Ruhetag

Die Sonne scheint mir beim Wachwerden mitten ins Gesicht. D.h., ich glaube, dass es die Sonne ist, denn ich habe ja noch die Augen zu. Ich will sie auch nicht öffnen, weil ich eigentlich noch schlafen will. Der Wecker steht auf 8 Uhr und er hat noch nicht gebimmelt. Welch ein schönes Gefühl: Ruhetag! Bei Kaiserwetter, in einer urgemütlichen kleinen Pension am südlichen Rand des Wendlands, draußen erwartet mich ein erholsamer Garten ... herrlich! Warum habe ich das geahnt, dass das heute genau der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort für einen Ruhetag ist? Nochmal rumdrehen, faul sein, wegdösen. Das Gefühl, zwei weitere Stunden geschlafen zu haben, und immer noch klingelt der Wecker nicht. Gleich wirst du im Garten frühstücken und danach das ein oder andere erledigen,was du dir für den Ruhetag vorgenommen hast. Die Sonne ist jetzt schon richtig warm im Gesicht. In der Dachrinne sitzt eine Taube und gurrt sich 'nen Wolf, lässt sich auch durch den Trecker, der vorbeifährt, nicht aus der Ruhe bringen. Armer Bauer, der muss jetzt schon arbeiten ... Ich döse wieder weg. Eine Minute, eine halbe Stunde? Ich weiß es nicht. - Der Wecker bimmelt! 8 Uhr! Endlich darf ich aufstehen!


Das Frühstück ist in dem dafür vorgesehenen Raum gedeckt. Ich frage Frau Koll, die Pensionswirtin, ob ich mit allem in den Garten ziehen kann. Sie hat natürlich nichts dagegen, gibt mir ein großes Tablett und trägt mir selbst den Kaffee nach. Mein Gott, ist das hier schön! Ich sitze am Rand des großen Hofes eines Dreiseitbauernhofes, direkt neben dem Tor. Vor dem Tor verläuft die kleine Straße, auf der ich gestern hier angekommen bin und auf der ich außer Traktoren noch nichts habe fahren sehen. Jenseits der Straße eine alte Linde, in die sich jetzt anscheinend die Taube von vorhin zurückgezogen hat, denn es gurrt in der Baumkrone permanent. Jenseits der Linde dann ein riesengroßer Kartoffelacker, wo jetzt schon ein Wassersprenkler sein segensreiches Nass verspritzt. Bienen tummeln sich in den diversen Blumenstauden, ein paar Sperlinge finden sich bei mir ein, wütend beobachtet von Finchen, der Hauskatze, die im ersten Obergeschoss aus dem Fenster schaut. Loui, der Hofhund im Schäferhundformat, kommt angetrabt, begrüßt mich mit einem Nasenstüber gegen den Oberschenkel und legt sich neben mich in den Schatten, den ein kleiner Sonnenschirm wirft. Idyllisch, einfach idyllisch hier ...!


Ich frühstücke eine geschlagene Stunde. Nicht mehr als sonst, nur langsamer. Stehe auf zwischendurch, gehe zu dem großen Rosenstock am Haus und schaue mir die Blüten an, stecke meinen Kopf durch die offene Tür neben dem Stall, wo mit verwitterten Lettern "Werkstatt" drüber steht, sehe dort viel Holz, teilweise künstlerisch bearbeitet, mache hier ein Foto, da ein Foto, streichel den Hund und frühstücke weiter. 


Kolls haben den Hof vor 15 Jahren gekauft, ein Lebenstraum. Fünf Jahre sind sie mit ihrem Sohn gependelt, zwischen Hamburg und Harpe, um den recht heruntergekommenen Hof bewohnbar zu machen. Dann zogen sie endgültig hierher um. Bauten die kleine Pension auf, waren beide künstlerisch tätig, er mit Holz, sie im bildnerisch-textilen Bereich. Immer noch gab es viel im Haus zu tun, vor allem auch in den Nebengebäuden. Beide arbeiteten viel, aber mit Freude an ihrem Traum - dann der Schock. Im vorigen Jahr starb Herr Koll, vollkommen unerwartet. Neben dem Schmerz die Frage, wie es mit dem Hof weitergehen soll. Verkaufen? Weder für Frau Koll noch für ihren erwachsenen Sohn kommt dies in Frage. Sie wollen es alleine versuchen. Vieles dauert dann eben länger oder wird eben gar nicht gemacht. Aber sie wollen durchhalten, wollen es schaffen.


Die Belegung der Pension ist sehr unterschiedlich. Manchmal ist es sehr ruhig, wie jetzt im Moment, manchmal aber auch so sehr nachgefragt, dass man nicht genug Betten anbieten kann. Radfahrer und Wanderer auf dem Grünen Band kommen immer zahlreicher, von ihnen alleine könnten sie aber nicht leben.


"Am meisten profitieren wir von der 'Kulturellen Landpartie'. Schon mal was davon gehört?", fragt Frau Koll. Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, legt sie los: "Ende Mai veranstaltet das Wendland immer seine 'Kulturelle Landpartie', auf der Maler, Bildhauer und Keramiker ihre Werke präsentieren, klassisch bis experimentell. Es kommen Autoren, Performance-Künstler, Musiker und Kabarettisten. Landschaftskünstler locken zu verwunschenen Orten. Es werden handwerkliche Produkte ausgestellt und Höfe öffnen ihre Türen und Tore für Besucher. Der Dorfplatz, die Scheune oder der Bauerngarten werden zu Erlebnisräumen. Über 14 Tage ist das Wendland mit Wunderpunkten übersät, wie die Organisatoren der Kulturellen Landpartie die Veranstaltungsorte nennen. Besonders viele Wunderpunkte gibt es in den alten Rundlingsdörfern westlich von Lüchow. Dabei sind die Rundlinge selbst schon eine Entdeckungsreise wert, nicht nur wegen der niedersächsischen Hallenhäuser und der besonderen Gestalt der Dörfer, sondern auch wegen des vielfältigen und bunten Lebens, das man hier vorfindet. Neben bodenständigen Wendlandbauern wohnen und arbeiten hier zahlreiche Künstler und Menschen mit alternativer Lebensart, eine Mischung, wie man sie sonst kaum findet. Es ist ein friedliches Miteinander verschiedener Lebensentwürfe,  das liebevoll Chaotische neben dem Etablierten, eine Gemeinschaft, die durch den gemeinsamen Kampf gegen das geplante Atomkraft-Endlager Gorleben gewachsen ist. Auch als die erste Kulturelle Landpartie veranstaltet wurde, hatte sie mit Gorleben zu tun. Sie war und ist Teil des kreativen Widerstands. Und immer, wenn es im Mai wieder so weit ist, können wir uns vor Nachfragen nicht retten. Dann ist Hochkonjunktur. Außerhalb dieser Zeit bringt uns ein Seminarhaus hier in der Nähe noch Gäste. Sie haben dort viele Musik-, Tanz- und Meditationsseminare, aber nicht genug Unterbringungsmöglichkeiten. Die schicken dann gerne ihre Leute zu uns und wir sind froh darüber."


Während Frau Koll nach Schnega fährt, um Blumenpflanzen zu kaufen, passe ich auf Loui auf und mache "Büttje bunt", d.h. ich wasche. Hier kann die Wäsche mal draußen an der Leine in Sonne und Wind trocknen, das habe ich nicht oft. Meist kommen die nassen Klamotten auf den Kleiderbügel und werden dann an den Kleiderschrank gehängt, wenn es gut kommt an die Gardinenstange, mit Aussicht auf etwas Sonne und Wind am Fenster. Was macht man sonst noch an einem Ruhetag? Telefonieren, schreiben, meine Rolle für das neue Theaterstück lernen, überbordende Kameraspeicherkarten etwas "entrümpeln", die nächsten Tage in den Blick nehmen - und zur Abrundung noch ein kleines Nachmittagsnickerchen halten umd einfach den Tag genießen und die Seele baumeln lassen und Kaffee trinken und Tee trinken und ein Bier trinken.


Apropos "die nächsten Tage" ... Drei Wochen sind es noch, dann ist es wieder mal vorbei. Aber bis dahin sind es noch rund 350 Kilometer und ich freue mich auf jeden Tag. 


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Kommentare: 2
  • #1

    Lore (Samstag, 13 Juni 2015 15:25)

    Ach - wie schöön!

  • #2

    Renate (Sonntag, 14 Juni 2015 12:32)

    Das klingt aber wirklich kernentspannt und idyllisch!

    LG
    Renate