes Land, platter geht nicht. Auf beiden Seiten des Weges Wiesen und dahinter Wiesen und dann noch mehr Wiesen. Irgendwann mal auch mal Korn, Rüben, Kartoffeln. Ich bin im Großen Bruch angekommen: ein grünes Breitband, das in frühen Zeiten den Harz nach Norden hin abschottete. Vor rund zehntausend Jahren während einer Eiszeit entstanden, unpassierbar lange. Undurchdringliche Sümpfe und Gräben, bis ins Mittelalter nur mit Fähren zu überwinden. Jahrtausende später dann trockengelegt, um Ackerfläche zu gewinnen. Die Gräben, mit Muskelkraft und schaufelähnlichem Gerät ausgehoben, ziehen sich wie Adern durchs Erdreich. An ihren Rändern wächst Röhrig, so üppig, dass mir das Wasser in den Rinnen verborgen bleibt. Aber Wasser ist da. Zwei Graureiher starten aus dem Kranichgraben, keine Kraniche. 


Am Schiffgraben und am Großen Graben entlang bleibt mein Tag grün und leer. Abwechslung hält sich in Grenzen. Hin und wieder ein aufgeregtes Froschkonzert in einem der Gräben, eine Reihe alter Kopfweiden, die sich neben einem Graben seltsam verrenken. Fette Weiden, von Kühen und Pferden bevölkert, fressend, widerkäuend oder schlicht nur dösend; die Wiesen im Saft, teilweise schon gemäht. Zwischendurch ein paar Wildenten, drei Rehe flüchten vor mir mit hohen Sprüngen durch den Weizen. Und Hasen, Dutzende von Hasen! Plötzlich kommen sie aus dem hohen Gras am Wegesrand mitten auf den Weg gesprungen, hoppeln ein wenig rum, hocken sich hin. Manche erkennen mich sofort und rasen auf dem Weg davon. Andere scheinen Fangen zu spielen, realisieren mich überhaupt nicht und kommen auf mich zugerannt. Ab und zu komme ich an Wiesen vorbei, auf denen Bauern mähen oder Heu wenden. Bussarde und Milane segeln in großen Schleifen darüber. Noch nie habe ich so viele dieser Vögel auf so engem Luftraum zusammen gesehen, während Scharen von Krähen am Boden auf Beute lauern. Manchmal sehe ich entfernt auch Dörfer, Veltheim, Mattierzoll und Rohrsheim, aber die lasse ich alle aus.


Obwohl bei Mattierzoll, direkt an der ehemaligen Grenze, ein kleiner Wachturm steht, zum Denkmal erklärt, auf sachsen-anhaltinischer Seite. Und auf die niedersächsische haben sie Zäune herübergeholt, drei Reihen Streckmetallzaun, und eine kleine Gedenkanlage am Straßenrand gebastelt. Der Zaun stand hier zwar nie, aber jetzt steht er eben. Steht er für was? Man gewöhnt sich an so vieles. An die hier und da auftauchenden Reste von Grenzanlagen; hier ein Wachturm, da ein Stück Metallgitterzaun, ein Grenzpfosten, das wird alles normal: Unser täglich Mahnmal. Ich bin mittlerweile an Grenzmuseen gewöhnt, im Schnitt kommt einmal in der Woche eines vorbei. Einheitsfindlinge finde ich täglich, und mit den täglichen Dingen schließt man früher oder später seinen Frieden. Ich werde zunehmend den Gedanken los, dass ich hier eine schlimme ehemalige Grenze entlanglaufe. Ich habe mich an diesen Weg gewöhnt, daran, dass er verlegt wurde, um Mitmenschen leichter erschießen zu können, die ihr Grundrecht auf Freizügigkeit wahrnehmen wollten. Wie schnell richtet man sich ein, in seiner Gewohnheit, im Alltäglichen. In einem totalitären System?


Im Schatten eines größeren Baumes mache ich eine Pause, lege mich ins Gras und betrachte den noch vor mir liegenden, schnurgeradeaus führenden Weg. Im Verlauf meiner Wanderungen habe ich solche Wege lieben gelernt, da derart monotone Streckenabschnitte sich bestens anbieten, um innerlich "aufzuräumen". Man schließt einfach halb die Augen und geht. Dies sind die wahrhaft großen Bilder einer Wander- oder Pilgerreise, bei denen das Nicht-Spektakuläre spektakulär ist. 


Nach mehr als 20 Kilometern "Bruch-Erfahrung" wechsel ich die Himmelsrichtung: von Ost auf Nord. Ich überquere den Großen Graben und damit die alte Grenze und bin für den Rest des Tages in Niedersachsen. Bevor ich mich den kleinen Hügel nach Jerxheim hochschwinge, kommt vorher Jerxheim Bahnhof. Nicht der Bahnhof allein, drum herum befindet sich ein eigener kleiner Ort, entstanden zu der Zeit, als hier ein großer Eisenbahnknotenpunkt war. Zweihundert Züge täglich, Hauptstrecke zwischen Köln und Berlin. Aber das ist lange her, war vor dem Krieg. Zuletzt rollten hier noch Regionalzüge und die eher spärlich. Seit einigen Jahren rosten die Schienen.


Meine Beine scheinen auch etwas zu rosten. Nichts kann auch für Beine ermüdender sein, als kilometerweit durch flaches Gelände zu staksen. Sie brauchen eine Rast. Und da kommt "Ritchy's Grill" in Jerxheim Bahnhof gerade recht. Allerdings steht mir hier gar nicht der Sinn nach Gegrilltem, sondern viel mehr nach dem groß angekündigten Erdbeereisbecher. Und siehe da: Der Eisbecher wirkt wie Doping. Locker und flockig mache ich mich nach dem Eisgenuss an die letzten fünf Kilometer. Liegt das eventuell am Zucker? 


Söllingen ist mein Ziel, die Pension "Alter Bahnhof". Und diese Pension heißt nicht nur mal eben so, die war wirklich mal einer. Kaum bin ich angekommen, steht ein Glas Apfelschorle vor mir, von Frau Göde, der Pensionswirtin, kredenzt. Dort, wo wir sitzen und ich die Schorle trinke, war ehemals Bahnsteig 2, jetzt ist es ein wunderschöner Garten. Wie man sieht: Nicht nur einen ehemaligen Grenzstreifen holt sich die Natur zurück, sondern auch einen alten Bahnhof - wenn man sie nur lässt.


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