Besuch aus Braunschweig

Weferlingen - Oebisfelde (17 km)


Die Aussage kommt für mich etwas unvermittelt. "So in fünf-sechs Jahren werden wir hier Schluss machen. Dann haben wir das Haus fast 40 Jahre geführt. Das ist genug. Dann gehen wir in Rente. Irgendwann muss Schluss sein!", sagt die Wirtin und poliert die Theke, während ich beim Frühstück sitze. "Gibt es einen Nachfolger?" - "Nee, wir werden wohl verkaufen, wir wollen es jedenfalls versuchen. Und wenn das nicht klappt, mal sehen, vielleicht mache ich das mit der Unterbringung auch weiter, so als lleines Zubrot zur Rente. Aber vielleicht übernimmt es ja auch ein Türke oder ein Grieche." Man merkt, dass ihr bei diesen Gedanken nicht ganz wohl ist und ich frage nicht weiter nach. In den 1860er-Jahren wurde das Haus als "Hotel zum Kronprinzen" gebaut und hat in seiner 150jährigen Geschichte manchen Gast beherbergt und könnte bestimmt viele Geschichten erzählen. Und das soll bald vorbei sein? Das letzte Gasthaus in Weferlingen schließt? Oder wird es zum "Döner Grill"?


Kurz hinter dem "Hotel zur Sonne" beginnt der Aller-Radweg, meine heutige Spur. Durch die weite Feldflur geht es immer nach Norden, immer durchs flache Land. Getreidefelder zu beiden Seiten, am Wegrand Mohn- und Kornblumen. Die Sonne scheint, aber die Temperaturen sind jetzt am Morgen noch sehr angenehm. Es geht sich wie ganz von alleine. Heute habe ich keine Eile. Die Strecke ist mal wieder kurz und am Ziel in Oebisfelde erwartet mich kein Gasthof, der um 14 Uhr schließt und erst um 17 Uhr wieder öffnet. Ich gehe gemächlich, ohne jede Kraftanstrengung, komme kaum ins Schwitzen, auch mal wieder ganz schön. 


Und - ich kann mich auf etwas freuen! Ich bekomme Besuch! Anke und Thomas werden heute Nachmittag in Oebisfelde vor der Tür stehen. Annika und ich haben vor zwei Jahren auf unserem Jakobsweg die beiden in Sarria in Spanien, etwa 100 Kilometer vor Santiago de Compostela, auf einem Campingplatz kennengelernt. Anke und Thomas waren im Rahmen einer längeren Rundreise dort mit ihrem Wohnmobil gelandet, Annika und ich gerade dabei, unser Zelt aufzuschlagen. Der Kontakt war schnell hergestellt und wir beide wurden zum gemeinsamen Essen aus dem Dampfkochtopf eingeladen. Unsere Erzählungen vom Jakobsweg hatte Anke wohl damals dermaßen fasziniert, dass sie sich spontan entschloss, die letzten 100 Kilometer ebenfalls nach Santiago zu pilgern. Ich habe sie zwar ermutigt, sich auf den Weg zu begeben, sie aber auch bewundert, dass sie es - als Wanderanfängerin - wirklich gewagt hat. Ab und zu sind wir uns, während Thomas das Wohnmobil in naheliegenden Gegenden spazieren fuhr, unterwegs begegnet und haben auch manchmal noch in denselben Unterkünften übernachtet. Vor allem aber sind wir uns am großen Ziel, in Santiago, vor dem Pilgerbüro wieder begegnet und haben uns dort gemeinsam unsere "Compostela", die Pilgerurkunde, abgeholt. Das verbindet. Anke hat meinen Blog zu meiner Romwanderung bereits verfolgt, jetzt ist sie auf dem Grünen Band mit mir medial ebenfalls verbunden. Und da beide in Braunschweig wohnen, das keine 50 Kilometer von Oebisfelde entfernt ist, hat mir Anke vor drei Tagen ihren Besuch angekündigt. Und sie bringt Kaffee und Käsekuchen mit! Ich fange an zu träumen ...


Auf dem Aller-Radweg kommt mir ein Radwanderer entgegen. Als wir auf gleicher Höhe sind, hält er an und steigt vom Rad. "Na, bist du auch länger unterwegs?", fragt er und schaut mich dabei strahlend an. Aus dieser Frage entwickelt sich eine nette halbstündige Unterhaltung. Dem Dialekt nach kommt er aus Schwaben (wenn er aber doch Badener ist, möge er mir diese Einordnung verzeihen!), ist mit dem Zug bis Hamburg losgefahren, dann die Elbe entlang und seit Lauenburg ist er auf dem Grünen Band, auf der Radler-Variante. Sein Ziel: Hof. Ungefähr da, wo Dieter und ich seinerzeit gestartet sind. Wir fachsimpeln, er beschreibt Landschaften und Orte, die er schon durchfahren hat und die ich noch erleben werde und umgekehrt, wir tauschen uns über Planung und Vorbereitung einer solchen Unternehmung aus,  entdecken viele Gemeinsamkeiten. Ein schönes Gespräch. Schade, dass wir uns nicht abends in einer Unterkunft begegnen konnten, ich glaube, uns wäre der Gesprächsstoff nicht ausgegangen. Wir wünschen uns beide noch einen schönen Weg, dann macht er sich wieder auf gen Hof und ich Richtung Ostsee.


Auf halber Strecke für heute, in Lockstedt, will ich rasten. Doch es findet sich weder eine Bank bei der Kirche noch eine in einem Buswartehäuschen. Doch alles fügt sich: An einem Gartenzaun stoße ich zum gefühlten 150. Mal auf ein aufgehängtes Werbeschild gleichen Inhalts. Ein Altgold-Aufkäufer wirbt für seinen Laden - in Nürnberg. Eigentlich ja nichts Schlimmes. Aber diese Schilder begegnen mir seit dem ersten Tag auf dem Grünen Band, jeden Tag, immer wieder. Seit nunmehr über 40 Tagen! Was ist das für ein Werberadius!? Ist das effektiv, hier entlang der ehemaligen Grenze, am A... der Welt? Als ich meinen Fotoapparat raushole, um dieses Schild endlich mal zu dokumentieren, beobachtet mich dabei verwundert ein Mann im Garten hinter dem Zaun. Ich sage nur: "Dieses Schild verfolgt mich seit ein paar Wochen, das muss ich jetzt einfach mal fotografieren!" und er lacht. "Die sind hier vorbeigekommen, haben überall, wo es ihnen günstig erschien, angeklingelt und gefragt, ob sie das Schild aufhängen dürfen. Mir war das egal, also habe ich ja gesagt. Daraufhin gab es ein Werbegeschenk und weg waren sie wieder. Später hab ich dann auch gestaunt, wo die Dinger überall hängen. - Wollen Sie was trinken?" Da ich Zeit habe, sage ich nicht nein. Der Mann öffnet mir sein Gartentor, bittet mich, auf einem seiner Gartenstühle Platz zu nehmen, holt eine kalte Flasche Malzbier raus (auf ein richtiges Bier hatte ich dankend verzichtet) und setzt sich dann zu mir. Innerhalb von zwanzig Minuten erfahre ich, dass er sich vor vier Wochen einen Hund aus dem Tierheim geholt hat, dass er dabei ist, sich von seiner Lebenspartnerin zu trennen, nachdem es schon mit seiner ersten Frau nicht geklappt hat, dass sein Sohn bei seiner letzten und entscheidenden Prüfung durchgefallen ist und er eigentlich gerne den Professor dafür verprügeln würde, dass seine Tochter in Siegen auf Lehramt studiert, dass er bis zur Rente noch zehn Jahre arbeiten muss, dass er als Brigadier in einer LPG Melker und Besamer war und dass er jetzt ein paar Kilometer weg bei Rockwool arbeitet. "Aber im Herzen bin ich immer noch Landwirt!" Ich hatte eigentlich überhaupt keine Fragen gestellt.


Weiter geht es durch die Alleraue, wo ich nach dem Grünen Band vergeblich Ausschau halte. Wo früher die Grenze war, ist jetzt ein grünes Meer aus langsam reif werdendem Getreide. Der Radweg hat sich zu einer kleinen Landstraße gemausert, auf der allerdings mehr Radfahrer und Trecker unterwegs sind als Autos. Aus weiter Entfernung sehe ich am Ortseingang von Gehrendorf mal wieder eine Kaserne stehen, die sich beim Näherkommen aber nicht als unbewohnt entpuppt. Mehrere alte DDR-Armeewagen stehen auf dem großen Vorplatz, aber auch ein amerikanischer, sogar ein kleiner russischer Panzer. Als eye-catcher ist sogar ein olivgrüner Trabbi aufgebockt und schwebt direkt neben dem Tor fünf Meter hoch in der Luft. Wie ich bei einem Nachbarn auf Nachfrage erfahre, hat sich in der Kaserne tatsächlich ein Privatmann niedergelassen und sammelt dort alte Militaria. Kann sich da einer nicht von seiner Vergangenheit trennen?


Am frühen Nachmittag bin ich in Oebisfelde. Beim Durchgehen kein Ort, der einen vom Sessel haut. Aber das ist auch zweitrangig. Wichtig ist, gleich kommen Anke und Thomas - und der Käsekuchen! Gerade Zeit genug, um zu duschen und für eine kleine Verschnaufpause. Dann geht auch schon das Handy, sie stehen vor dem Hoftor. Wir freuen uns wirklich sehr, uns wiederzusehen, zu schön waren damals die gemeinsamen Momente in Spanien. Wir schwelgen in Erinnerungen, berichten von Ereignissen, die sich mittlerweile bei jedem so ereignet haben und von Plänen, die jeder in seinem Leben in nächster Zeit hat. Und das alles bei Kaffee und Käsekuchen! 


Leider ist ein Stück übrig geblieben, aber das liegt jetzt im Flur vor meinem Zimmer in einem Kühlschrank. Zur Anreicherung des Frühstücks morgen früh. 


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Kommentare: 1
  • #1

    Jürgen (Sonntag, 07 Juni 2015 23:33)

    Hallo Reinhard, ich hatte dich fälschlicherweise mit deinem Nachnamen auf deiner Seite von gestern angeschrieben :-)
    Danke für deinen heutigen, lesenswerten Bericht über unsere Begegnung.
    Ich lese schon die alten Einträge von dir, damit ich weiß was noch auf mich zukommt.
    Nochmals alles Gute für dich. Bleib gesund, es war nett sich mit jemand auszutauschen der ähnlich 'tickt'
    Grüsse von dem Schwaben, Jürgen