Rundlinge und kleine Probleme

Harpe - Wustrow (30 km)


"Wird wieder ein schöner Tag heute", meint Frau Koll, als sie mir morgens den Kaffee eingießt. "Ich fürchte, zu schön", gebe ich zurück. Wetter-online kündigt über 30°C an, und das kann ich nur begrenzt schön finden. "Vielleicht wird es für Sie ja nicht so schlimm", versucht Frau Kroll mich zu beruhigen, "bei uns geht meist immer noch ein schöner Wind, dann merkt man die Hitze nicht so." Na, wollen wir es hoffen. 


Um kurz vor 8 Uhr bin ich unterwegs, möchte die Morgenkühle nutzen, so lange es geht. Und es ist wirklich schön. Wogende Getreidefelder, begrenzt durch kleine Wälder, ein blauer Himmel ohne jede Wolke, aktive Wassersprenkler, die je nach Sonneneinfall schöne Regenbögen produzieren, kleine birkengesäumte Landstraßen, die kaum Autos sehen und immer etwas Wind, der in der Tat die langsam anziehenden Temperaturen lange Zeit erträglich hält.


Nochmal führt der Grenzweg nach Sachsen-Anhalt hinüber, durch einen Auenwald der Dumme, die hier der Grenzfluss ist. Es ist ein wenig unheimlich hier, dunkel, verwachsen, Wassergräben, mehr ein Trampelpfad, als ein Weg. Wenige hundert Meter hinter der alten Grenze, von der mit viel Fantasie noch der mit Wasser gefüllte Kfz-Sperrgraben zu sehen ist (oder ist es nur ein halb zugewachsener Entwässerungsgraben?), treffe ich wieder auf Reste alter Grenz-Abscheulichkeiten: die Wüstung Groß-Grabenstedt.


Groß-Grabenstedt war eine Ansammlung von zwölf Wohnhäusern, davon sieben Hofstellen, einer Schule, einer Gastwirtschaft, einer Mühle und einer Kirche. 100 Menschen lebten hier. Mit Gründung der DDR lag der Ort plötzlich an der Grenze. Kein Wunder, dass er geschleift wurde. Geblieben ist eine Stallanlage, neben der die LPG moderne Wirtschaftsgebäude hochgezogen hat. Seit neuestem befindet sich hier eine Biogasanlage. Die Kirche überließ man erst dem Verfall, bevor man auch sie 1970 dem Erdboden gleich machte.


Auf dem "Radwanderweg 'Am Grünen Band' " komme ich zügig weiter voran, wundere mich selbst, wie gut es heute "läuft". Es wird sogar etwas hügeliger, aber nicht hügelig genug, dass es meinen Schritt langsamer macht. Bald hinter Darsekau stoße ich fast zu meiner Verblüffung mal wieder auf einen Kolonnenweg, sogar auf einen Führungsturm, der jetzt nur noch als Fledermausbehausung dient. Das hat Erich nicht gewollt, er wird sich im Grabe umdrehen. Soll er! Der Turm signalisiert es schon: Es geht wieder von "Ost" nach "West", von Sachsen-Anhalt nach Niedersachsen, von der Altmark ins Wendland hinüber. Und wer das Wendland kennt, sieht die Rundlingsdörfer vor sich, von denen ich jetzt auch welche kennenlernen werde. 


Luckau ist das erste, Schreyahn das zweite, Güstritz das dritte. Die letzten beiden erlebe ich nur, weil ich mir einen ordentlichen Umweg zugestehe, trotz der immer mehr sich steigernden Hitze. Aber es lohnt sich: Herrschaftliche Bauernhäuser stehen mit der Giebelseite rund um den mittigen Dorfplatz, der zum Teil mit großen, alten Bäumen besetzt ist, Bänke stehen auf Grünflächen als Treffpunkte für die Bewohner. Trennende Zäune zur Mitte hin gibt es nicht, Blumen, Stauden und Sträucher wachsen in kleinen Vorgärten auch ohne Zaunbegrenzung. Alles strahlt Ruhe und Frieden aus, zumal es keinen Durchgangsverkehr gibt. In Luckau und Schreyahn wohnen Störche, in Schreyahn gibt ès einen Künstlerhof und in Güstritz hat sich vor einigen Jahren eine Kommune niedergelassen. Wenn das jetzt nicht nur Kulisse ist, sondern das Dorfleben hier so funktioniert, wie es den Anschein hat, dann muss das Leben hier herrlich sein.


Das Wetter hat mittlerweile bei mir seine Herrlichkeit verloren und die letzten Kilometer bis Wustrow werden anstrengend. Die Hitze stößt für mich so langsam an die Grenze der Erträglichkeit. Außerdem ist es mal wieder so weit: Zur Übernachtung muss ich vom Grünen Band weg, mit dem Bus nach Salzwedel. Also nicht: "Hallo, ich bin da, und jetzt hätte ich gerne meine Dusche!", sondern warten auf den Bus. Der kommt in diesem Fall genau eine Stunde nach meinem Eintreffen in Wustrow. Das wäre erträglich, wenn mir Wustrow einen schattigen Biergarten oder eine Eisdiele anbieten würde. Die Stunde bis zur Busabfahrt könnte ich mir dann schon vertreiben. Aber nix - nothing - niente! Entweder gibt es nix oder hat wegen Renovierung geschlossen oder öffnet (vielleicht) erst um 16 Uhr. Noch nicht einmal eine Bank steht irgendwo rum, nicht auf dem Marktplatz, nicht bei der Kirche und nicht am schönen Flussufer. Kein Windhauch geht inzwischen, die Hitze senkt sich wie ein Bleimantel auf meine zarten Schultern. 


Wenn ich nicht sitzen kann, dann gehe ich eben! Bei mindestens 30°C und 30 bereits zurückgelegten Kilometern eine heroische Entscheidung. Ich gehe zur nächsten Bushaltestelle weiter, die aber, wie sich herausstellt, zwei weitere Kilometer auf sich warten lässt. Dort kann ich in einem hölzernen Buswartehäuschen sitzen, das wohl erst kürzlich mit Holzschutzmittel gestrichen worden ist. 


Der Bus kommt pünktlich, ist aber brechend voll, stickig und ohne einen freien Sitzplatz, zu dem ich mich mit meinem Wheelie vorkämpfen könnte. Eine Viertelstunde darf ich das durchstehen und meine Mitreisenden müssen mich dampfenden Wanderer tapfer ertragen. Am ZOB am Bahnhof von Salzwedel steige ich aus und erfahre kurz darauf über mein Handy-GPS, womit ich sicher gerechnet habe: zu meiner Unterkunft ist es noch ein gutes Stück, mindestens nochmal zwei Kilometer. Ich versuche, leise ein Lied zu singen und mache mich auf die (heißen) Strümpfe. Unter einer großen Uhr auf einem Platz im Zentrum von Salzwedel zeigt eine Digital-Anzeige: 34°C. Menschen sitzen draußen in Straßencafés bei eiskalter Cola oder Eiscafé oder Erdbeereis mit Sahne, ich aber will jetzt nur eine Dusche.


Irgendwann komme ich an meiner Pension an, die auch ein Café ist. Draußen unter Sonnenschirmen sitzen Menschen bei eiskalter Cola, Eiscafé oder Erdbeereis mit Sahne. Ich will aber jetzt duschen und mich dann auf mein Bett werfen. Ich spreche eine Kellnerin an, stelle mich vor und äußere mein Begehr. "Das ist Sache der Chefin und die ist im Moment nicht da, kommt aber in etwa zehn Minuten zurück. Möchten Sie draußen so lange warten?" Ja, was denn sonst, denke ich mir und bestelle ein Eiscafé und ein Stück Erdbeertorte mit Sahne.


Nach zehn Minuten und zugegebenermaßen genussvollem Verzehr, kommt die Chefin - mit zerknirschtem Gesicht. Sie wagt es kaum, mich anzusehen. "Herr Wagner, ich hab's vermasselt. Sie stehen im Buch, ganz klar, aber ich verrücktes Huhn hab's vermasselt. Das einzig leere Zimmer, das ich noch habe, wird gerade von meinem Sohn renoviert! Kurz gesagt: Ich habe kein Zimmer für Sie!" Das sitzt! Himmel nochmal, sowas kann passieren - aber warum mir? Und warum nach solch einer Hitzeschlacht? Ich verzeihe gnädig, bitte nur darum, sich für mich nach einer anderen Unterkunft umzusehen. Chefin geht sofort ans Telefon und gibt mir drei Minuten später eine neue Adresse. Erdbeertorte und Eiscafé gehen auf Kosten des Hauses und ich ziehe, unter Absingen eines leisen Liedes, wieder von dannen. 


Meine neue Unterkunft liegt jetzt nicht etwa mal eben um die Ecke, sondern verschafft mir - by the way - eine schöne Stadtbesichtigung von mindestens zwei weiteren Kilometern. Als ich "Am alten Bahnhof" ankomme, ist vor der Eingangstür ein zünftiger Polterabend im Gange. Ich gehe mitten durch die Gesellschaft durch - und habe für heute die Schnauze voll.


Für morgen sind Gewitter angesagt.


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Kommentare: 2
  • #1

    Lore (Samstag, 13 Juni 2015 15:31)

    Tja, es gibt ruhige Ruhetage und anstrengende lange Tage und dann fängt wieder ein neuer Tag an.

  • #2

    Rolf (Sonntag, 14 Juni 2015 11:55)

    Reinhard, die kommende Woche wird das Wetter "wanderfreundlicher" ;-)