Versunkene Mühle und ein Unikum

Binde - Ziemendorf (15 km)

 

Der Abschied von Traudi und Jürgen Starck am Morgen berührt mich. Einfach nur schön war es hier und die Starcks sind überaus sympathische Menschen. Jeder, der mal in diese Gegend kommt, sollte sich (mindestens) eine Übernachtung in Binde gönnen - vorausgesetzt er liebt winzige, kuschelige Gartenhäuschen, Open-Air-Dusche und Kompost-(sprich: Plumps-) Klo. Als Andenken schenkt mir Jürgen einen Bestandteil einer ehemaligen Mine, den er an der Wirler Spitze, einem seiner Haupteinsatzgebiete, gefunden hat. Gleichzeitig hat dieses Teil aber zusätzlich die Form eines "x", welches ja auch stellvertretend steht für die Anti-Gorleben-Protestbewegung. "Sich erinnern und sich engagieren sind Lebensmaxime von Traudi und mir", sagt Jürgen, "dieses Teil soll dich ein wenig an uns erinnern." Taudi liest mir einen Irischen Segenswunsch vor und gibt ihn mir im übertragenen Sinn damit mit auf den Weg. Sie stehen an ihrem Haus und winken wiederholt hinter mir her, bis ich hinter der nächsten Straßenecke verschwunden bin. 


Der Himmel ist bedeckt, aber die Temperaturen gegenüber den letzten Tagen eine Wohltat. Ich schalte den Turbo ein und komme auf der kleinen Landstraße Richtung Kaulitz schnell voran. Dann zweigt mein Weg ab, führt in den Wald hinein, anschließend durch eine weite Feldflur. Meine anfänglichen Befürchtungen, mich gleich wieder über eine Sandpiste wühlen zu müssen, bleiben gottseidank unbegründet. Ehe ich mich versehe, erscheinen die Dächer von Schrampe vor mir und dann auch schon die riesige Spiegelfläche des Arendsees. Immerhin ist er mit mehr als fünf Quadratkilometern groß genug für einen kleinen Raddampfer, der darauf verkehrt. Die Entstehung des Sees hat nichts mit der Eiszeit zu tun, er ist kein ehemaliger Gletschersee, sondern ein Einsturzsee. Der Einsturz ereignete sich im frühen Mittelalter, genauer im Frühjahr 822 nach der Schneeschmelze, als der Boden aufgeweicht war. Im Untergrund des Arendsees befindet sich einAusläufer des Gorlebener Salzstocks. In jenem Frühjahr stürzten Hohlräume, die das Wasser im Salzstock geschaffen hatte, ein. Ein riesiges Becken entstand, das sich mit Wasser füllte. Doch mit dieser Katastrophe ist die Entstehungsgeschichte des Sees noch nicht zu Ende. Der mittelalterliche See umfasste erst 4/5 der Größe des heutigen Sees. Am 25. November 1685 folgte eine zweite Katastrophe. Mit riesigem Getöse stürzte das Ufer bei dem Dorf Arendsee ein, wobei die Windmühle, die nahe am Steilufer gestanden hatte, mit in die Tiefe gerissen wurde. Taucher haben 1982 die Mühlsteine 60 Meter vom Ufer entfernt und in 12 Meter Tiefe entdeckt. 1983 wurde der erste Mühlstein geborgen, im Jahr 2000 der zweite. Beide finde ich, nach einem idyllischen Uferpfad auf einem kleinen Platz hinter der alten Klosterkirche von Arendsee wieder. Der Platz könnte nicht besser gewählt sein. Steinerne Requisiten einer vom Erdboden verschluckten Mühle stehen vor der malerischen Kulisse der Ruine eines Nonnenklosters. Frühgotische Backsteinmauern mit einem Feldsteinkern stemmen sich in den zum See abfallenden Hang. Bäume überragen die Mauern des mehrgeschossigen Refektoriums. Spitzbogige Fensterreihen, von Efeu umrankt, geben den Blick auf den See frei. Ich lese, dass die Klostergebäude schon im 17. Jahrhundert im Verfall begriffen waren. Wahrscheinlich hat die Hanglage an dem instabilen Steilufer dazu beigetragen. Jedenfalls wurden 1826, mit der Begründung, dass ein Einsturz drohe, große Teile der Klostergebäude abgebrochen.


Hinter dem Kloster beginnt auch gleich das kleine Städtchen Arendsee, oft geschunden - besonders während des Dreißigjährigen Krieges und danach, 1831, beinahe vollständig vernichtet durch ein Großfeuer, das eintausend Menschen obdachlos machte - und doch stets wieder neu erblüht. Selbst zu DDR-Zeiten nicht vergessen, obwohl sie denkbar nah am Grenzgebiet lag. Im Gegenteil, jeden Sommer strömten Urlauber hierher, bevölkerten den Campingplatz und füllten alle Ferienheime. Doch es gab strenge Vorschriften: Der See durfte nur bis zur Mitte bepaddelt und beschwommen werden, sein Nordufer war gänzlich tabu. Dort standen zwar auch Urlaubsdomizile, doch die waren ausschließlich für Stasi-Mitarbeiter und Parteifunktionäre reserviert. "Bonzenufer" nannte man es. Heute wird hier immer noch Urlaub gemacht, aber im wesentlich bescheideneren Maße. Der Campingplatz, die alten Ferienheime und Datschen haben gewaltig Patina angesetzt.


Direkt am Seeufer komme ich an Hinterlassenschaften eines recht "bunten Vogels" vorbei. Zwei Säulen, eine Treppe, die zu einer Empore führt: die Reste des Gustav-Nagel-Tempels. An ihn erinnern sich noch heute viele in Arendsee und in der Region. Langhaarig im Jesus-Look, der nichts als einen Lendenschurz oder einen langen weißen Umhang trug, auch im Winter barfuß ging, Alkohol und Nikotin verschmähte und strenger Vegetarier war. Die Haare wallten über seine Schultern, der Bart spross zottelig bis auf die Brust. Ein Sonderling, der sich fanatisch der Naturheilkunde verschrieben hatte, seine eigene Rechtschreibung kreierte, 1924 eine "Deutsche kristliche Folkspartei" gründete, um in den Reichstag zu kommen, am Arendsee einen Tempel errichtete, drei Frauen und sechs Kinder hatte. Tausende strömten zu ihm, seine Anhänger, aber auch Neugierige, die das Reich des berühmten Sonderlings sehen wollten. Nazis wie auch später die DDR-Oberen steckten ihn in eine Nervenheilanstalt, in der er 1952 als alter Mann starb. "Hir rut in Got - gustaf nagel" lautet seine Grabinschrift.


Nach der nördlichen Stadtgrenze marschiere ich nahezu zwei Kilometer am Strandbad vorbei. Links hinter einem Maschendrahtzaun Liegewiesen, heller Sandstrand, Imbiss-Gebäude, eine Riesenrutsche, eine Seetribüne, rechts - im Kiefernwald, die angestaubten Bungalows, alte Betriebsferienheime und Datschen. Menschen sehe ich nur spazierengehen und ein paar, die die Imbisse ansteuern.


Auf einer Straße entlang komme ich am Ortsanfang des zu DDR-Zeiten von Grenzsicherungsanlagen umgebenen Dorfes Ziemendorf zu einer ehemaligen Grenzkaserne, heute ein "Pferde- und Freizeitparadies" mit Zimmervermietung, mein Tagesziel. Das Ding ist richtig groß, der Anstrich relativ neu, nicht gerade leuchtend, sondern zart pastelliert. Das hätte mir früher mal einer sagen sollen: Als ehemaliger Fähnrich (also Fast-Leutnant) der deutschen Bundeswehr logiere ich in einer ehemaligen Kaserne der DDR-Grenztruppe! Ich kann mich beim Betreten des großen Treppenhauses, von dem aus die Gänge seitlich führen, kaum beherrschen, laut "Türen auf!" zu brüllen, wie es bei mir in der Ausbildungskompanie üblich war und heute noch üblich ist, wenn die Soldaten zu einer Ankündigung gerufen werden sollten. Der Flair der alten Kaserne ist durch die Bauweise noch erhalten und springt mich nostalgisch an. Doch hinter den Türen der Gänge verbergen sich, wie ich bald feststelle, zahlreiche schöne, große Zimmer mit eigenem Bad, Aufenthalts- und Speiseräume. Bekannt ist das Haus inzwischen auch wegen seines "Treppenhauses der Menschenrechte". Drei originale Wandbilder von seinerzeit mit patrouillierenden Grenzheroen sind erhalten - auf dem Krad, zu Wasser und mit Hunden - und werden kontrastiert mit den dreißig Menschenrechtsartikeln der UNO-Charta, einzeln gerahmt. Daneben hängen die Fotos der Friedensnobelpreisträger seit Gorbatschow. Im Kellergeschoss ist eine Ausstellung eingerichtet, die die alte DDR-Grenze dokumentiert. Auch die heutige Entwicklung zum Grünen Band wird mit Fotos und Hinweistafeln beschrieben.


Trotzdem vergesse ich nicht, welcher Ton hier einmal herrschte, wie Untergebene hier behandelt wurden und welche Entscheidungen hier getroffen wurden. So sauber und gepflegt hier alles ist, so unwohl fühle ich mich in meiner Haut. In der Lille Villa auf dem Haselnusshof bei den Starcks habe ich mit Sicherheit besser geschlafen.


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Kommentare: 1
  • #1

    Renate (Dienstag, 16 Juni 2015 08:51)

    Hallo Fähnrich Reinhard,
    ja, das glaub ich wohl, dass du in der Villa Lille befreiter schlafen konntest!
    So kontrastreich ist es vermutlich selten.
    Für uns Mitleser ist es eine Freude, deine Erlebnisse zu teilen.

    LG
    Renate