Wo ist mein Kolonnenweg??!!

Wittingen - Harpe (23 km)

 

Als ich heute Morgen an der Rezeption meine Rechnung bezahle, fragt die Chefin des Hauses mich noch ein bisschen aus. Wie lange sind Sie schon unterwegs? Wo haben Sie angefangen? Wann wollen Sie an der Ostsee sein? Haben Sie schon viele Grenzwanderer unterwegs getroffen? Zwanzig Minuten lang stehe ich Rede und Antwort. "Wenn Sie angekommen sind, schreiben Sie mir doch eine Postkarte! Das interessiert mich nämlich wirklich." Sprach's und drückte mir einen Euro in die Hand. "Für die Postkarte und die Briefmarke!" 


Der Tag heute hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem von gestern. Getreidefelder, so weit das Auge reicht, viel ist schon goldgelb und kommt der Ernte näher. Wassersprenkleranlagen laufen ohne Unterbrechung, wobei die Anzahl dieser Wasserspender und das riesige Areal der Felder in keinem Verhältnis zueinander stehen. An zwei Stellen hinter Erpensen wird einer dieser Sprenkler für mich zu einem kleinen Hindernis. Das aus den Düsen abgeschossene Wasser reicht über die Straße hinaus und ich muss den richtigen Moment abpassen, wann ich vorbeihuschen kann. Als Autofahrer wäre ich dankbar. Ich würde meinen Wagen auf der Straße unter dem ergiebigen Wasserstrahl abstellen, ein paar Minuten warten und mein Auto wäre sauber - kostenlos. Als Wanderer allerdings ziehe ich die warme Dusche nach der Ankunft in der Unterkunft vor.


Danach geht es den ganzen Tag wieder weiter mit Dorfhopping: Neuekrug, Schmölau, Holzhausen, Dahrendorf. Eine verlassene Gegend, verlassene Dörfer, als wäre die Welt verreist. Drei Autos, ein Radfahrer, ansonsten keine Menschenseele. Zieht alles an mir vorrüber und bleibt zurück. Bleibt stehen, ich gehe weiter, immer weiter. 


Hinter Neuekrug wird es anstrengend. Nein, kein Kolonnenweg, keine Steigung, aber eine Sandpiste, knöcheltiefer Sand. Schon gestern kam das mal vor, heute gleich für ein paar Kilometer. Muss ich erklären, wie anstrengend knöcheltiefer Sand ist, dabei noch mit einem Wheelie im Schlepptau? Die Sonne freut sich über meine Bemühungen, dem Sand zu trotzen, und strahlt über das ganze Gesicht. Was die Sache nicht einfacher macht. Besser wird es erst, als der Sandweg mit mir in einem Wald verschwindet und die Sonne für eine Weile draußen bleibt. 


Am Rand einer großen Lichtung lege ich mich ins Gras, nehme mir wieder eine Auszeit, beiße in mein Brötchen. Während ich vor mich hin kaue, schaue ich mich in der Gegend um. Außer Bäumen nichts zu entdecken. Der Wald ist trocken, knochentrocken. Seit Wochen hat es hier nicht mehr ausreichend geregnet. Trotzdem ein schöner Moment. Wieder mache ich die Augen zu, höre Vögel, Insekten, Bäumeknarren, ganz hoch über mir ein Flugzeug. Ich weiß, was gleich passiert und ich genieße es: das langsame Hinüberschweben in Morpheus' Schoß. 


Als ich den Wald verlasse, hat sich die Landschaft ein wenig verändert. Es ist nicht mehr so platt, leicht hügelig eher. Dass es so etwas noch gibt, hier in diesem Norden. Hinter Schmölau komme ich in die südlichen Ausläufer des Drawehn, eines kleinen Höhenzuges, der sich bis zur Elbe hinzieht. Steigungen sind kaum wahrnehmbar, aber die Horizonte sind wieder näher. 


Wieder ein alter Pflasterweg hinter Schmölau, der dann bis Holzhausen erneut im Sand mündet. Wo ist mein Kolonnenweg? Wo ist er geblieben? Ich singe ihm ein Hohelied, doch er bleibt für mich verschollen, heute wieder. Da lob ich mir doch Wiewohl (ja, so heißt das Dorf!), wo endlich wieder ein schnuckeliger Asphaltradweg beginnt. Ach, wie wohl wird mir! 


In Dahrendorf dann mein heutiger Lieblingsfindling unter der Dorfeiche: "Wir waren geteilt. Jetzt sind wir wieder vereint. Das wollen wir bewahren." Ein wunderbarer Text. Was waren das für Zeiten damals, als entlang der ehemaligen Grenze all diese Steine aufgestellt wurden? Dieses wundersame 89er-Glück, das man so mit Haut und Haaren nur in der Grenzgegend erlebt hat. Diese großartige Besoffenheit im Taumel der Geschichte, dieses orgiastische Hochgefühl, von dem mir so viele schon erzählt haben: Wir können die ganze Welt umarmen! Umso bitterer der Rückstoß der Euphorie, der hat Verletzungen hinterlassen. Man wollte dann doch nicht jeden in den Arm genommen haben. 


Hinter Dahrendorf und schon fast in Harpe, meinem Tagesziel, wieder einer meiner täglichen Grenzübertritte: vom Altmarkkreis (Ost) in den Kreis Lüchow-Dannenberg (West). Jawohl, so hoch im Norden bin ich schon. Die Elbe rückt näher. Lüchow-Dannenberg, das Arkadien für alle Friedensbewegten und Ausstiegswilligen meiner jungen Jahre. Und mittendrin auch der Kernort des Anti-AKW-Lebens, Gorleben. Doch an den berühmten Salzstock wird mich mein Weg erst in ein paar Tagen führen. Das deutsch-deutsche Erbe gönnt mir keine gerade Linie, ich muss mich hinschlängeln.


Harpe hat außer ein paar Häusern und Bauernhöfen nichts, nichts zum Einkaufen, keine Kneipe. Schlechte Karten für mich. Harpe hat aber eine kleine Pension, die eigentlich nur Frühstück ausgibt. Und die kleine Pension hat eine nette Frau als Besitzerin, die auf Wunsch für ihre Gäste einkauft, damit diese auch tagsüber oder abends etwas zu essen haben. Alles liegt für mich im Kühlschrank bereit, sogar drei Flaschen Bier. MOMENT! Diese drei Flaschen Bier sind für zwei Tage gedacht, denn morgen werde ich hier in Harpe meinen ersten und einzigen Ruhetag einlegen. Und ich glaube, das war eine gute Wahl!


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