Naturfrieden und Grenzterror

Oebisfelde - Brome (26 km)


Ich öffne das Fenster. Ein Schwall kühler Luft strömt mir entgegen. Auf die Vögel ist Verlass, sie trällern schon wieder fröhlich. Heute morgen gibt es wieder Zimmerservice. Als mein Wecker um 7 Uhr bimmelt, höre ich meine Pensionswirtin, wie sie mir ein Tablett mit allem, was ein ordentliches Frühstück ausmacht, vor die Tür stellt. Nur den Kaffee muss ich mir selbst kochen, dafür stehen das Kaffeepulver, die Kaffeemaschine und Tassen bei mir im Zimmer auf einem Regal. Sehr angenehm, so kann ich selbst noch beim Frühstücken die Füße hochlegen.


Um zügig die ersten Kilometer aus Oebisfelde herauszukommen, nehme ich zunächst die Landstraße. Auf ihr überquere ich den Mittellandkanal, der für seinen regen Güterschiffsverkehr bekannt ist. Als ich von der Brücke auf den Kanal schaue, sehe ich gerademal einen Kahn in der Ferne verschwinden. Sonst ist Ruhe. Bei einem Storch, der vielleicht einen Kilometer neben einem alleinstehenden Haus sein Nest auf einem alten, gar nicht so hohen Telegrafenmasten hat, sieht das mit der Ruhe anders aus. Etwa 15 m Luftlinie entfernt befindet sich ein alter Feuerlöschteich und aus ihm ertönt ein nahezu ohrenbetäubender Froschlärm. Haben diese Tümpeltiere keinen Instinkt? Über ihnen thront ihr Verzehrer und sie rufen immer nur lauthals: " Hallo, lieber Storch, hier bin ich! Ich will deine Hauptmahlzeit sein!" Hat jedenfalls was, direkt neben einem kalten Buffet zu schlafen.


Hinter Buchhorst laufe ich geradewegs in den Drömling. Ein altes Sumpfland, 280 Quadratkilometer groß, entstanden während einer Eiszeit vor hundertvierzigtausend Jahren. Wie in einer Tundra muss es hier ausgesehen haben, feucht, nur schwach und flach bewachsen und dauerkalt. Später setzte Bewaldung ein, darauf entwickelte sich eine Moorlandschaft, unpassierbar für Menschen. Friedrich der Große hatte sich zum Ziel gesetzt, alle größeren Sumpfgebiete seines Königreiches Preußen zu kolonisieren. Im Drömling begann das Projekt "Urbarmachung" 1784. Dreitausend Arbeitern rückten an und hoben Entwässerungsgräben aus, mit Muskelkraft geschachtet, auf großen Flächen alle 25 m ein neuer. Der durch den Drömling mäandernden und zerfließenden Ohre wurde ein Flussbett gebaut, Brücken entstanden. Eine Landschaft wurde nahezu umgekrempelt. Anfang des 19. Jahrhunderts hatten die Preußen den altmärkischen Drömling im Griff, die landwirtschaftliche Nutzung und damit die Kolonisation begannen. 


Bald breiteten sich auf den Flächen des ehemaligen Sumpfwaldes Wiesen, Weiden und Äcker aus. Gutsherren und Bauern hatten ein reiches Betätigungsfeld. Die landwirtschaftliche Nutzung war extensiv, denn nach wie vor waren viele Flächen Feuchtgebiete, was der Natur aber zugute kam. Und als die innerdeutsche Grenze durch den Drömling lief, wurde es für die Tiere noch stiller. Da man kaum Zäune im Sumpf ziehen konnte, bauten die DDR-Grenztruppen den Hauptzaun weiter östlich im Hinterland. So wurde ein großer Abschnitt - wenn auch ungewollt - ein De-facto-Naturschutzgebiet. Heute ist der alte Kolonnenweg im Naturpark praktisch verschwunden, entweder total zugewachsen oder aufgehoben. 


In der Kernzone des Naturparks ist der Mensch gar nicht erwünscht. Muss draußen bleiben. Ist Sperrgebiet hier, Schutzzone. Wiedermal, und es ist gut so. Hier bleibt die Natur alleine, wächst wie verrückt. Und mich schicken sie im Zickzack außen rum, durch niederrangigere und minderbewertete Zonen. Trotzdem ist es herrlich hier: Milane und sogar Störche kreisen, Schwanenpaare ziehen auf den breiteren Kanälen ihre Bahnen, Frösche vollführen ein mehrstimmiges und anscheinend nie enden wollendes Konzert, der Kuckuck ruft und große Herden von Kühen und Pferden beweiden teilweise die Flächen zwischen den Kanälen. 


Ein junger Mann, Bauernsohn, wie ich bald erfahre, flickt am Rand eines breiteren Kanals einen Drahtzaun. Als er mich sieht, winkt er mich heran und zeigt ins Wasser: "Schauen Sie, hier sind Otter!" Ich habe gelesen, dass der Drömling auch Rückzugsgebiet für diese seltene Tierart ist, und habe die ganze Zeit schon in den Kanälen Ausschau nach einem dieser Exemplare gehalten, ohne mir allerdings große Hoffnungen zu machen. Jetzt habe ich unerwartet großes Glück. "Das ist hier eine Mutter mit ihren sechs Jungen, die sind immer hier.", ruft der junge Mann auf der anderen Seite des Kanals zu mir hinüber. Jetzt sehe ich sie auch, zumindest drei Jungen, die anderen sind für mich wegen der bewachsenen Uferböschung nicht auszumachen. Völlig ohne Scheu tummeln sich die drei im Wasser, ein schönes Bild. Meine Kamera hat Hochkonjunktur.


Irgendwann habe ich diese herrliche Landschaft durchschritten, überquere wiedermal und fast unbemerkt die Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen und stoße auf die Landstraße nach Zicherie. Nach ein paar hundert Metern unvermittelt ein großes Holzkreuz und eine Erinnerungstafel unmittelbar vor dem Straßengraben: "An dieser Grenze wurde am 12.10.1961 der Dortmunder Journalist Kurt Lichtenstein er schossen, weil er als Deutscher mit Deutschen darüber sprechen wollte."


Es wird davon ausgegangen, dass Lichtenstein der Erste war, der nach dem Bau der Berliner Mauer von DDR-Soldaten an der innerdeutschen Grenze getötet wurde. Der Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Berlin schließt sich 1920 den Kommunisten an, muss aber bald schon Deutschland verlassen. Als Freiwilliger kämpft er in den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gegen den Faschisten Franco, gehört nach Hitlers Einmarsch in Frankreich zur französischen Resistance, kommt im Widerstand mit Erich Honnecker im Saarland zusammen. Nach 1945 baut er die KPD mit auf und ist Chefredakteur westdeutscher kommunistischer Zeitungen, fällt aber bei der KPD in Ungnade und wird 1953 aus der Partei ausgeschlossen. Er tritt in die SPD ein und wird etwas später Redakteur bei der "Westfälischen Rundschau" in Dortmund. 


Wenige Monate nach dem Mauerbau arbeitet Lichtenstein an einer Reportage über die innerdeutsche Grenze und kommt dabei auch in die Gegend von Zicherie und Böckwitz. Er stoppt seinen roten Ford Taunus am Straßenrand, als er eine Brigade von LPG-Frauen beim Kartoffelnausmachen entdeckt, steigt aus, überspringt den Straßengraben und überquert damit die Grenze, die zu dieser Zeit noch nicht mit Stacheldraht abgesichert ist. Die Frauen warnen ihn noch mit Handzeichen vor den Wachposten, aber zu spät. Diese haben bereits auf ihn angelegt, rufen ihn an, feuern Warnschüsse ab. Jetzt macht Lichtenstein den Fehler. Anstatt sich festnehmen zu lassen, versucht er zum Auto zurückzurennen. Schüsse fallen, Lichtenstein wird getroffen, schleppt sich aber noch bis zum Graben und bricht dort zusammen. Keine zwei Meter von der rettenden Straße entfernt. Lichtenstein wird aus dem Graben zu einem Waldrand gezerrt und erst eine Stunde später ins Krankenhaus transportiert. Dort stirbt er. Die DDR lässt ihn einäschern und schickt die Asche per Post an seine Witwe.


Geistig immer noch mit dieser Tragödie beschäftigt, erreiche ich eine Dreiviertelstunde später die beiden kleinen Orte Böckwitz und Zicherie, durch Mauer, Stacheldraht und Todesstreifen einst voneinander getrennte Nachbardörfer. Dort, wo dieser Grenzstreifen die beiden Dörfer auf diese Art trennten, ist jetzt eine kleine Grünanlage, "Europapark" genannt, mit Findlingsgedenkstein und einer Bank. Auf der Bank sitzt ein älterer Mann, wohl fast achtzig, vor sich einen Kinderwagen mit schlafendem Baby. Ich frage ihn, ob ich mich zu ihm setzen dürfe. "Aber sicher doch, ist doch Platz genug! Woher des Wegs?" Ein Anfang ist gemacht, und während der nächsten halben Stunde erfahre ich wieder Dinge, die mich fassungslos machen.


Früher kamen Fernsehteams aus ganz Europa hierher, Minister hielten Reden, Außenminister Genscher pflanzte einen Baum, der Bundespräsident legte einen Kranz nieder. Von jeher verstanden sich Zicherie (Niedersachsen) und Böckwitz (Sachsen-Anhalt) als Doppeldorf. Und durch das verlief schon immer eine Grenze, nämlich zwischen den Königreichen Preußen und Hannover. Aber die war nur ein Strich auf der Landkarte. Da bot sich ein anderes Bild, als die DDR die Grenze durchs Dorf immer dichter, höher, unüberwindlicher machte, Zäune und sogar eine nachts beleuchtete Mauer zog und mitten im Dorf einen Todesstreifen anlegte. Ein Albtraum, der Familie, Freunde, kurz alles trennte. Die Mauer verhinderte Blickkontakt. Psychoterror pur!


Die Grenze zerschnitt jetzt auch Familien, die vorher alles gemeinsam genutzt hatten: Schule, Molkerei, Schmiede, Schlosserei, Bäckerei, Schuster - alles war in Böckwitz. Hier, direkt auf der Grenze, war die Gastwirtschaft. Die Grenze ging mittendurch, das heißt genau genommen: durch den Stall. Die Kneipe selbst lag in der DDR, die Toilette im Westen. Viele gingen "mal eben" zum Klo, öffneten das Fenster und türmten in den Westen. Doch die DDR-Organe waren humorlos, rissen das Gebäude sowie andere Bauernhöfe ab und bauten dort, wo früher bei Bier uns Tanz fröhliches Miteinander angesagt war, Todesstreifen und Mauer.


Danach wurde die Grenze immer dichter, unmenschlicher. "Eine Situation, die sich niemand vorstellen kann, der nicht dabei war", sagt der alte Mann aus Böckwitz. "Doch wir haben hier immer noch versucht zusammenzuhalten. Immer wenn drüben in Zicherie Schützenfest war, marschierte die Feuerwehrkapelle mit Pauken und Trompeten bis an den Schlagbaum und musizierte besonders laut. Dann ließen die Grenzer ihrerseits über Lautsprecher Schallplattenmusik dröhnen. Damit nur ja niemand bei uns in Böckwitz den Gruß der Nachbarn aus Zicherie mitbekam."


Ich frage: "Da vorne auf dem Schild an der Straße steht, dass hier die Mauer am 18. November 1989 fiel. Vierzig Jahre war eine lange Zeit. Fiel auch die Mauer in den Köpfen der Dorfbewohner links und rechts?" Der alte Mann zögert, atmet tief durch: "Man merkt immer noch, dass man 40 Jahre lang in unterschiedlichen Systemen gelebt hat. Die Stasi hat fast 40 Jahre gebraucht, die Mauer zu perfektionieren, wir brauchen vielleicht auch 40 Jahre, um sie auch in den Köpfen der Menschen wieder abzureißen. Ich werde diesen Zeitpunkt nicht mehr erleben."


Das Baby im Kinderwagen wird unruhig und mit ihm der Großvater. "Ich muss jetzt mal wieder das Kind der Mutter zuführen. Machen Sie's gut und kommen Sie gesund an der Ostsee an. Nach der Wende war ich auch mal an der Ostsee, in Boltenhagen. Schön war es da ..." Als ich ihm sage, dass Boltenhagen das endgültige Ziel meiner Wanderung ist, strahlt er und schiebt mit dem Kinderwagen ab.


Eine Stunde später stehe ich am Ortseingang von Brome, meinem heutigen Ziel. Auf meinem Handynavi schaue ich sicherheitshalber nach, wo sich meine Unterkunft befindet. Nicht dass ich zu weit ins Zentrum hineinlaufe und die Pension liegt gleich hier um die Ecke. Von wegen! Die Pension liegt weder im Zentrum noch gleich hier um die Ecke, sondern am westlichen Ortsrand, in einem Siedlungsgebiet mit vielen Neubauten. Ich gehe schnell noch zu ALDI rein, damit ich für heute Abend was zu essen habe. Ich möchte mich nicht darauf verlassen, dass es im Neubaugebiet einen Gasthof gibt. Wie sich herausstellt, liege ich mit dieser Annahme auch gar nicht so falsch.


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Kommentare: 2
  • #1

    Renate (Dienstag, 09 Juni 2015 12:45)

    Und wieder Gänsehautgeschichten...

    Umso schöner, dein Besuch von gestern. Wie fein, dass die beiden Kontakt gehalten haben und dich besuchen konnten. Mit Kaffee und Käsekuchen - das lass ich mir gefallen.

    Liebe Grüße
    Renate

  • #2

    Lore (Dienstag, 09 Juni 2015 15:27)

    Stimmt, Renate!