Schreckensort

Büddenstedt - Weferlingen (26 km)


Der Frühstücksraum in meinem kleinen Hotel in Helmstedt erinnert mich an manchen Wanderurlaub in England oder Schottland. Schwere Teppiche auf dem Boden, Velour an den Wänden, Stuck an der Decke, dicke Polsterstühle, Nippes auf den Fensterbänken. Durch das Fenster beobachte ich die Marktbeschicker, die am heutigen Samstag gerade ihre Stände aufbauen und teilweise mit Bergen von Spargel oder Erdbeeren belegen, und bereits die ersten Kunden, die sich die Tüten vollpacken lassen.


Als ich eine halbe Stunde später über den Marktplatz gehe, liegt dieser noch in tiefem Frieden. Die Bierpavillons und Imbissstände sind noch verschlossen, die Bierzeltgarnituren leergeräumt und saubergewischt und das Pflaster ist gefegt. Nicht ein Bierdeckel liegt auf dem Boden. Alles ist vorbereitet, damit am Nachmittag das Bierfest in seine nächste Runde gehen kann. In der Altstadt sehe ich kaum einen Menschen, vielleicht führen viele noch ihren Kater spazieren. Jedenfalls ging das Fest bis spät in die Nacht. 


Auf einer lang gezogenen Allee verlasse ich Helmstedt. Der Himmel hat sich etwas zugezogen und einige Tropfen fallen. In der späten Nacht muss es auch schon etwas geregnet haben, denn die Straße ist noch nass und es tropft von den Bäumen. Nach dem gestrigen heißen Tag ist die Luftfeuchtigkeit hoch und ich bin schon nass geschwitzt, bevor ich überhaupt eine halbe Stunde unterwegs bin. Aber langsam zu gehen, um Schweißausbrüche geflissentlich zu vermeiden, kann ich mir nicht leisten.


Ich habe nämlich ein Zeitproblem. Entweder ich bin bis 14 Uhr in meiner Unterkunft oder ich komme erst ab 17 Uhr wieder rein. So war die Vorgabe des Wirts, als ich im Februar gebucht habe. Das ist aber irgendwie höchst ungünstig. Bei 26 vor mir liegenden Kilometern wird es bis 14 Uhr knapp, zumal ich mir noch die ehemalige Grenzübergangsstelle Helmstedt-Marienborn, jetzt Gedenkstätte, ansehen möchte. Und die öffnet erst um 10 Uhr. Bei normalem Wanderschritt wäre ich um etwa 15 Uhr an meinem Ziel, aber was mache ich dann? Zwei Stunden lang in Weferlingen! Abgeschlafft, verschwitzt! 18 Kilometer sind es noch von der Grenzübergangsstelle bis Weferlingen. Ob ich das schaffe? Für Helmstedt-Marienborn gebe ich mir eine Stunde. Diese Zeit muss man sich dort einfach nehmen. Wenn ich also um 11 Uhr dort weggehe, hätte ich noch drei Stunden. Für 18 Kilometer? Das wird eng! Aber ich werde es versuchen.


Um 9.30 Uhr bin ich an der ehemaligen Grenzübergangsstelle. Helmstedt-Marienborn war der größte, der wichtigste und der verkehrsreichste Grenzübergang zwischen der Bundesrepublik und Westberlin zu DDR-Zeiten. Die A 2 ist bis heute die wichtigste Ost-West-Verbindung mit Berlin geblieben. Als Wanderer erreiche ich die "Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn" nicht über die Autobahn, sondern durch den Hintereingang. Wo früher alles Grenzübergangsstelle war, ist heute auch Tankstelle, Riesenparkplatz und Raststätte. Trotzdem kommt mir das jetzt eingezäunte Gelände am Rand des gesamten Areals noch unheimlich groß vor, beängstigend groß. In einer halben Stunde wird hier das Tor für Besucher geöffnet, der Eintritt ist kostenlos. Zeit genug für eine Rast und einen Kaffee an der Raststätte. Auch etwas Neues für mich: mit meinem Wheelie zur Rast an einer Autobahnraststätte. 


Pünktlich um 10 Uhr schließt ein Gedenkstätten-Mitarbeiter mir und anderen Besuchern das Tor auf. Beim Betreten bekomme ich eine Gänsehaut. Ich hatte mich schon vorab zu Hause über diesen Ort im Internet informiert, und in Kenntnis dessen, was hier abgelaufen ist, ist sofort eine Beklemmung da. Diese gigantische Anlage, diese aneinandergereihten Abfertigungshallen, dieses hinfällige Material, rostiges Metall, bedrohliche Flutlichtmasten, alles riesig, alles leer. Wie eine kleine Stadt, die Gebäude unterirdisch durch ein Tunnelsystem verbunden. Eine Stadt der Kontrollen und Schikanen und Demütigungen. Der Tragödien. Und eine Festung. In Spitzenzeiten bewacht von eintausend Uniformierten: Passkontrolleuren, Zöllnern, Grenzsoldaten, Stasi-Mitarbeitern. Sie filzten alles: Menschen, Tiere, Pflanzen, Autos, selbst Särge mit Leichen. Sich das vorzustellen fällt mir schwer, gelingt mir nicht, wenn ich nur so über das Gelände laufe, vom Heizhaus zu den Passkontrollhäuschen, vorbei an Veterinärstation, Wechselstube, Leichenhalle, Lichtmasten und an der Zollbaracke mit den Kabinen für die Leibesvisitationen und Vernehmungsräumen und den gefürchteten Garagen, wo mit Spiegeln unter Autos geschnüffelt und sie im Verdachtsfall oder auch nur so nahezu zerlegt wurden. Wo man in ausdruckslose, graue Gesichter von Robotern gleich sich bewegende Offizielle sah. Wo sie emotionslos und in einer provokanten Mischung aus Arroganz, Ignoranz, Pedanterie und Gleichgültigkeit jeden spüren ließen: "Du bist ein Niemand!" Hier fühlte sich jeder "so klein mit Hut". Wo man - dieser Macht des Apparats bedingungslos ausgesetzt - nach endlos langer Zeit durchgewinkt wurde. Heute weiß man, dass die meisten der hier rund um die Uhr in Dreierschichten eingesetzten Mitarbeiter in der Fachschule des "Ministeriums für Staatssicherheit" in Potsdam geschult worden waren. Das Ziel: Zersetzung der Persönlichkeit. 


Verlassen sieht alles so harmlos aus, wie eine stillgelegte Panzerfabrik harmlos aussieht. Eine Vorstellung bekomme ich erst, als ich mir Kopfhörer aufsetze und höre, wie Betroffene schildern, was ihnen an diesem Ort widerfahren ist. Als ich dabei bin, die Anlage zu verlassen, höre ich einen älteren Herrn zu einem anderen sagen: "Man muss sich mal klarmachen, wie viel geistige und materielle Energie damals aufgewendet wurde, um die eigene Bevölkerung einzusperren. 1000 Mitarbeiter hier, mehr als 40.000 Mann entlang der Grenze, ausgerüstet mit modernster Technik und der 'Lizenz zum Töten'. Diese Energie anders gelenkt, hätte sehr viel zum Wohl der eigenen Bevölkerung beigetragen."


Wie ich mir vorgenommen habe, verlasse ich um 11 Uhr die Gedenkstätte - und gebe Gas! Drei Stunden habe ich jetzt für 18 Kilometer, ohne Pause. Wollen wir doch mal sehen, ob so ein alter Mann das noch auf die Kette bekommt. Wenn es nur nicht so schwül wäre ... ! Die Strecke hält von nun an alles für mich bereit: zunächst Waldpfade und Kolonnenweg, im Tal der Aller ruhige Landstraßen, kleine Ortschaften und leichte An- und Abstiege. Jawohl, so ganz flach ist es hier immer noch nicht. Wie mir gesagt wurde, erst ab übermorgen, dann aber so richtig. 


Ich fliege förmlich dahin. Irgendwie macht mir das sogar Spaß. Wenn ich es aber nicht schaffe, ist der Spaß sofort vorbei. Ich setze mir Zwischenziele: Bis da und da hin musst du um soundsoviel Uhr sein! Ich halte alles ein, bin gut in der Zeit, "erwirtschafte" mir sogar nach und nach ein immer größer werdendes Zeitpolster. Kann ich mir eine kurze Rast leisten? Nein, Risiko zu groß! Also weiter! Gas!


Um 13.45 Uhr stehe ich vor der VERSCHLOSSENEN Tür des "Hotel zur Sonne" in Weferlingen. Das kann jetzt bitteschön nicht wahr sein! Ich klingel. Einmal, zweimal. Dann, oh Segen, öffnet sich oben ein Fenster und eine Frau schaut heraus. "Ach, der Wanderer! Mit Ihnen hatten wir jetzt noch nicht gerechnet und ich hatte mich etwas hingelegt. Warten Sie, ich mach Ihnen auf! " Gott sei's gelobt und gepfiffen ... geschafft! Auf dem Zimmer reiße ich mir nur noch die verschwitzten Klamotten vom Leib und schmeiße mich aufs Bett. Eineinhalb Stunden später wache ich wieder auf.


Nach einer 20minütigen Genussdusche gehe ich zu einem guten Kaffee runter in den Gastraum. Was von außen gar nicht so deutlich wird: drinnen ist es urgemütlich. Altes, gediegenes Mobiliar, alte Fotos an den Wänden, verschiedene kleine Räume, ganz unterschiedlich gestaltet. Die Wirtin waltet in der großen Küche, deren Tür hinter der kleinen Theke weit offen steht, und der Wirt sitzt hinter der Theke - und raucht. Das Nichtraucherschutzgesetzt ist ja vielleicht während meines Unterwegsseins außer Kraft gesetzt worden.


Kaffee und Zigaretten sind bekanntlich ganz gute Stimulatoren, um Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen. Und da ich mittlerweile Übung darin habe, Menschen mit kleinen Fragen zu umfangreichen Antworten anzuregen, erfahre ich jetzt auch über Weferlingen so manches:


Die "Sonne" war schon zu Kaiserszeiten ein Gasthaus mit Zimmervermietung. Es ist sogar nur zu diesem Zweck gebaut worden, war nie etwas anderes. Als Weferlingen in die Sperrzone kam, musste der Hotelbetrieb aufgegeben werden. Leute von außerhalb kamen ja nicht in die Zone rein, also brauchte man auch kein Hotel. Doch Kundschaft hatte die "Sonne" während der DDR-Zeit reichlich. Die Kneipe war immer voll. Die Menschen arbeiteten alle im Dorf. Nach Arbeitsende kam man eben auf ein Bier vorbei, manchmal wurden auch mehr daraus. Zu kaufen gab es nicht viel und so gab man viel Ostmark im Gasthaus aus. An Wochenenden, besonders samstags, waren immer alle Tische im Speiseraum reserviert. In den besten Zeiten wurden 200 Liter Bier und mehrere Flaschen Schnaps an einem Samstag verkauft. Das gilt aber nicht nur für die "Sonne", es gab noch fünf weitere Kneipen in Weferlingen. 


Heute ist die "Sonne" konkurrenzlos. Auch hier nimmt das Geschäft immer mehr ab. Nach der Wende kamen noch viele Menschen aus dem Westen, "um sich das mal hier alles anzugucken, aber das ist ja nun nicht mehr". 


Zu den Kunden zählten damals auch die Grenzer aus der örtlichen Kaserne. Offiziersdienstgrade kamen sogar unter der Woche, einfache Soldaten nur an Wochenenden und nur in Gruppen, manchmal bis zu 20 Mann, mit "Ausgangsschein". 


Manchmal kamen aber auch unangenehme Gäste. Wenn Männer mit einem Auto vorfuhren und nur einen Kaffee bestellten, war etwas im Busch. Jetzt muss man wissen, dass jeder im Dorf, und Wirtsleute erst recht, jeden melden musste, der ihm unbekannt vorkam. Wenn in der "Sonne" mal ein fremdes Gesicht erschien, wurde hinter vorgehaltener Hand unter den einheimischen Gästen abgeklärt, um wen es sich handelt. Meist war es dann eben ein Verwandter eines Dorfbewohners mit Passierschein. Eine Meldung hat man sich dann geschenkt. Bei unbekannten Gästen mit Auto und Kaffeebestellung war man gut beraten, nach einem Passierschein zu fragen. Diese Herren waren nämlich nichts anderes als "Tester" von der Stasi. 


"Noch heute ist das so bei den älteren Stammkunden: Sobald die Tür aufgeht, drehen sich ruckartig alle Köpfe. Wenn es dann ein Fremder ist, ist erstmal mindestens eine Minute Ruhe, bevor es im Kopf wieder klar ist, dass jetzt 26 Jahre vergangen sind. Bei den Jungen ist das nicht mehr so, aber bei den Alten. Jedesmal!"


"Und - froh, dass es 89 so hekommen ist?" - "Es musste so kommen, ganz zwangsläufig! Wenn wir sicher sein konnten, dass wir unter uns waren, haben wir oft hier in der Gaststube darüber gesprochen. So konnte es einfach nicht weitergehen. Im Laufe von 89 wurde uns klar, dass sich bald was ändern wird. Aber dass die Grenzen geöffnet werden, damit hatten wir nie gerechnet."


Als ich zwei Stunden später den Gastraum zum Abendessen nochmal betrete, drehen sich fünf Köpfe ruckartig zu mir herum und das Gespräch erstirbt. Keiner der Männer ist unter sechzig - und jeder raucht. Der Wirt grinst mich vielsagend an, als wenn er sagen wollte: "Hab ich es nicht gesagt ...?"


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Kommentare: 2
  • #1

    Lore (Sonntag, 07 Juni 2015 13:45)

    Au wei!
    Au wei zu den 18 km in 3 Stunden,
    zu dem schaurigen Schreckensort,
    zu den Worten des älteren Herrn beim Verlassen der Gedankstätte
    und zu dem "ruckartig alle Köpfe zur Tür".



  • #2

    Renate (Dienstag, 09 Juni 2015 12:29)

    Der Mann hat so recht! Was hätte man Sinnvolles mit all der Energie machen können.
    Ich bekomme eine Gänsehaut bei der Vorstellung der Schikanen und des psychischen Drucks.
    Und deine Laufleistung: Alle Achtung, alter Mann! :) :) Da wolltest du es aber wissen, und hast es gut auf die Kette bekommen!
    Liebe Grüße
    Renate